Export! Export!
Die Corona-Maßnahmen haben auch ein Modell über die Krise gerettet, das seit Jahren Schieflagen produziert
Von Lene Kempe
Wenn es nach den Vertreter*innen der deutschen Wirtschaft geht, dann ist eigentlich immer ein bisschen Krise. 2006 hieß es, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte stehe ebenso auf dem Spiel wie tausende Arbeitsplätze. Die IG Metall hatte da gerade fünf Prozent Tariflohnerhöhung gefordert. Das Zauberwort, mit dem derart »überzogene Erwartungen« der Belegschaften zurückgewiesen wurden, hieß »Standortverlagerung«. Die Kosten der Unternehmen in Deutschland seien zu hoch, Arbeitskraft zu teuer und die Wettbewerbsfähigkeit der exportabhängigen deutschen Industrie auf den Weltmärkten in Gefahr. Lohnverzicht oder Arbeitszeitverlängerungen seien unumgänglich, mehr Arbeitseinsatz für weniger Geld das Gebot der Stunde. Andernfalls bliebe den Unternehmen eben nur eine Verlagerung der Produktion ins kostengünstigere Ausland.
2006, da war Hartz-IV bereits ein Jahr in Kraft, hatte den Lohndruck nach unten erheblich verstärkt und eine massive Ausweitung des Niedriglohnsektors und anderer Formen prekärer Beschäftigung in Gang gesetzt. 2006, da war Deutschland zum vierten Mal in Folge Exportweltmeister und Industrieunternehmen fuhren Milliardengewinne ein.
Krise, immer Krise
2010, im Jahr nach der weltweiten Finanzkrise, verzichtete die IG Metall auf die Bezifferung einer Lohnforderung und konzentrierte sich auf Arbeitsplatzerhalt. 2010, da war der »Exportmotor« schon wieder angesprungen und Ende des Jahres bewegte sich der Wert der Ausfuhren auf die Rekordmarke von einer Billion Euro zu.
Auch 2014 machten Exporteure hierzulande Rekordumsätze. Die 5,5-Prozent-Forderungen der IG Metall passe dennoch nicht in die »derzeitige fragile ökonomische Landschaft«, befand damals das Institut der deutschen Wirtschaft.
2020, im Jahr der Corona-Pandemie, versuchte die IG Metall gar nicht erst, mit Lohnforderungen zu landen. Man einigte sich mit den Arbeitgebern (wieder) auf einen »Solidartarifvertrag«, um Arbeitsplätze zu sichern und Lohnsenkungen zu verhindern.
Und 2021? Insbesondere die verarbeitende Industrie, die zum Kern-Organisationsbereich der IG Metall gehört, hat das Krisenjahr bis jetzt deutlich besser überstanden, als zwischendurch befürchtet. Auch dank staatlicher Milliardenhilfen, etwa im Rahmen von Kurzarbeit. Die Wirtschaftsleistung erlebte im zweiten Quartal 2020 zwar einen historischen Einbruch von 10,2 Prozent, auf das Gesamtjahr 2020 bezogen, ergibt sich allerdings nur ein Minus von 5,3 Prozent und damit ein ähnlicher Wert wie in der letzten Finanzkrise (5,1 Prozent). Auch heute prognostizieren Wirtschaftsinstitute eine baldige Erholung.
Dabei erweist sich der Export erneut als Stütze des Aufschwungs. Im zweiten Lockdown gab es kaum Einschränkungen bei der industriellen Produktion, trotz Corona standen die Bänder nicht still. Das exportstarke verarbeitende Gewerbe verzeichnete ab November ein Plus-Wachstum von 6,7 Prozent. Die Auftragsbücher der deutschen Industrie sind seit der Jahreswende gut gefüllt. Während die Exporte etwa in die Staaten der Eurozone mit 38,1 Milliarden Euro noch 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurücklagen, konnte Deutschland auf dem wichtiger werdenden chinesischen Markt sogar schon wieder Rekordumsätze verbuchen.
Nichts zu verteilen
In dieser Situation geht die IG Metall nun mutig in gleich mehrere Tarifauseinandersetzungen: neben der Metall- und Elektroindustrie auch in der Eisen- und Stahlindustrie sowie bei Volkswagen. Käme die Gewerkschaft mit ihrer Vier-Prozent-Forderung durch, läge die Reallohnsteigerung – angesichts der Lohnstagnation im letzten Jahr – vermutlich gerade mal knapp über der Inflationsrate. Zu viel, befindet die Arbeitgeberseite und beeilte sich in Person von Stefan Wolf, Präsident der Arbeitgebervereinigung Gesamtmetall, ihre übliche Botschaft zu verbreiten: »Es gibt absolut nichts zu verteilen«, verkündete der Boss der Bosse in einem Interview mit der WELT. »Wenn wir so weiter machen und immer teurer werden«, ja dann bliebe den Unternehmen nur die Möglichkeit, ihre Produktion ins Ausland verlagern und Stellen zu streichen.
Jahr für Jahr bringen die Tarifparteien also das gleiche Stück auf die Bühne. Die Gewerkschaften fordern mehr Geld für die Belegschaften und die Arbeitgeberverbände schmettern ihnen im Chor mit der Politik und dem Gros der Wirtschaftsinstitute eine sehr alte Erzählung entgegen: Deutschland lebe vom Export, deshalb dürften die Löhne nicht zu stark steigen, sonst verliert »Made in Germany« seine Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten und Deutschland tausende Jobs. War es früher die »Billigkonkurrenz« aus Osteuropa, ist es heute der Aufstieg Chinas, der Handelskrieg mit den USA oder eben die Corona-Krise, die diese Wettbewerbsposition massiv gefährde und die Unternehmen im Zweifel zwinge, den Standort Deutschland zu verlassen.
Gewerkschaftsnahe Forschungsinstitute und Wirtschaftswissenschaftler*innen halten mit ihrer Version der Geschichte dagegen. Höhere Löhne wären auch wirtschaftlich sinnvoll, weil sie den Binnenkonsum stärken und dadurch die einseitige Abhängigkeit und Krisenanfälligkeit der Wirtschaft abschwächen würden.
Win win win
Man könnte es als das rituelle Säbelrasseln zweier Interessengruppen abtun, tatsächlich aber gelingt es der Kapitalseite mit ihrer »Deutschland ist eine Exportnation«-Geschichte seit Jahrzehnten, Lohnansprüche der Arbeiter*innen abzuwehren und ein Gesellschaftsmodell am Leben zu halten, das nichts als Schieflagen produziert. So waren die durchschnittlichen Reallöhne hierzulande seit Mitte der 1990er Jahre kaum noch gestiegen oder sogar zurückgegangen. Zwischen 2000 und 2008 betrug dieser Rückgang im Durchschnitt 0,8 Prozent. So sicherte die Exportindustrie die hohe preisliche Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte. Erst nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, als Deutschland erneut einen starken, exportinduzierten Wachstumsschub erlebte, normalisierte sich das Lohnniveau. Einige Jahre konnten Beschäftigte in der verarbeitenden Industrie spürbare Lohnerhöhungen um drei Prozent verzeichnen. Dies gilt allerdings nur für eine immer kleiner werdende Gruppe an tariflich erfassten Beschäftigten. 2020 lag dieser in Gesamtdeutschland bei nur noch bei 56 Prozent.
Die Erzählung hält sich hartnäckig, das deutsche Exportmodell stelle eine geradezu magische Win-Win-Situation her.
Aber auch die europäischen Nachbarstaaten zahlen einen hohen Preis für die enorme Konkurrenzfähigkeit deutscher Industrieprodukte, wurden diese auf den Exportmärkten von Deutschland doch regelrecht nieder konkurriert. Griechenland, Frankreich, Portugal oder Italien büßten konsequent Exportanteile ein. Und verschuldeten sich dann – finanziert überwiegend mit deutschen Krediten – um deutsche Exportprodukte kaufen zu können. Eine Konstellation, die 2008/2009 in eine besonders heftige Krise der Eurozone führte.
Trotzdem hält sich die Erzählung hartnäckig, das deutsche Exportmodell stelle eine geradezu magische Win-Win-Situation her: Wirtschaft und Gesellschaft seien klare Gewinnerinnen der Globalisierung. Jeder vierte Arbeitsplatz sei in Deutschland mit dem Export verbunden, wie der Bund der deutschen Industrie (BDI) auf seiner Internetseite verkündet. »Konsumenten profitieren von einer großen Produktpalette; und Unternehmen können alle Arten von Vorprodukten aus aller Herren Länder beziehen.«
Schöne Geschichte
Tatsächlich hatten Lohnabhängige in den 1950er und 1960er Jahren, als auch vom »Exportwunder« die Rede war, deutlich vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Die Wachstumsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren günstig, der Kapitalstock lag zwar brach, war im Rahmen der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft aber deutlich vergrößert und modernisiert worden. Es gab in den 1950er Jahren ausreichend Arbeitskräfte und unangetastete Realvermögen. Und stark exportorientierte Unternehmen wie Bayer, BASF, Siemens, AEG oder MAN hatten schon im Kaiserreich die Bildfläche betreten. Sie wurden nun zu Speerspitzen des Exportsektors.
Diese bildeten die internen Startbedingungen für den Wiederaufbau der Exportindustrie. Eine wesentliche Stütze waren außerdem die Bemühungen einer politischen und wirtschaftlichen »Westintegration« der Bundesrepublik von Seiten der USA – insbesondere die Eingliederung in das neue Währungs- und Finanzsystem und der Beitritt zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen. Beides erleichterte den Zugang zum Welt- und zum immer wichtiger werdenden europäischen Markt erheblich. Der Koreakrieg (1950-53) verhalf der deutschen Exportwirtschaft dann zu ihrem endgültigen Durchbruch: Sie profitierte massiv von der weltweiten Rüstungskonjunktur und der sprunghaft angestiegenen Nachfrage nach Produktions- und Investitionsgütern.
Im Inland erleichterte die Schaffung tausender neuer Arbeitsplätze in der stark exportorientierten Automobil-, Elektro- und Chemieindustrie, der Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, die Möglichkeiten zum Massenkonsum und eine tendenzielle Angleichung des Lebensstils die gewerkschaftlich organisierte, politische und ökonomische Integration der Arbeiterschaft in das Exportmodell. Zugleich beförderten auch die engen kapitalstrukturellen und personellen Verflechtungen zwischen den wichtigsten Industrieunternehmen, Banken und Versicherungen die Entwicklung des Exportsektors. Die großen Banken sicherten sich in diesem oft als »Deutschland AG« bezeichneten Modell über den Kauf von Aktien den Zugriff auf die Unternehmensführung. Und sie finanzierten die industrielle Expansion mit langfristigen Krediten.
Aber auch die Geldpolitik diente in hohem Maße außenwirtschaftlichen Interessen: Um die Wettbewerbsfähigkeit von »Made in Germany« zu sichern, hielt die Bundesbank den DM-Kurs künstlich unterbewertet (wenngleich sie auf politischen Druck hin immer wieder Aufwertungen vornehmen musste). Zugleich verfolgte sie einen strikten Anti-Inflationskurs. Beides begrenzte in Kombination mit den nur moderat steigenden Löhnen die Kaufkraft im Inneren und verteuerte die Importe. So sollte ein Exportdruck erzeugt und die Industrie auf die Auslandsmärkte verwiesen werden.
Auf die schiefe Bahn
Schon in den 1960ern, vor allem aber ab Mitte der 1970er Jahre wurden strukturelle Problem- und Konfliktlagen als Ergebnis dieser Politik sichtbar: Die Wachstumsressourcen waren zunehmend erschöpft, weder die Arbeitsproduktivität noch der Bedarf an weiteren Arbeitsplätzen konnte unendlich gesteigert werden. Bei geringerer Produktivitätssteigerung stieg jedoch der Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz. Die industrielle Produktion wurde also teurer für die Unternehmen. Diese reagierten mit Sparmaßnahmen und Stellenabbau. Unternehmensfusionen setzten schließlich weitere Arbeitskräfte frei. Als erste bekamen das die vorher umworbenen »Gastarbeiter*innen« zu spüren.
Aber auch für die verbleibenden Belegschaften fielen die Lohnzuwächse entsprechend niedriger aus. Eine Welle von Streiks und wilden Ausständen brachte den kämpfenden Arbeiter*innen Anfang der 1970er Jahre nochmals Erfolge. Strukturell war ihre Verhandlungsposition aber bereits geschwächt. In den Jahren 1974 und 1975 erreichte die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland erstmals über eine Million.
Der deutschen Industrie gelang es dennoch, kontinuierlich ihren Anteil am Weltexportvolumen zu steigern. 1989 war Deutschland erstmals »Exportweltmeister«. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Produkte wurde nun zunehmend nicht mehr nur über die Höhe der Löhne, sondern auch über die Qualität der Arbeitsbedingungen reguliert. Die Schaffung neuer Stellen ging, zumal im Zuge der sogenannten Hartz-IV-Reformen ab 2005, im Bereich einfacher Produktions- und Dienstleistungstätigkeiten mit einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors und der Leiharbeit einher. Im Rahmen des weit verzweigten Vorleistungsbezugs und durch die zunehmende Auslagerung von Hochlohntätigkeiten in Niedriglohnbereiche (Outsourcing) profitierte die Exportbranche hiervon erheblich. In keinem anderen Land der EU gibt es heute eine derart starke Verflechtung der Industrie mit dem Dienstleistungssektor. Von den hier deutlich niedrigeren Arbeitskosten etwa für Forschung, aber auch für Transport und Logistik, Werbung, Marktforschung oder Reinigungstätigkeiten profitiert die Exportindustrie in hohem Maße.
Mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors entschieden sich die Kräfteverhältnisse weiter zugunsten des Kapitals.
Mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors entschieden sich die Kräfteverhältnisse weiter zugunsten des Kapitals. Den Gewerkschaften gelingt es bis heute nicht, nennenswerte Teile der größer werdenden Gruppe an Zeit- und Leiharbeiter*innen sowie Beschäftigte der industrienahen Dienstleistungsbranche, die mitunter zu Dumpinglöhnen arbeiten, zu organisieren und in ihre Konfliktstrategien einzubinden. Den Jobverlust innerhalb ihrer Branche beziffert die IG Metall seit Ausbruch der Corona-Pandemie auf etwa 120.000, die meisten davon Leiharbeiter*innen. Insbesondere in der Automobilindustrie hatte sich aber schon vor der Corona-Krise ein massiver struktureller Stellenabbau angekündigt. Die Kosten für die notwenige Transformation in Richtung Elektromobilität seien einfach zu hoch. Die IG Metall befürchtet den Verlust von bis zu 300.000 Arbeitsplätzen.
Nicht zuletzt setzt aber auch die zunehmende Internationalisierung der Exportunternehmen und die damit real verbundenen Möglichkeiten des Outsourcings die Gewerkschaften unter Druck. Viele Automobilunternehmen produzieren mittlerweile beispielsweise direkt in China, wo sie sich auch erhöhte Absatzchancen erwarten.
Keine Diskussion
Trotz der Tatsache, dass also ein immer kleiner werdender Anteil von Beschäftigten heute noch in nennenswertem Umfang von Exporterfolgen profitiert und trotz der internationalen Schieflagen sowie einer hohen Krisenanfälligkeit des Modells, trägt die positive Erzählung von der »Exportnation« immer noch in weiten Teilen der Öffentlichkeit. Periodische Debatten über Wohl und Wehe der damit verbundenen Weltmarktabhängigkeit werden wahlweise mit dem Verweis auf die vermeintlichen gesamtgesellschaftlichen Globalisierungsgewinne oder die Alternativlosigkeit des Modells beantwortet.
Und bekanntermaßen trägt auch die Politik – quer durch alle Regierungen – diese Linie mit. Eine Abkehr von der starken Exportorientierung ist also kaum zu erwarten. Während etwa im Krisenjahr 2009 kurzfristig sehr wohl auch binnenmarktorientierte, keynesianisch geprägte Antikrisenmaßnahmen zum Einsatz kamen (Kurzarbeit, Abwrackprämie etc.), war damit keineswegs ein genereller Kurswechsel verbunden.
Auch aktuell ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sich an dem deutschen Modell etwas grundlegend ändern wird. Die zu Beginn vielbeschworene »Gefahr« einer Deglobalisierung und Debatten um eine notwendige Ausbalancierung der Wirtschaftsarchitektur, sind wieder einmal dem unerschütterlichen Glauben an den starken »Exportmotor« gewichen, der das Land aus der Krise bringen werde. Zu welchem Preis interessiert dabei wenig.
Eine Win-Win-Situation ist dieses Modell jedenfalls nur für die Industrie selbst. Die Unternehmen haben sich nicht nur ein extrem lukratives Geschäftsmodell geschaffen, sie sind scheinbar auch niemandem mehr Rechenschaft schuldig für die Schieflage, in die sie die hiesige Wirtschaft und Gesellschaft gebracht haben.
So kündigte der Autobauer Daimler an, seinen Aktionär*innen für das Coronajahr 2020 eine Milliardendividende auszuschütten. Darauf angesprochen erklärte Gesamtmetall-Präsident Wolf: Daimler hätte zwar Umsatzeinbußen zu verzeichnen, die für 2020 präsentierten Ergebnisse vieler Unternehmen spiegelten jedoch nicht deren tatsächliche Lage wieder. Schließlich habe es deutliche Kosteneinsparungen insbesondere beim Personal gegeben, beispielsweise durch die Kurzarbeit oder bei den Reisekosten. Von öffentlicher Hand subventionierte Kosteneinsparungen, die den Gewinn von Daimler 2020 um knapp 50 Prozent steigen ließen.