Die Dauerwelle
Wie die westlichen Staaten als ideelle Gesamtkapitalisten in der Corona-Pandemie versagen
Von Matthias Merkur
Man braucht, um sich zu gruseln, schon lange nicht mehr auf die USA zu schauen. Mittlerweile (Stand 11. Dezember) sterben jeden Tag zwischen 400 und 600 Menschen in Deutschland »an und mit Corona«. In den USA sind es fünf bis sechsmal so viele: zwischen 2.000 und 3.000 Menschen täglich. Die USA haben aber auch viermal so viele Einwohner*innen. So gewaltig unterscheiden sich die Sterbezahlen also nicht mehr.
400 bis 600 Corona-Tote jeden Tag. Das heißt, in den zwei Wochen bis Weihnachten werden aller Voraussicht nach noch 7.000 Menschen sterben, vielleicht mehr. Man wundert sich, dass dieses massenhafte Sterben in der öffentlichen Debatte nicht mehr Entsetzen hervorruft. Wo sind die Namen und Gesichter der Krankenhausarbeiter*innen, die den Einsatz gegen Corona mit dem Leben bezahlen? Wo sind die vorweihnachtlichen Reportagen über all die Menschen, die Angehörige verloren haben? Wo die wütenden Proteste vor Fleischfabriken, Blockaden von U-Bahnhöfen und Schulen oder Gedenkversammlungen vor Pflegeheimen? In Berlin waren ein Drittel aller Corona-Toten Bewohner*innen von Pflegeheimen. Beim Glühweintrinken werden sie sich eher nicht infiziert haben.
Es herrscht eine schockierende Gleichgültigkeit gegenüber den Toten. Warum? Vielleicht, weil in Deutschland eine Kultur außerstaatlicher gesellschaftlicher Solidarität nur schwach entwickelt ist. Vielleicht, weil Deutschland seinen Bürger*innen – im internationalen Vergleich – auch etwas bietet. Von der dominanten Stellung des deutschen Kapitals in Europa und der Welt kommt auch bei den Lohnabhängigen etwas an: Kurzarbeitergeld statt Entlassungen, vorübergehend erleichterter Zugang zu Hartz IV, ein im Vergleich zu den meisten Nachbarländern einigermaßen funktionierendes Gesundheitssystem. Vielleicht auch – Stichwort Hartz IV –, weil in Deutschland die Prämissen staatlicher Sozialpolitik inzwischen verinnerlicht sind: Es gibt nichts umsonst, keine Leistung ohne Gegenleistung, fördern und fordern.
Angela Merkel wurde im März nicht müde zu betonen, der Gesundheitsschutz der Bevölkerung stehe an erster Stelle. Das kauften ihr sogar manche Linke ab.
Dass die vielen Toten zu keinem größeren Aufschrei führen würden, wusste man zu Beginn der Pandemie noch nicht. Deshalb einigten sich Bund und Länder – nach einem guten Monat des Zögerns und Verdrängens – im März auf das, was man heute als »harten Lockdown« bezeichnet. Angela Merkel und andere Regierungsmitglieder wurden in dieser Zeit nicht müde zu betonen, der Gesundheitsschutz der Bevölkerung stehe an erster Stelle. Das kauften ihnen sogar manche Linke ab, die, auch angesichts der gewaltigen staatlichen Hilfspakete, von der Vergesellschaftung wichtiger Industrien und einem neuen Zeitalter der Solidarität träumten.
Gesundheitsschutz und Kapital
Mittlerweile dürfte klar sein, dass der Gesundheitsschutz der Bevölkerung nicht an erster Stelle steht. An erster Stelle steht, dass möglichst viele Menschen weiter arbeiten gehen. Das ist die Quintessenz aller Corona-Maßnahmen seit den ersten »Lockerungen« (eigentlich ein politischer Kampagnenbegriff aus dem Unternehmerlager) im April, also seit die Bundesregierung von der Eindämmung der Pandemie zu einer Strategie der halbherzigen Begrenzung übergegangen ist.
Trotzdem ist der Gesundheitsschutz der Bevölkerung auch nicht irrelevant. Dem Staat kommt im Kapitalismus die Rolle des »ideellen Gesamtkapitalisten« zu. Das heißt, er muss, manchmal auch gegen die Interessen der Einzelkapitale, das tun, was für die kapitalistische Wirtschaft insgesamt am besten ist. Zum Beispiel, wie im März, die Notbremse ziehen und die Wirtschaftstätigkeit herunterfahren, selbst wenn einzelne Unternehmen aufjaulen. Der Staat muss aber auch mindestens den passiven Konsens der Ausgebeuteten organisieren. Daher finden nicht nur die Interessen der kapitalistischen Klasse Eingang in die Politik der Regierung, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Interessen der Lohnabhängigen oder eines Teils der Lohnabhängigen.
Friedrich Engels beschrieb das im Vorwort von 1892 zur Neuauflage seiner Untersuchung »Die Lage der arbeitenden Klassen in England« so: »Die wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien haben dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert, seine Städte gesund zu machen, falls er nicht mit Familie diesen Seuchen zum Opfer fallen will. Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Mißstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht. Die Kanalisation ist eingeführt oder verbessert, breite Straßenzüge sind durch viele der schlechtesten unter den ›schlechten Vierteln‹, die ich beschreiben musste, angelegt.(…) Daß aber, was die Arbeiterwohnungen angeht, kein wesentlicher Fortschritt stattgefunden hat, beweist vollauf der Bericht der königlichen Kommission ›on the Housing of the Poor‹, 1885.«
Brenzlig wird es, wenn die kapitalistische Wertschöpfung insgesamt bedroht ist, etwa weil die Interessen der Lohnabhängigen zu viel Berücksichtigung in der Politik finden. Oder durch sozialen Aufruhr oder auch durch ein Virus, das so viele Lohnabhängige dahinrafft, dass die Unternehmen nicht mehr produzieren, die Behörden nicht mehr verwalten und die Krankenhäuser Kranke – und das heißt irgendwann auch reiche Kranke – nicht mehr gesund pflegen können.
Der Staat muss, manchmal gegen den Willen der Einzelkapitale, das tun, was für die kapitalistische Wirtschaft insgesamt am besten ist.
All diese Überlegungen spielten zu Beginn der Lockdown-Diskussionen in der Bundesregierung ab Februar eine Rolle. Das anfängliche Zögern, das gesellschaftliche Leben herunterzufahren, war nicht nur dem Interesse der Konzerne an der Aufrechterhaltung der Produktion geschuldet, sondern auch der Sorge, wie die Bevölkerung reagieren würde, wenn man zum Beispiel den Karneval absagt. Würde es zu Tumulten und einer Gefährdung der »inneren Sicherheit« kommen?
Einschränkungen der Wirtschaftstätigkeit, selbst wenn sie durch umfassende Hilfsmaßnahmen abgefedert werden, rufen früher oder später den Widerstand des Unternehmerlagers auf den Plan, wobei im deutschen Wirtschaftsmodell die Stimme des exportorientierten Kapital besonders viel Gewicht hat. So geschehen ab Mitte April, als die Rufe nach dem zügigen Wiederhochfahren des Wirtschaftslebens lauter und lauter wurden – vorgetragen nicht zuletzt durch Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, in dem eine Vielzahl großer exportorientierter Unternehmen beheimatet ist.
Die Bundesregierung hat sich damals für den Versuch entschieden, das Infektionsgeschehen auf einem Niveau zu halten, das die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht sprengt. Dies sah man als besten Kompromiss zwischen dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung und den kurzfristigen Profitinteressen der Unternehmen. Die Hoffnung war offenbar, dass Deutschland im Wettlauf um einen Impfstoff gut dastehen, man also global relativ früh die Möglichkeit erhalten würde, die Bevölkerung zu impfen. (Sofern sie sich impfen lässt.)
Bis dahin sollte eine exorbitante Sterblichkeit vermieden werden, ohne allzu viel dafür zu tun, weshalb es logisch ist, dass Deutschland sich selbst in Sachen Pandemiepolitik vor allem mit den europäischen Nachbarländern oder den USA vergleicht, die bei der Eindämmung noch schlechter abschnitten, statt mit den Staaten, die die Pandemie bisher tatsächlich relativ erfolgreich bekämpfen.
Raverinnen und Glühweintrinker
Die Sommermonate wurden dann dafür genutzt, einen Diskurs der individuellen Schuldzuweisung zu etablieren, aufgezogen an der Figur der rücksichtslosen Partygängerin (die gerade als rücksichtsloser Glühweintrinker wiederbelebt wird), die lieber in der Berliner Hasenheide feiert als sich um den Schutz der Mitmenschen zu sorgen. Der Diskurs erinnert an den zum Klimawandel und Flugverkehr: Jahrelang beherrschten Verzichtsappelle an Flugreisende, die zu oft nach Mallorca in die Sonne fliegen, die Diskussion. Dabei hat der Flugverkehr nur einen Anteil von drei bis fünf Prozent am menschengemachten Klimawandel – und immerhin ein Drittel der Flüge entfällt auf Geschäftsreisen. Beide Debatten haben eine ähnliche Funktion: das individuelle Verhalten der Bürger*innen in den Mittelpunkt stellen, so dass ein Gespräch über die systemischen Treiber von Klimawandel oder Corona-Pandemie nicht aufkommt.
Auf dieser Basis wurschtelten sich Bund und Länder seit Sommer durch. In dieser Zeit wurde auch in der Logik eines sinnvollen Krisenmanagements kapitalistischer Staaten nichts gut gemacht. Es wurde über die Sommerferien kein Konzept für die Wiedereröffnung der Schulen erarbeitet oder diese mit Luftfiltern ausgestattet. Stattdessen wurde sich an die Behauptung geklammert, Schüler*innen seien möglicherweise weniger infektiös als Erwachsene, und den Rest werde man durch Lüften in den Griff bekommen (zu diesem Zeitpunkt war in Israel, ausgelöst durch die Öffnung der Schulen, bereits eine heftige zweite Welle in Gang). Die Weichen für mehr Personal und bessere Bezahlung in der Pflege wurden nicht gestellt, so dass es in Deutschland zwar weiterhin viele Intensivbetten gibt, aber nicht genug Personal für sie. Die Kapazitäten der Gesundheitsämter wurden nicht entschieden ausgebaut, so dass diese früh mit der Nachverfolgung überfordert waren. Auch die Testkapazitäten stießen, als mehr Menschen die Möglichkeit zum Corona-Test in Anspruch nahmen, bald an ihre Grenzen. Schnelltests in großem Umfang zu beschaffen und zur Verfügung zu stellen, wurde unterlassen.
Dass ein Mix aus Lockdown und umfangreichen Tests der beste Weg ist, um das Infektionsgeschehen einzudämmen, war da durch Erfahrungen in China, Südkorea und anderen Ländern lange bekannt. Ende Oktober hat die Slowakei noch einmal gezeigt, wie es geht: Innerhalb einer Woche drückte sie durch eine Kombination von Massenschnelltests, strengen Quarantänemaßnahmen und Lohnfortzahlung die Infektionszahlen um ganze 60 Prozent: Wer positiv getestet wurde, musste sich mit seiner Familie für zehn Tage isolieren und erhielt in dieser Zeit das volle Gehalt.
In Deutschland setzte stattdessen eine zweite Phase der Verdrängung ein: Man hoffte, dass die zweite Welle vielleicht gar nicht kommen oder zumindest nicht so schlimm ausfallen werde. Dabei war sie in vielen Ländern längst da. Als die Infektionszahlen immer schneller stiegen, wurde nach weiteren Wochen des Zögerns Ende Oktober ein »Lockdown Light« ausgerufen, der lediglich Freizeitaktivitäten und Kultur verbot, aber Unternehmen und deshalb die Schulen offen ließ. Das Ergebnis ist, dass sich die zweite Welle zu einer Dauerwelle verstetigt hat.
Failed States of Europa
In der Bekämpfung der Corona-Pandemie zeigt sich deutlich das Versagen der kapitalistischen Nationen des Westens. Wie Staaten der Aufgabe als ideelle Gesamtkapitalisten erfolgreich nachkommen, haben andere vorgemacht: China, Vietnam, Südkorea, Taiwan, Australien, Neuseeland sind nur einige Beispiele. In diesen Ländern werden nicht nur »wieder Partys gefeiert«, auch die Wirtschaftstätigkeit ist längst auf Vorkrisenniveau angelangt, der langfristige Schutz der Kapitalinteressen also deutlich besser gelungen als in Europa. Dass man die erfolgreichen Maßnahmen in diesen Ländern hier so wenig zur Kenntnis nimmt, geschweige denn kopiert, ist Ausdruck der kolonialrassistischen Borniertheit, mit der die Länder Europas weiterhin auf den Rest der Welt blicken. Vielleicht wird die Corona-Pandemie in Zukunft einmal als Anfang vom Ende der westlichen Dominanz der Welt erinnert werden, schrieb die Philosophin Bini Adamczak auf Twitter.
Für eine linke Debatte über Möglichkeiten der Pandemiebekämpfung heißt das aber nicht, dass nur ein besser geführter, konsequenter handelnder Staat die Dinge richten könnte. Wenn man darüber nachdenkt, wie eine in Räten organisierte Gesellschaft Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung in Betrieben, Schulen, Pflegeeinrichtungen oder dem öffentlichen Transportwesen erproben und miteinander abstimmen könnte, sind noch ganz andere Erfolge bei der Bekämpfung von Pandemien vorstellbar.
Wo sind die Proteste vor Fleischfabriken, Blockaden von U-Bahnhöfen, Schulen und Skiliften, die Gedenkversammlungen vor Pflegeheimen?
Es ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern auch eine politische Frage, wie wir uns zum Sterbenlassen in Pflegeeinrichtungen, Geflüchtetenlagern, Krankenhäusern verhalten. Wo sind die Namen und Gesichter der Krankenhausarbeiter*innen, die im Einsatz gegen Corona sterben? Wo die Proteste vor Fleischfabriken, Blockaden von U-Bahnhöfen, Skiliften und Schulen, die Gedenkversammlungen vor Pflegeheimen?
Die Frage, wie eine Gesellschaft mit den Toten umgeht und wie viel Leid sie akzeptiert, ist auch eine Frage des Klassenkampfes. Wenn man die Corona-Opfer schulterzuckend zur Kenntnis nimmt, wird im Sinne der Unternehmen durchregiert. Wenn sich die Menschen umeinander kümmern und Gleichgültigkeit nicht akzeptieren, muss anders regiert werden.