Die Modi-Welle
In Indien fordert die Corona-Pandemie Hunderttausende Tote, die Wut auf die Regierung wächst
Von Rohit Bhatia
Große Menschenmengen versammelten sich im März dieses Jahres, um Indiens Premierminister Narendra Modi zuzuhören, der für den Sieg seiner Partei, der rechtsgerichteten Bhartiya Janata Party (BJP), bei den Regionalwahlen im Bundesstaat Westbengalen warb. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen mit dem Coronavirus lag bei 10.000, jeden Tag gab es in Indien durchschnittlich 100 Todesfälle. Modi hob die Arme und verkündete: »In allen vier Himmelsrichtungen sehe ich Menschen.« Auch Innenminister Amit Shah sprach auf einer Kundgebung. Seine Partei, rief Shah aus, die BJP werde »mehr als 200 Sitze« (von 294) in der westbengalischen Staatsversammlung gewinnen.
Der harte Lockdown, den Modi verkündete, als die Corona-Pandemie letztes Jahr Indien traf, ließ Tausende Arbeiter*innen ohne Jobs, Transportmöglichkeit oder sonstige Vorkehrungen zurück. Viele versuchten, sich zu Fuß durch den Subkontinent in ihre Dörfer durchzuschlagen, zahlreiche Menschen starben auf dem Weg. Dies hat Modis Image schwer beschädigt. Anfang dieses Jahres gelang es Indien, die erste Welle zu überwinden. Währenddessen wurden in Europa angesichts der dritten Welle der Pandemie neuerliche Lockdowns verhängt.
Westbengalen, ein Bundesstaat, der 34 Jahre von der größten indischen Linkspartei, der Kommunistischen Partei Indiens – Marxistisch (CPIM), regiert wurde, ist nun die Bastion von Mamata Banerjee, derzeit Indiens einzige amtierende weibliche Chief Ministerin eines Bundesstaates. Ihre Partei, der All India Trinamool Congress, wurde gegründet, nachdem sich Banerjee vom Indian National Congress (INC) abgespalten hatte, und ist hauptsächlich in Westbengalen aktiv.
Am 2. Mai wurden die Ergebnisse für die Wahlen in fünf Bundesstaaten bekannt gegeben. Mamata Banerjee und ihre Partei gewannen mehr als 200 Sitze. Auch in anderen Bundesstaaten fiel das Ergebnis für Premier Modi schlecht aus. Im südlichen Bundesstaat Kerala gewannen die Kommunist*innen der CPIM, und Chief Minister Pinari Vijayan blieb an der Macht. Modis BJP erhielt keinen einzigen Sitz. Im angrenzenden Bundesstaat Tamil Nadu kam der INC, die älteste politische Partei Indiens mit dem Anspruch einer sozialistischen Volkspartei, im Bündnis mit einer Regionalpartei an die Macht. Diese Ergebnisse sind ein Rückschlag für die BJP.
Die Pandemie wütet in Indien
Noch schwerwiegender ist, dass Indien am Tag, als die Ergebnisse bekannt gegeben wurden, 3.422 Todesfälle durch Covid-19 verzeichnete – mehr als zwei Todesfälle pro Minute. In der Woche darauf kletterten die Todeszahlen weiter in die Höhe. Die Krankenhäuser hatten schon Wochen zuvor Notrufe für Sauerstoff und das antivirale Medikament Remdesivir abgesetzt, während der Premierminister Kundgebungen in Bengalen abhielt.
Im Januar dieses Jahres noch hatte Modi beim Weltwirtschaftsforum in Davos verkündet, dass Indien das Coronavirus besiegt habe. Er erklärte: »In den kommenden Tagen wird das Ziel, 300 Millionen ältere Inder und Menschen mit Komorbiditäten zu impfen, erreicht werden.« Er fügte hinzu: »Letztes Jahr im Februar und März sagten viele Experten voraus, dass Indien das am schlimmsten betroffene Land sein werde, es werde einen Tsunami von Fällen geben. Sie prognostizierten 700 oder sogar 800 Millionen Infektionen und zwei Millionen Todesfälle im Land. Heute gehört Indien zu den Ländern, die es geschafft haben, die meisten Leben zu retten. Das Land, das 18 Prozent der Weltbevölkerung umfasst, hat die Welt vor einer Katastrophe bewahrt.«
Die Inder*innen zahlen mit ihrem Leben für das Versagen von Premierminister Modi und seiner Regierung.
Am 18. März 2021 lag die Gesamtzahl der in Indien geimpften Menschen bei 37 Millionen, während die Zahl der Impfdosen, die in andere Länder verschenkt oder exportiert wurden, 59 Millionen betrug. Der Bundesstaat Maharashtra hat die bevölkerungsreiche Stadt Mumbai (Bombay) als Hauptstadt und wird von einer Koalition regiert, der auch der Indian National Congress angehört. Er war bei der ersten Welle im vergangenen Jahr einer der am stärksten betroffenen. Als die Fälle wieder anstiegen, kündigte Maharashtras Chief Minister, Uddhav Thackeray, am 12. April einen Lockdown für den Rest des Monats an. Der oppositionelle BJP-Chef des Bundesstaates kritisierte diesen Schritt.
Die BJP war so sehr gegen Abriegelungen, dass sie im Himalaya-Staat Uttarakhand, wo sie an der Macht ist, die weltgrößte Versammlung von Hindus, die Kumbh Mela, die alle zwölf Jahre stattfindet, um ein Jahr vorverlegte und im Februar ohne Einschränkungen stattfinden ließ. Rund 3,5 Millionen Menschen besuchten das Fest.
Die Inder*innen zahlen mit ihrem Leben für das Versagen von Modi und seiner Regierung. Krankenhäuser, Krematorien und Friedhöfe in mehreren Städten sind voll. Menschen werden auf Parkplätzen verbrannt. Es fehlt an Holz für die Scheiterhaufen. Indien hat im Mai die Zahl von 250.000 Todesfällen überschritten. »Während die Ärzteschaft sich bemüht, den Menschen die notwendigen Covid-Schutzregeln nahezubringen, hat Premierminister Modi nicht gezögert, auf großen politischen Kundgebungen alle Covid-Regeln zu missachten«, sagte Navjot Dahiya, Vizepräsident der indischen Ärztevereinigung, im April der Tageszeitung The Tribune.
Um zu verstehen, wie ein Regierungschef so viel falsch machen konnte, dass er trotz wiederholter Warnungen vor der zweiten Welle ein Fünftel der Welt in die Katastrophe führte, muss man zunächst Modis Weg an die Macht verstehen.
Modis Weg an die Macht
Geboren im Bundesstaat Gujarat in einer Gemeinschaft von Ölpresser*innen, nutzte Modi seinen bescheidenen Hintergrund als politische Währung. Um seine Arbeitsmoral zu unterstreichen, betonte er häufig, dass er in seiner Jugend am Teestand seines Vaters gearbeitet habe. Nachdem er in jungen Jahren der hinduistischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) beigetreten war, arbeitete Modi als Bindeglied zwischen der Organisation und ihrem politischen Gesicht, der BJP. Der RSS war 1949 verboten worden, nachdem eines seiner Mitglieder, Nathuram Godse, Mahatma Gandhi erschossen hatte. Nachdem das Verbot aufgehoben worden war, leistete der RSS der 1980 gegründeten BJP ideologische Schützenhilfe.
Der RSS ist eine rein männliche, paramilitärische Freiwilligenorganisation, deren Uniformen den Stil der italienischen Schwarzhemd-Faschisten aufgreifen. Sie glauben, dass Indien den Hindus gehört, und dass andere keinen Platz darin haben. (Siehe ak 656) Der RSS wurde 1925 gegründet, war aber nie an vorderster Front im Kampf für Indiens Unabhängigkeit aktiv. Narendra Modi ist ihr erster ehemaliger hauptamtlicher Mitarbeiter, der Premierminister wurde.
Die BJP vertritt eine Art Hindu-Nationalismus, der im Grunde Faschismus mit einigen Hindu-Bildern und Yoga ist.
Modis aggressiver Nationalismus wurde von den Parteibüros der BJP und den RSS-Kadern stets gefördert. Der Personenkult um Modi – die sogenannte Modi-Welle – nahm immer größere Ausmaße an. Seinen Mangel an formaler Bildung im Vergleich zu seinem Vorgänger, dem Ökonomen Manmohan Singh von der INC, überdeckte er mit Slogans wie »Harte Arbeit ist wichtiger als Harvard«. Modi kam auf einer Welle hindu-nationalistischer Stimmung an die Macht. Für ihn wäre es politischer Selbstmord, die größte Hindu-Versammlung der Welt zu verhindern.
Die innerparteiliche Opposition gegen Modi ist ausgeschaltet. Die Aneignung der Hindu-Kultur ist für die BJP ganz natürlich, da sie sich selbst als Verfechterin der Hindutva sieht, einer Art Hindu-Nationalismus, der im Grunde Faschismus mit einigen Hindu-Bildern und Yoga ist.
Diejenigen, die sich gegen die Grausamkeiten der Regierung aussprechen, wie z.B. das Verprügeln von Bäuerinnen und Bauern, die letztes Jahr gegen die konzernfreundliche Landwirtschaftspolitik protestierten (ak 666), werden schikaniert, und es werden Prozesse gegen sie angestrengt. In der Vergangenheit wurden mehrere Journalist*innen, wie z.B. Gauri Lankesh, die kritisch über die BJP-RSS berichtet hatten, ermordet. Andere wurden unter dem Vorwurf der Volksverhetzung ins Gefängnis gesteckt. Die Regierung hat wiederholt die sozialen Medien aufgefordert, kritische Beiträge über ihren Umgang mit der Pandemie zu löschen. Auf der anderen Seite verbreiten Anhänger*innen der BJP, von denen einige in westlichen Ländern leben, gruppenbezogenen Hass im Internet und schikanieren jeden, der sich der BJP-RSS widersetzt. Sie schmerzt die Niederlage bei den Wahlen in Westbengalen, und sie stören sich an den Bildern von Toten in den internationalen Medien, die schlecht für das Image Indiens seien. Die meisten indischen Fernsehsender spielen mit und tun, was die Regierung sagt. Es gibt ein paar Ausnahmen, vor allem in den Printmedien sind kritische Stimmen noch zu hören.
Selbsthilfe gegen die Regierung
Die aktuelle Krise ist zu groß, um sie unter den Teppich zu kehren, internationale Medien sind voll von Berichten über Todesfälle, Sauerstoffmangel in den Krankenhäusern und darüber, wie die Regierung die Infektionszahlen verheimlicht, klein rechnet oder herunterspielt. Harsh Vardhan, der Gesundheitsminister, hat stolz auf offizielle Zahlen verwiesen, nach denen Indiens Sterblichkeitsrate vergleichsweise niedrig sei. Zuvor hatte er erklärt, Indien befinde sich in Bezug auf die Pandemie im »Endspiel«. Doch zu der erschreckenden Zahl an Todesfällen kommt, dass viele weitere Menschen aus anderen Gründen sterben, die ansonsten vermeidbar wären, etwa weil sie kein Krankenhausbett bekommen konnten. Ihre Todesfälle müssten noch zur Gesamtzahl der Covid-19-Opfer in Indien hinzugezählt werden.
Expert*innen sind überzeugt, dass weitere Infektionen und Todesfälle unvermeidlich sind. Angesichts des totalen Versagens der Zentralregierung haben die Inder*innen begonnen, selbst Hilfe zu organisieren. Die Zivilgesellschaft, die Regierungen der Bundesstaaten, die nicht mit der BJP verbündet sind, Privatpersonen und internationale Organisationen melden sich, um diese Katastrophe zu stoppen. Aus dem Ausland wird medizinisches Material geliefert, Deutschland hat eine Sauerstoffanlage mit einer Kapazität von 400.000 Litern pro Tag geschickt. Die Oppositionsparteien sind in Aktion getreten.
In einem Brief an Modi erklärte Rahul Gandhi, Vorsitzender des Indischen Nationalkongresses, am 7. Mai: »Das Fehlen einer kohärenten Covid-Strategie, einer klaren Impfpolitik und die Hybris, vorschnell den Sieg zu erklären, haben dazu geführt, dass sich das Virus exponentiell ausbreiten konnte und Indien zu einem gefährlichen Ort gemacht hat, an dem die Krankheit explosionsartig um sich greift. Die Versäumnisse der indischen Regierung haben einen weiteren verheerenden nationalen Lockdown fast unvermeidlich gemacht.«
Zwar hat das Impfprogramm begonnen, doch gibt es nur sehr wenig Impfstoff. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels war der Impfstoff von Pfizer-Biontech noch nicht in Indien zugelassen. Die Aufhebung der Patente wäre ein kleiner Schritt zur Besserung der Lage, denn Impfstoffe müssen schnell produziert und geliefert werden, egal mit welchen Mitteln. Wenn dies nicht geschieht, werden Indien bis August eine Million Todesfälle vorausgesagt. Bislang hat Indien nur 170 Millionen Impfdosen verabreicht. Das Beste, was Modi und sein Kabinett jetzt für Indien tun können, ist zurückzutreten. In den sozialen Medien fordern viele Inder*innen genau das. Doch bislang hat niemand in der BJP Verantwortung übernommen. Stattdessen versucht die Regierung, Lorbeeren für die ausländische Hilfe zu ernten, die Indien in den vergangenen 16 Jahren nicht gebraucht hat. Und Narendra Modi hat nicht vergessen, sein Foto auf jeden Impfpass drucken zu lassen.
Derzeit baut die Regierung ein neues Parlamentsgebäude, das 2,3 Milliarden Euro kosten wird. Es heißt Central Vista und ist Modis Traumprojekt. Der Bau geht weiter, während jeden Tag Tausende Menschen in den Krankenhäusern sterben. Der Zusammenhang zwischen wahnhaften Herrschern und Prachtbauten ist in der Geschichte bereits gut dokumentiert.
Indien braucht rund eine Milliarde Impfdosen und alle Hilfe, die es bekommen kann, um beide Probleme loszuwerden – das Virus und Narendra Modi.