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|ak 677 | International

Zum Stand der Seuche

Ein Gespräch mit dem Kollektiv Chuang zu dessen neuen Buch »Social Contagion and Other Material on Microbiological Class War in China«

Interview: Fabio Lanza und Aminda Smith

Zwei Essenskuriere laden Tüten mit Lieferungen in die Transportboxen ihrer Motorräder
Auch in China hat die Pandemie als Beschleuniger für Arbeitskämpfe bei den Essenskurier*innen gesorgt. Im Bild: Fahrer des Lieferdienstes Ele.me. Foto: China Labour Bulletin

Die im Westen verbreiteten Mythen über den »allmächtigen« chinesischen Staat zeigen sich auch in einer verzerrrten Wahrnehmung der Pandemie-Maßnahmen in China. Diese hätten weniger die Allmacht, sondern eher die Schwächen des Staates offenbart, analysiert das Chuang-Kollektiv. Und: Ohne die koordinierte Anstrengung von Hunderttausenden Menschen hätte das Virus in China niemals eingedämmt werden können. Was geschah, wie der Stand der Pandemiebekämpfung, des Staatsumbaus und des Klassenkampfes ist, erzählt Chuang im Interview.

Sowohl in den westlichen Medien wie von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) wird die Ansicht vertreten, Chinas Umgang mit der Pandemie sei so erfolgreich gewesen, weil der Staat über enorme Kapazitäten verfüge und mit seinen autoritären Methoden tief in das gesellschaftliche Leben eindringen und es kontrollieren konnte. In eurem Buch argumentiert ihr recht überzeugend, dass die Pandemie vielmehr die Schwäche des Staates offenbart habe und der Staat die Krise nur bewältigen konnte, weil er seine Schwäche erkannte und seine Befugnisse an die lokalen Behörden und spontan gebildete Gruppen von Freiwilligen delegierte.

Chuang: Das ist definitiv eine weit verbreitete Ansicht, sowohl in China als auch im Ausland. Was während der Pandemie wirklich geschah, konnte auch deswegen so effektiv verschleiert werden, weil dieses Bild des allwissenden Staates, dieser »Mythos der totalitären Allmacht« schon vorher weit verbreitet war. Wir müssen uns aber klarmachen, dass dieser Mythos nicht nur von den offiziellen Organen des Parteistaates in China gepflegt wird. Tatsächlich wird er in den westlichen Medien noch eifriger propagiert, zum Beispiel durch düstere Clickbait-Artikel, in denen ständig darüber berichtet wird, wie jeder in China einen »Social Credit Score« habe, der seine Lebensentscheidungen bestimmt, wie Gesichtserkennungstechnologie in jeder größeren Stadt automatisch Strafzettel für geringfügige Verstöße ausstellen würde, oder wie die Regierung plane, Hunderttausende ihrer Bürger*innen in weit entfernten Ländern in Afrika anzusiedeln. Nichts von alledem ist wahr, aber die Flut solcher Artikel kultiviert natürlich ein mythisches Bild des allmächtigen Staates.

Dieser Mythos verschleiert zwei Dinge. Erstens verdeckt er die anhaltende Schwäche des Staates und die Tatsache, dass China trotz seiner glitzernden Skylines in vielerlei Hinsicht immer noch ein relativ armes Land ist, vor allem gemessen am Pro-Kopf-Einkommen. Chinas öffentliche Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen sind selbst im Vergleich zu anderen Ländern mit einem ähnlichen Entwicklungsstand niedrig. Das bedeutet auch, dass die staatliche Verwaltung von einem »Regieren aus der Ferne« geprägt ist mit einem hohen Maß an lokaler Autonomie, einer Balkanisierung der Befehls- und Überwachungsstrukturen und einem großen Spielraum für Korruption. Diese Spielräume für die lokalen Regierungen waren für die Herausbildung einer einheimischen Kapitalist*innenklasse in China äußerst wichtig. Korruption zum Beispiel ist nicht unbedingt »ineffizient« – sie ist ein ganz normaler Teil der kapitalistischen Entwicklung, denn so werden Kapitalist*innen geboren, wenn der Markt zum ersten Mal geöffnet wird und die Spielregeln nicht genau definiert sind. Erst wenn die Akkumulation eine bestimmte Schwelle erreicht, werden all diese Merkmale zu einem Hindernis.

Zweitens lässt uns der Mythos des allmächtigen Staates nicht erkennen, dass die herrschende Klasse in China schon seit Jahrzehnten ein umfangreiches Projekt des Staatsaufbaus betreibt, das aber erst unter Xi Jinping richtig in Gang gekommen ist. Beides hängt natürlich zusammen, weil der Aufbau des Staates nur aufgrund seiner Schwäche notwendig ist. Die Akkumulation war so weit fortgeschritten, dass Korruption, schlechte Befehlsketten und das Fehlen zuverlässiger Informationskanäle zu einem Hindernis geworden waren. Das zeigte sich an der dramatischen Verschuldung lokaler Regierungen durch Infrastrukturprojekte, mit denen in den 2010er-Jahren die Konjunktur angekurbelt werden sollte. Mit der Anti-Korruptionskampagne sollten Provinzmagnat*innen aus dem Weg geräumt werden, die eine potenzielle Gefahr für die Zentralregierung darstellten und den von oben nach unten verlaufenden Befehlsketten und Informationskanälen im Wege standen. Daneben gab es viel banalere Dinge wie die Reform der nationalen Statistik und die Integration einer landesweiten polizeilichen Infrastruktur, was sich in den Repressionskampagnen gegen Feminist*innen, Arbeiter*innenzentren und maoistische Studierendengruppen zeigte. Vielen ist nicht klar, dass es in China jahrzehntelang ziemlich einfach war, der strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, indem man einfach in eine andere Stadt zog – sofern man nicht die Aufmerksamkeit des Zentralstaates auf sich gezogen hatte.

Was hat das nun mit der Pandemie zu tun? Das offensichtlichste Beispiel war die katastrophale Delegation von Autorität an die lokalen Behörden. Angesichts der Tatsachen sind all diese Mythen über die Wirksamkeit der Eindämmung lächerlich. Es handelte sich um einen Ausbruch mit einem klaren geografischen Ursprung, der zu einer landesweiten Epidemie und dann zu einer weltweiten Pandemie wurde. Wie konnte das passieren, obwohl Ärzt*innen schon sehr früh festgestellt hatten, dass sich eine neue, tödliche Atemwegserkrankung in der Stadt ausbreitete und diese dann eindeutig mit einem Coronavirus in Verbindung gebracht wurde? Zum großen Teil lag es daran, dass die örtlichen Behörden Informationen über den Ausbruch in den Krankenhäusern eilig unterdrückten und auch Informationen des Zentralstaats zurückhielten, während sie gleichzeitig nichts unternahmen, um den Reiseverkehr einzuschränken, Geschäfte zu schließen oder die Verwendung von Atemschutzmasken zu fördern, obwohl dies am hilfreichsten gewesen wäre. Das Buch enthält ein langes Interview mit Freund*innen in Wuhan, die eine detaillierte Chronologie der Ereignisse und der vor Ort verfügbaren Informationen erstellt haben. Sie weisen zum Beispiel auf die merkwürdige Tatsache hin, dass ihre Freund*innen in Schanghai schon früh mehr über den Ausbruch wussten als viele Menschen in Wuhan selbst. Was in diesen Berichten außerdem auffällt, ist die plötzliche Änderung der Politik. Praktisch über Nacht wurde die Abriegelung entschieden durchgesetzt. Das ist in der Regel ein Zeichen dafür, dass sich die Zentralregierung einmischt und lokale Beamt*innen unter ihren direkten Befehl stellt.

In vielerlei Hinsicht müssen wir den Ausbruch also als ein riesiges anfängliches Versagen verstehen. Ohne die koordinierte Anstrengung von Hunderttausenden einfachen Menschen, die oft freiwillig mit den lokalen Behörden zusammenarbeiteten, hätte die Epidemie im Inland niemals eingedämmt werden können. Außerdem war es ein glücklicher Umstand, dass der Ausbruch größtenteils in einer einzigen Stadt stattfand, und zwar am Vorabend des Frühlingsfestes, als sich alle bereits mit Vorräten eingedeckt hatten. Dadurch wurden die unmittelbaren Auswirkungen der Abriegelung minimiert, und der Zentralstaat konnte seine Ressourcen auf Wuhan konzentrieren. Gleichzeitig begriff die Zentralregierung durch die Arbeit der chinesischen Seuchenschutzbehörde CDC, wie wichtig es war, den Informationsfluss zu öffnen, internationale medizinische Forscher*innen einzuladen, Forschungsergebnisse sofort weiterzugeben und sichere Standards der Prävention zu schaffen. Auf dieser Ebene lässt sich ein gewisser Erfolg erkennen. Die Regierung erkannte ihre eigene Unfähigkeit und übertrug sehr effektiv und schnell viele Befugnisse an die unterste Verwaltungsebene, die in vielfältiger Weise von Freiwilligen unterstützt wurde.

Während der Mao-Ära bemühte sich der Staat, durch hybride Organisationsformen wie die Nachbarschaftskomitees die Gesellschaft bis auf die Ebene der Stadtviertel zu erreichen. Sie existieren noch heute, welche Rolle spielten sie während der Pandemie?

In der Zeit, die wir als sozialistisches Entwicklungsregime bezeichnen (von den 1950er Jahren bis zum Beginn des kapitalistischen Übergangs in den 1970ern), gab es den stümperhaften Versuch, den Staat bis hinunter auf die lokalsten Ebenen der Gesellschaft auszudehnen und zu einer wirklich universellen Institution zu machen – so zumindest die Theorie. In Wirklichkeit kam es zu einer zögerlichen und geografisch ungleichmäßigen Ausdehnung der Zentralgewalt, gefolgt von einer Zersplitterung dieser Gewalt in viele autarke Entscheidungszentren. Die wichtigsten Symbole dieses Experiments waren nicht die Nachbarschaftskomitees, sondern die Verbindungen zur Partei und zum Planungsapparat, die sich in den Betrieben und ländlichen Kollektiven bildeten.

Nachbarschaftskomitees wurden während des Entwicklungsregimes zunächst in städtischen Gebieten eingerichtet, waren aber nicht die Hauptorte der lokalen Verwaltung. Stattdessen wurde die alltägliche Verwaltung meist den verschiedenen, weitgehend autarken Unternehmen der Stadt übertragen. Wer in jenen Jahren in der Stadt lebte, erhielt den Großteil seiner grundlegenden Konsumgüter – Wohnung, Kleidung, Lebensmittel und sogar Unterhaltung – kostenlos von seinem danwei, seiner Arbeitseinheit, die mit einem bestimmten Unternehmen verbunden war. Gegen Ende des Entwicklungsregimes wuchs jedoch in vielen Städten die Zahl der ländlichen Wanderarbeiter*innen. Da diese Arbeiter*innen ohne einen städtischen danwei waren, unterstanden sie technisch gesehen dem Nachbarschaftskomitee ihres jeweiligen Bezirks.

Chuang

ist ein internationales kommunistisches Kollektiv, das eine gleichnamige Zeitschrift und einen Blog herausgibt. Es veröffentlicht dort Interviews, Übersetzungen und Originalartikel über den Aufstieg Chinas und die Kämpfe derer, die unter ihm zu leiden haben.

Zunächst handelte es sich vor allem um Saisonarbeitskräfte. Im Laufe der Zeit wurden sie jedoch immer mehr zu einem festen Bestandteil der Stadt. Außerdem wurde im Zuge des kapitalistischen Übergangs in den schnell wachsenden Städten das alte System der Unternehmen und der Arbeiterwohlfahrt abgebaut. Damit fielen die meisten Menschen in den Städten unter die Autorität der Nachbarschaftskomitees. Diese waren also völlig marginale Institutionen, die nur zufällig die Demontage des Entwicklungsregimes überlebt hatten und eine völlig andere Funktion bekamen. Anfänglich verfügte der Staat jedoch nicht über die Mittel, um die lokale Regierungsinfrastruktur richtig auszubauen. Daher räumte er den lokalen Verwaltungsorganen eine gewisse Autonomie ein und machte die Nachbarschaftskomitees zu deren grundlegender Einheit. All dies geschah jedoch vor dem Hintergrund eines allgemeinen Rückgangs der staatlichen Autorität. Erst in den letzten Jahren hat sich die Aufmerksamkeit wieder dem Aufbau des Staates auf lokaler Ebene zugewandt.

Das Buch

enthält eine aktualisierte Fassung ihres Artikels »Social Contagion« vom Februar 2020 (eine deutsche Kurzversion erschien in ak 658), die Übersetzung eines Berichts über Arbeitskämpfe während und nach dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie in China, ein Interview mit zwei Aktivist*innen über ihre Erfahrungen in Wuhan während der ersten Monate des Ausbruchs sowie einen langen Artikel zu den Versuchen der herrschenden Klasse, die Pandemie für einen Umbau des Staates im Interesse der langfristigen kapitalistischen Akkumulation zu nutzen.

Die Pandemie war in dieser Hinsicht ein enormer Anstoß, da sie die Gebiete, in denen die Nachbarschaftskomitees funktionierten, ganz klar von den Gebieten trennte, in denen sie nicht funktionierten. An vielen Orten existierten sie nur auf dem Papier oder dienten nur der Korruption. Jetzt ist zumindest klar, dass es einen konzertierten Versuch geben wird, diese Organe auszubauen und unter klarere Befehlsketten zu stellen.

Ihr beschreibt detailliert einen Prozess der Massenmobilisierung als Reaktion auf die Pandemie. Freiwillige halfen bei der Eindämmung, und sie halfen den Menschen, die Pandemie zu überleben. Aber ihr macht auch deutlich, dass sich diese Mobilisierung nicht unbedingt gegen den Staat richtete. In einigen Fällen scheinen diese Aktivitäten bereits bestehende soziale Spaltungen sogar verstärkt zu haben, statt soziale Allianzen zu bilden. Warum kam es dazu?

Manchmal waren die Freiwilligen völlig unabhängig von der Regierung tätig. Aber es gab nur sehr wenige Fälle, in denen sie ihre Tätigkeit als direkte Opposition zur Regierung verstanden, und als der Staat Monate später eingriff und sie aufforderte, ihre Aktivitäten einzustellen, taten das alle. Das soll nicht heißen, dass der Prozess nicht chaotisch oder manchmal sogar antagonistisch war. In vielen Gegenden, vor allem auf dem Lande, gab es eine ziemlich aggressive lokale Mobilisierung, die darauf abzielte, sich gegen praktisch alle Außenstehenden abzuschotten. Dies war in den chinesischen sozialen Medien zu sehen, die Männer mittleren Alters aus den Dörfern zeigten, die Barrikaden mit archaischen Stangenwaffen bewachten (eine Illustration einer solchen Szene haben wir für das Buchcover verwendet), oder Freiwillige, die mit Drohnen in der Nachbarschaft patrouillierten und jede*n anschrien, der*die sich außerhalb des Hauses aufhielt. Diese Bilder waren populär und wirkten lustig, aber in ihren Extremen war die gleiche Haltung oft gefährlich, fremdenfeindlich und gewalttätig.

Es ist wichtig zu betonen, wie sehr sich die öffentliche Grundhaltung in China von der in vielen westlichen Ländern unterscheidet. Es ist keineswegs so, dass in China die Menschen der Regierung vertrauten und daher ihre Hilfe anboten. Im Gegenteil, sie hatten ihr ganzes Leben lang die Unfähigkeit und Korruption lokaler Beamt*innen hautnah miterlebt und daher kein Vertrauen, dass diese Leute die Aufgabe bewältigen könnten. Der Unterschied zum Westen lag nicht in einem vermeintlichen Gehorsam gegenüber dem Staat. Die Menschen kamen aufgrund des fehlenden Vertrauens in den Staat zusammen, um selber gegen das Virus zu mobilisieren. Im Westen war die Reaktion auf das Versagen des Staates eine völlig andere, da niemand bereit war, die fehlende Kompetenz des Staates zu erkennen und mit ihr umzugehen. Einige kritisierten die staatlichen Maßnahmen in kleinen Anti-Masken-Protesten, während andere sie begrüßten, aber ohne dafür aktiv zu werden.

Was ist mit den Arbeiter*innen? Hat die Pandemie neue Möglichkeiten der Mobilisierung gegen das Kapital eröffnet oder solche Aktionen weiter eingeschränkt?

Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs seit der zweiten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu weit weniger Arbeiter*innenaktionen als in den Vorjahren. Der Rückgang der Proteste in der Industrie könnte auch mit der Explosion der Produktion bis zum Jahresende zusammenhängen. Dadurch kam es zu einem Arbeitskräftemangel und damit zu steigenden Löhnen. Ab Mitte 2020 nahmen die Konflikte in der Industrie und im Dienstleistungssektor wieder zu, was im zweiten Kapitel des Buchs beschrieben wird.

Die Aktionen im Logistiksektor, insbesondere bei den Zusteller*innen, haben während der Pandemie zugenommen. Sie machten 20 Prozent aller Arbeiter*innen-Aktionen im Jahr 2020 aus.

Im Bausektor gab es jedoch 2020 einen bemerkenswerten Anstieg der Proteste gegen Lohnrückstände. Vielleicht noch bemerkenswerter ist, dass in den ersten Monaten des Jahres 2021 der übliche Anstieg der Proteste vor dem chinesischen Neujahrsfest ausblieb, wenn der Jahresendlohn eingefordert wird, um nicht mit leeren Händen nach Hause zu fahren. Dies könnte zum Teil auf die Covid-19-Reisebeschränkungen während des Neujahrsfestes zurückzuführen sein. Einigen Schätzungen zufolge ging die Zahl der Reisenden 2021 im Vergleich zu 2019 um bis zu 60 Prozent zurück. Im Gegensatz dazu haben die Aktionen im Logistiksektor, insbesondere bei den Zusteller*innen, während der Pandemie zugenommen. Sie machten 20 Prozent aller Aktionen im Jahr 2020 aus, der höchste Stand seit mehreren Jahren. In diesem Sektor wird es wahrscheinlich auch in den kommenden Jahren viel Unruhe geben, da der Internethandel weiter expandiert.

Ende Februar 2021 wurde dann Chinas prominentester Basisorganisator der Lieferfahrer*innen, Chen Guojiang, in der Bewegung auch einfach »Mengzhu« (Gruppenanführer) genannt, von den Behörden festgenommen. Vermutlich wollten sie den Social-Media-Star, der kein Blatt vor den Mund nimmt, während des nationalen Parteikongresses Anfang März zum Schweigen bringen. Einige Freund*innen hatten vor seiner Festnahme mit ihm gesprochen und erfahren, wie er sich organisierte. Von seinem Wohnort in Peking aus unterhielt er ein ausgedehntes Netz von Tausenden von Zusteller*innen, vor allem im Norden des Landes. Es hatte sich durch seine starke Präsenz in den sozialen Medien entwickelt, in denen er im Livestream über das Leben der Lieferfahrer*innen berichtete. Außerdem gab er Ratschläge, organisierte gemeinsame Mahlzeiten und vermietete Neuankömmlingen eine kleine Wohnung. Diejenigen, die ihn kannten, beschrieben auch, wie Mengzhu seine Plattform in eine Art kleines Geschäft für sich selbst verwandelt hatte, indem er hier und da ein kleines Honorar kassierte. Während seiner Zeit bei der Plattform half Mengzhu auch bei der Organisation mehrerer Streiks. In Gesprächen betonte er, dass sein Organisationsstil nicht nachgeahmt werden könne, weil er auf seinem Kontakt zum Publikum über das Streaming beruhe.

Mengzhu bietet ein interessantes Bild der komplexen und oft widersprüchlichen Realität der Organisierung von Arbeiter*innen in China, die nur selten dem oft propagierten Bild einer »Arbeiter*innenbewegung« entspricht. In diesem Fall scheinen die Bekanntheit in den sozialen Medien und sogar eine Art kleinunternehmerisches Ethos für das Wachstum von Mengzhus Netzwerk ausschlaggebend gewesen zu sein. Diese unerwartete Komplexität ist unserer Meinung nach ein wesentlicher Faktor für das Verständnis der Organisierung von Arbeiter*innen auf lange Sicht. In den ersten zwei Ausgaben unserer Zeitschrift haben wir versucht, eine breitere Sichtweise der Organisation zu betonen, die über die Grenzen eines Begriffs von »Arbeiter*innenbewegung« hinausgeht, wie er vielen Analysen des Klassenkonflikts in China zugrunde liegt. In Zukunft wird es noch wichtiger sein, überkommene Vorstellungen aufzugeben, wenn wir den wahren Charakter des Klassenkampfes verstehen wollen.

Fabio Lanza

ist Professor für moderne chinesische Geschichte an der Universität von Arizona.

Aminda Smith

ist Historikerin des modernen China an der Michigan State University.

Das Interview erschien im September in der Zeitschrift The Brooklyn Rail. Übersetzung und Bearbeitung: Christian Frings