Comeback des Jahres
Corona geht wieder viral, aber niemand guckt hin
Von Paul Schuberth und Frédéric Valin
Gott sei Dank ist für Deutschland die Pandemie vorbei«, erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach noch im April dieses Jahres im Bundestag: Man habe durch Impfungen und Infektionen »eine gute Immunität in der Bevölkerung«. Jetzt gelte es, die Lage jener zu verbessern, die am meisten unter den Maßnahmen gelitten hätten, insbesondere die Kinder. Auch die WHO hat im Mai den internationalen Gesundheitsnotstand aufgehoben, dabei aber darauf hingewiesen, dass das Virus damit nicht besiegt sei. In einem aktuellen Interview bekräftigt Maria Van Kerkhove, Epidemiologin der WHO und Fachbeauftragte für Covid-19, dass trotz der Herabstufung jetzt der falsche Zeitpunkt sei, alle Maßnahmen fallen zu lassen.
Meldungen über die neue Variante EG.5.1. bestätigen diese Analyse. EG.5.1. (Eris) gilt seit 9. August als »variant of interest«. In Großbritannien, China und den USA nimmt der Anteil von Eris stetig zu, in Deutschland weisen Zahlen aus dem Abwassermonitoring und auch dem regional verankerten Projekt Sentisurf darauf hin, dass die Eris-Welle sich aufbaut. Aufgrund der mangelnden Testbereitschaft der Verantwortlichen stößt man hier auf einen Flickenteppich von Daten, während man im US-Bundesstaat New York aufgrund des steigenden Infektionsdruckes wieder Masken und Tests an Schulen verteilt.
Für noch größere Beunruhigung sorgt nun allerdings die in einigen Ländern nachgewiesene Variante BA.2.86 (Pirola), die von der bereits älteren Omikron-Subvariante BA.2 abstammt. Sie zeichnet sich durch eine große Zahl an genetischen Veränderungen aus, was mit erhöhter Immunflucht einhergeht. Die veröffentlichten Studien ergeben noch kein klares Bild, deuten aber darauf hin, dass bei Pirola sowohl die verfügbaren Impfstoffe als auch die Behandlung durch monoklonale Antikörper an Wirkung eingebüßt haben. Der rasche Anstieg der Fallzahlen in Israel wird bereits auf Pirola zurückgeführt. Auch aufgrund vermehrter schwerer Verläufe ordnete das israelische Gesundheitsministerium nun an, dass bei Neueinweisungen ins Krankenhaus wieder PCR-Tests durchzuführen sind.
In Deutschland werden aktuell all diese Entwicklungen ignoriert. Mit der Verkündung des Endes der Pandemie sind quasi alle Pflichten zu Schutzmaßnahmen aufgehoben. Selbst die Überwachung der Virusverbreitung wurde zurückgefahren: Seit Mai 2023 gibt es keine regelmäßigen Updates mehr vom zuständigen Robert-Koch-Institut. Covid-19 ist zu einer Erkrankung von vielen erklärt worden.
Die Belastung der Kliniken
Akut von der sich aktuell aufbauenden Welle bedroht sind Kliniken. Das betrifft insbesondere Kinderambulanzen, die bereits jetzt am Rand ihrer Belastbarkeit stehen. Florian Hoffmann, Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, sagte im Mai der Funke-Mediengruppe: »Die Lage der Kinderkliniken ist dramatisch und wird sich eher noch verschärfen. In vielen deutschen Kinderkliniken können auf den Kinderintensivstationen im Schnitt ein Drittel der Betten wegen Personalmangels nicht genutzt werden. In manchen Kliniken ist sogar die Hälfte nicht mehr belegbar.« Sobald es zu Infektionswellen komme, habe man keine Chance mehr, alle Patient*innen zu versorgen. Auch aus österreichischen Spitälern kommen Alarmsignale aufgrund des Personalmangels. In steirischen Spitälern etwa kann die zeitgerechte Versorgung von Tumorpatient*innen nicht mehr gewährleistet werden, im Innsbrucker Landeskrankenhaus musste die chirurgische Tagesklinik schließen.
Corona trifft die Kliniken dabei in mehrerlei Hinsicht: Es sind nicht nur die schwer erkrankten Patient*innen, die versorgt werden müssen, es werden auch mehr Beschäftigte krank. Obendrein zieht Covid-19 das Immunsystem in Mitleidenschaft, so dass auch die kritischen Fälle bei anderen Erkrankungen ansteigen. Manche Kliniken werden hinsichtlich Schutzmaßnahmen nun selbst aktiv: In der Notaufnahme des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel zum Beispiel galt von Mitte August bis Anfang September wieder Maskenpflicht.
Jenseits akuter Belastungen wegen der anstehenden Welle stellt sich die Frage nach langfristigen Belastungen. Nach einer Ansteckung mit Delta entwickelten ungefähr zehn Prozent aller Infizierten Long Covid mit Symptomen, die über drei Monate andauern. Ungefähr 50 Prozent dieser Menschen waren so stark eingeschränkt, dass ein Leben wie vor der Infektion nicht mehr möglich war. An Long Covid erkrankte Menschen sehen sich oft auch mit der zusätzlichen Belastung konfrontiert, nicht ernst genommen und sozial ausgegrenzt zu werden. Eine aktuelle Studie zeichnet etwa ein erschreckendes Bild der sozialen Stigmatisierung von an Long Covid leidenden Kindern.
Carmen Scheibenbogen, eine der führenden Expert*innen zum ins Long-Covid-Spektrum gehörenden chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS), moniert in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur, dass die Krankheit trotz ihrer relativen Häufigkeit kaum erforscht sei und auch »vielen Ärzten nicht gut bekannt ist«, außerdem gebe es kaum Versorgungsstrukturen. Rund zehn Millionen Euro pro Jahr bräuchte es ihrer Meinung nach, um deutschlandweite Studien durchzuführen.
Dank des anhaltenden Drucks von Betroffenen und der Wissenschaft sind inzwischen die Mittel zur Erforschung aufgestockt worden; allerdings fehlt bisher noch immer eine digitale Infrastruktur, um Versorgungsdaten zu erheben.
Die aktuell vorherrschende Begriffsdefinition von Long Covid umfasst dabei noch längst nicht alle möglichen Folgeerkrankungen von Covid-19. Dresdner Wissenschaftler*innen konnten nun zeigen, dass Babys mit einem genetisch erhöhten Risiko für Typ-1-Diabetes, die sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatten, mit einer bis zu zehnfach höheren Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich an Diabetes erkranken. Zweifelsfrei nachgewiesen ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, infolge einer Covid-19-Infektion einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden oder neue Autoimmunerkrankungen zu entwickeln. Auch die Hoffnung, durch eine Infektion den Immunschutz zu erhöhen, wackelt: Eine aktuelle Studie der kanadischen McMaster University (Ontario) kommt zu dem Schluss, dass Bewohner*innen von Pflegeheimen, die bereits in der ersten Omikron-Welle an Covid-19 erkrankten, ein 20-fach erhöhtes Risiko einer erneuten Infektion aufwiesen. Schon im November 2022 bestätigte eine in der renommierten Fachzeitschrift Nature Medicine veröffentlichte Studie, dass das persönliche Risiko, mit Covid-19 hospitalisiert zu werden oder daran zu versterben, sich mit jeder Reinfektion erhöht. »Unermesslich« seien die u.a. gesellschaftlichen Folgen der vielen Folgeerkrankungen, heißt es in einem weiteren Bericht in Nature über die Immunologie von Long Covid.
Verdrängung aus öffentlichen Räumen
Sozial gesehen bedeutet nach Auslaufen der Schutzmaßnahmen eine neue Welle die Verschärfung der Segregation von Risikogruppen. Das Credo der Eigenverantwortung sorgt für ihre Verdrängung aus öffentlichen Räumen.
Allerdings sind dieser Eigenverantwortung Grenzen gesetzt: Vulnerable mit Kontakt zu Schulkindern sind in ständiger Gefahr, sich zu infizieren, weil die Maßnahmen (wie zum Beispiel Luftfilter) an den Schulen schrittweise zurückgefahren oder ganz aufgehoben werden. Für jene Risikogruppen bleibt die Hoffnung auf Entwicklung potenter Medikamente und effektiverer Impfstoffe, weil erneute Schulschließungen kategorisch ausgeschlossen wurden und auch die Möglichkeit einer Aufhebung der Präsenzpflicht nicht weiter diskutiert wurde. Doch gerade hinsichtlich der Organisation der nächsten Impfkampagne kündigen sich neue Probleme an: Da der Impfstoff nur in Fläschchen ausgeliefert werden soll, die sechs Impfdosen enthalten, statt in Einzeldosen, werden viele Arztpraxen auf Verimpfungen verzichten.
Sozial gesehen bedeutet nach Auslaufen der Schutzmaßnahmen eine neue Welle die Verschärfung der Segregation von Risikogruppen.
Mittelfristig stellt sich auch die Frage, wie gut die soziale Infrastruktur in Deutschland die Folgen weiterer Wellen verkraftet. Unter Long-Covid-Betroffenen sind überdurchschnittlich viele Beschäftigte aus Gesundheits- und Betreuungsberufen, wie eine Datenanalyse der AOK Nordost zeigt, insbesondere Erzieher*innen und Altenpfleger*innen. Das verschärft den ohnehin schon schwerwiegenden Personalmangel in diesen Bereichen.
Auch die Aufarbeitung des bereits angerichteten Schadens stockt. In Deutschland werden ab jetzt nur die Pandemiejahre als Berechnungsgrundlage für die Übersterblichkeitsraten herangezogen, das heißt: Eine erhöhte Sterblichkeit wird nicht mehr als Übersterblichkeit aufscheinen. Dass diese Übersterblichkeit der vergangenen drei Jahre existiert, wurde im Sommer durch eine groß angelegte Studie auf der Basis von Krankenkassendaten entschlüsselt. Laut den Studienautor*innen stehen drei Viertel der Übersterblichkeit mit einer Covid-19-Diagnose in Zusammenhang. Daten des Robert-Koch-Instituts zeigen auch, dass sozial stark benachteiligte Regionen Deutschlands eine 50 bis 70 Prozent höhere Covid-19-Sterblichkeit aufweisen als reichere Gegenden. Arme sterben, Reiche leben. Das ist zwar kein Plan, der verfolgt wird. Aber eine Realität, die geleugnet wird.