Corona: Impfzwang durch die Hintertür ist der falsche Weg
Von Guido Speckmann
Ob Gesundheitsminister Jens Spahn, Kanzlerin Angela Merkel oder Bundesjustizministerin Christine Lambrecht: Sie alle haben sich in der Vergangenheit mehrfach gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Von dieser ist bis jetzt auch noch nichts zu sehen (anders als etwa in Frankreich für bestimmte Berufsgruppen oder in Italien, wo alle Beschäftigten ab Mitte Oktober einen Greenpass vorlegen müssen, andernfalls droht die Suspendierung). Aber angesichts von stockender Impfquote, steigenden Corona-Infektionszahlen und dem nahen Herbst – kurz der vierten Corona-Welle – wird der Druck auf Ungeimpfte jetzt deutlich erhöht.
Ausgehend von Hamburg wird die sogenannte 2G-Optionsregel in mehreren Bundesländern angewendet. Für Geimpfte und Genesene sollen Corona-Beschränkungen wegfallen, teils sogar die Maskenpflicht oder Abstandsregeln. Ungeimpften hingegen wird der Zugang zu Gastronomie, Sport- oder Kulturveranstaltungen verwehrt, wenn sich die Veranstalter*innen für 2G entscheiden.
Und dann ist da der bereits von Baden-Württemberg zu Mitte September umgesetzte und von mehreren Bundesländern gehegte Plan, Ungeimpften in Corona-Quarantäne die Lohnfortzahlung zu streichen. Fünf bis zehn Tage Verdienstausfall drohen – kein Pappenstiel.
Von einer »Impfpflicht durch die Hintertür« ist vielfach die Rede. Denn was ist das Bekenntnis zur Freiwilligkeit der Impfung wert, wenn Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht impfen lassen wollen, drangsaliert werden?
Warum aber sollte die Allgemeinheit für die Ungeimpften aufkommen, die jetzt ganz überwiegend die Plätze auf den Intensivstationen belegen, lautet das Gegenargument. Sie haben doch die Chance gehabt, sich impfen zu lassen und damit das Risiko eines schweren Covid-Verlaufs zu minimieren. Ein gefährliches Argument, das insbesondere mit der Streichung der Lohnfortzahlung Schule machen könnte. Denn es könnte sich als Einfallstor erweisen, dasselbe Argument auf andere Personenkreise auszuweiten. Zum Beispiel auf Raucher*innen, Übergewichtige oder Leute, die keinen Sport machen. Die können doch regelmäßig joggen gehen, dann würden sie seltener krank werden und uns nicht auf der Tasche liegen, könnte es dann heißen. Das wäre der Abschied des Solidaritätsgedankens und neoliberale Ideologie in Reinkultur, derzufolge jede*r Einzelne für sich allein verantwortlich ist. Kein Wunder, dass der Vorschlag, die Entgeltfortzahlung im Quarantänefall von Ungeimpften zu streichen, von den Arbeitgeberverbänden zusammen mit Spahn ausgelöst wurde.
Aus epidemiologischer Sicht machen die neuen Maßnahmen zudem wenig Sinn. Auch Geimpfte können sich mit dem Coronavirus infizieren und es weitergeben. Sie könnten sich bei Anwendung von 2G weniger testen lassen und sich in falscher Sicherheit wiegen. Überdies könnte es passieren, dass der Plan zum Stopp der Entgeltfortzahlung nicht geimpfte Beschäftigte dazu bewegen wird, die Quarantäne zu vermeiden, sollten sie Corona-Symptome bekommen.
Zu Recht kritisieren die Gewerkschaften diese Pläne und dass die Politik das Problem auf die Betriebsebene verlagert, wo neue Spaltungslinien befürchtet werden. Und es sei daran erinnert, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch einen 16-wöchigen Streik Mitte der 1950er Jahre erkämpft wurde.
Der Verdacht liegt nahe, dass der Zucker für die Geimpften ein Geschenk kurz vor der Bundestagswahl sein soll. Und es wiederholt sich, was Kennzeichen der Corona-Politik der deutschen Regierung ist: Stets wird zu spät gehandelt. Schon länger war abzusehen, dass der Impffortschritt zu langsam ist, dass die benötigte Impfquote nicht erreicht wird, um durch den Herbst und Winter zu kommen. Warum reagiert man erst Mitte September mit einer bundesweiten Impfwoche, die jene zu erreichen sucht, die sich aus Bequemlichkeit noch nicht um einen Termin bemüht haben?
Und das Schlimmste: Ungeimpfte, die Argumenten noch zugänglich sind und nicht an irgendeine abstruse Verschwörung glauben, wird man durch das gebrochene Versprechen, dass das Impfen freiwillig sei, nun noch weniger erreichen.