Der Traum vom Parteistaatskapitalismus
Wer in China Ansatzpunkte für ein alternatives Wirtschaftsmodell sucht, sollte sich das Beziehungsgeflecht zwischen Partei, Staat und Ökonomie genauer ansehen
Von Philipp Köncke
Der chinesische Kapitalismus entwickelt sich mehr und mehr zum Politikum. Nicht nur steht er zunehmend im Zentrum geopolitischer Konfliktdynamiken; auch die Ampel-Koalition ringt um eine Positionsbestimmung. Der richtige Umgang mit China ist eine der zentralen Fragen unserer Zeit. Auch aus der Linkspartei und Rosa-Luxemburg-Stiftung kamen zuletzt vermehrt Forderungen auf, die Linke solle doch endlich ihr Verhältnis zu China klären. Allzu oft erschöpfen sich linke Debatten jedoch in der Frage, ob es sich in China um eine (turbo-)kapitalistische oder doch eher um eine im Aufbau des Sozialismus begriffene Gesellschaftsformation handelt.
Die materialistische Antwort ist eindeutig: Spätestens mit der Jahrtausendwende wurden kapitalistische Produktionsverhältnisse in der chinesischen Ökonomie dominant. Staatssozialistische Arbeitsverhältnisse (Eiserne Reisschüssel) waren weitgehend aufgelöst. Kommodifizierte Lohnarbeit entwickelte sich zur dominanten Beschäftigungsform, und nahezu sämtliche Produktion – sowohl in privaten als auch staatlichen Unternehmen – wurde zu Warenproduktion in einem flexiblen und liberalisierten Preissystem. Wichtiger für eine linke Positionsbestimmung wie auch für politische Strategien progressiver Akteur*innen in China ist hingegen die Frage, mit welcher konkreten Spielart des Kapitalismus wir es zu tun haben. Denn insbesondere das Verhältnis von Partei, Staat und Ökonomie prägt maßgeblich die konkreten Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns in der Volksrepublik.
Durchstaatlichte Ökonomie, ökonomisierter Staat
China wird gemeinhin als das Paradebeispiel für einen Staatskapitalismus angesehen. Denn trotz mehr als 40 Jahren Reform- und Öffnungspolitik spielt der Staat nach wie vor eine prominente Rolle in der chinesischen Ökonomie: Staatsunternehmen tragen rund ein Drittel zum industriellen Output bei. Der staatliche Anteil an den Gesamtinvestitionen bewegt sich in einer ähnlichen Dimension. Von den 500 größten chinesischen Unternehmen – die Schaltzentralen der chinesischen Ökonomie – befindet sich knapp die Hälfte in staatlicher Hand (1). Staatseigentum ist insbesondere in den typischen kapitalintensiven »Kommandohöhen«-Sektoren, also dort, wo zentrale wirtschaftliche Weichen gestellt werden, wie im Rohstoffabbau, der Verkehrsinfrastruktur, der Bauwirtschaft oder dem Energie- sowie im Finanzsektor, dominant.
Chinesische Staatsunternehmen gehören zu den größten Konzernen weltweit.
Die zehn größten chinesischen Unternehmen, wie z.B. das Energieunternehmen State Grid und der Erdölkonzern China National Petroleum, befinden sich – mit Ausnahme des größten Versicherers Ping An – alle im staatlichen Eigentum. Sie gehören zu den größten Konzernen weltweit. Doch auch über Unternehmenseigentum hinaus spielt der chinesische Staat eine zentrale Rolle in der Ökonomie: durch eine weitreichende industriepolitische Steuerung in Form von Fünfjahresplänen und umfangreichen Subventionszahlungen, über das staatlich kontrollierte Bankensystem, über den Erwerb von Minderheitenanteilen an privaten Unternehmen durch staatseigene Investitionsgesellschaften, oder auch durch die Vergabe von Landnutzungsrechten, die sich im Besitz lokaler Regierungen befinden. Die chinesische Ökonomie ist also – insbesondere im Vergleich mit westlichen Kapitalismen – nach wie vor in erheblichem Maße »durchstaatlicht«.
Die Kehrseite der Durchstaatlichung der Ökonomie bildet die Ökonomisierung des Staates. Denn Staatseigentum und staatliche Interventionen in China sind nicht etwa gleichbedeutend mit einer Negation kapitalistischer Imperative. Vielmehr unterliegt Staatstätigkeit in China selbst strengen ökonomischen Effizienzkriterien. Nach mehreren Wellen der Reform von Staatskonzernen sind diese oftmals börsennotiert, haben einen (aus teilweise unabhängigen Mitgliedern zusammengesetzten) Aufsichtsrat und agieren profitorientiert. Der Großteil der Staatskonzerne wird von der chinesischen Regierung als »commercial state-owned enterprise« eingestuft, die Bewertung ihrer Manager*innen ist maßgeblich von der ökonomischen »Performance« der Unternehmen abhängig.
Effizienzerwägungen haben vor allem in den 1990er und 2000er Jahren zu staatlich initiierten Unternehmensfusionen und somit zur Herausbildung riesiger staatlicher Unternehmensgruppen geführt. Gleichzeitig wurden in einigen vormals monopolartig strukturierten Sektoren Unternehmen zerschlagen und dem Wettbewerb ausgesetzt. Dies betriff sogar die Rüstungsindustrie, in der die Konzerngruppen China North Industries Group und China South Industries Group konkurrieren. Effizienz und Wettbewerb sind also die zentralen Triebkräfte der Restrukturierung von Staatskonzernen seit den 1990er Jahren. So hat auch die Privatisierung staatlicher Unternehmen zwischen 1995 und 2005 zur Entlassung von etwa 40 Prozent der Belegschaften geführt. Spiegelbildlich zu den damit einhergehenden Prekarisierungsprozessen unter den Arbeiter*innen bildete sich eine chinesische Bourgeoisie heraus. Diese verlieh der Artikulation eines kapitalistischen Klasseninteresses auch innerhalb der Staatsorgane neuen Auftrieb: So vereinigt der Nationale Volkskongress heute etwa 100 Milliardäre und Milliardärinnen, die in vielen Fällen auch als Unternehmer*innen tätig sind.
Die Partei als politisches Machtzentrum
Die politische Macht im chinesischen Staatskapitalismus ist in der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) monopolisiert. Die etwa 95 Millionen Mitglieder starke Partei regiert in hohem Maße autoritär und steht an der Spitze der politischen und ökonomischen Institutionen. Ihre Macht ist nahezu unbegrenzt, Gewaltenteilung gibt es nur formal. Die KPCh legt die politischen Richtlinien fest, die die Legislative ratifiziert und die Exekutive umsetzt. Sie durchdringt die politökonomischen Institutionen auf sämtlichen Ebenen: Die Partei ernennt in Form eines Top-down-Prozesses das Führungspersonal in Regierungs- und Verwaltungsorganen, Staatsunternehmen oder auch Universitäten.
Die heutige KP China ist eine elitäre Organisation.
Wenngleich formal voneinander getrennt, sind die Institutionen Partei und Staat in der Praxis also eng miteinander verwoben. Aber auch die Verquickung von Partei und Ökonomie ist eng, denn die KPCh ist durch die Ausbreitung von Parteizellen als Regulierungsinstanz auf der Unternehmensebene präsent. Parteizellen existieren in nahezu allen staatseigenen Unternehmen und darüber hinaus auch in über 70 Prozent der privaten Unternehmen. Dies zeigt: Der Parteieinfluss reicht weit über die Verfügung über staatliches Eigentum an Produktionsmitteln hinaus. Der chinesische Staatskapitalismus ist also im Kern ein Parteistaatskapitalismus.
Dies kommt vor allem auch darin zum Ausdruck, dass alle wichtigen Führungspositionen in Verwaltung, Regierung (insbesondere auch der Staatsrat) und staatlicher Ökonomie – und zu einem erheblichen Teil auch in privaten Unternehmen – von Parteimitgliedern besetzt sind. Die Parteimitgliedschaft ist jedoch nur durch aufwendige Schulungen und Prüfungsverfahren zugänglich und hoch selektiv: Weniger als eine von zehn Bewerbungen ist erfolgreich. Die heutige KPCh ist eine elitäre Organisation; mehr als die Hälfte aller Parteimitglieder hat einen akademischen Abschluss, während der Anteil der Landwirt*innen und Arbeiter*innen ohne akademischen Abschluss auf 30 Prozent gesunken ist.
Seit Anfang der 2000er Jahre steht die Parteimitgliedschaft auch Kapitalist*innen offen. Seitdem strömten viele »rote Kapitalist*innen« in die Partei, da der Zugang zu wichtigen politischen und ökonomischen Ressourcen nur über die KPCh möglich ist. Liberale Hoffnungen, die Herausbildung einer chinesischen Bourgeoisie könnte eine Demokratisierung des politischen Systems Chinas bewirken, erweisen sich demnach als Illusion. Vielmehr macht die enge Verknüpfung zwischen Unternehmer*innen und parteistaatlichen Behörden das chinesische Modell stabil und trägt dazu bei, parteistaatliche Machtkapazitäten aufrechtzuerhalten.
Von der Klasse zum Volk
Doch welche Interessen kommen im parteistaatlichen Handeln zum Ausdruck? Es gibt in China weder eine autonome Organisation von Lohnabhängigen noch unabhängige Kapitalverbände. Mit einigen Ausnahmen, wie die selbst organisierte Streikwelle Anfang der 2010er Jahre in der Automobilindustrie, finden gesellschaftliche Auseinandersetzungen – insbesondere diejenigen zwischen Arbeit und Kapital –innerhalb der Partei- und Staatsorgane statt. Die KPCh kann dabei nicht als Klassenorganisation begriffen werden. Denn obwohl der Klassenbegriff in die Verfassung eingeschrieben ist und auch in der Flagge und Nationalhymne vorkommt, existiert er im offiziellen parteistaatlichen Diskurs wie auch in der politischen Programmatik im Grunde nicht mehr. Wenig verwunderlich, denn das Zentralkomitee der KPCh hatte bereits im Dezember 1978 das Ende des Klassenkampfes deklariert. Stattdessen wurde die ökonomische Modernisierung als neues Kernanliegen ihrer »sozialistischen« Politik ausgerufen.
Spätestens mit der Neudefinition der Rolle der KPCh unter Jiang Zemin im Jahr 2001 wurde der Klassenbegriff aufgegeben und sich auf die Kategorie des »Volkes« bezogen, das alle Bürger*innen – und damit auch die neu entstandene Bourgeoisie – einschloss. Mit dem Wandel vom Staatssozialismus zum Parteistaatskapitalismus ging also auch ein ideologischer Wandel der KPCh einher: weg von einer Klassenorganisation hin zu einer Partei, die ein konstruiertes nationales Interesse des chinesischen Volkes vertritt. Dieses bestand vor allem darin, mittels pragmatischer parteistaatlicher Steuerung in einer zunehmend liberalisierten Ökonomie möglichst hohe Wachstumsraten zu erreichen. Zwar setzte dies eine hochdynamische Kapitalakkumulation in Gang, mit durchaus beachtenswerten Erfolgen in der Armutsbekämpfung, allerdings zum Preis einer immensen sozioökonomischen Ungleichheit und ökologischen Zerstörung. Der chinesische Parteistaatskapitalismus weist also kaum Eigenschaften auf, die als Anknüpfungspunkt für linke Transformationsprojekte – beispielsweise im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation – dienen könnten.
Strategie einer sozialistischen Linken kann es deshalb nicht sein, sich positiv auf das chinesische politökonomische Modell oder die KPCh zu beziehen. Ihr Fokus sollte stattdessen darauf liegen, emanzipatorische zivilgesellschaftliche Bewegungen in China zu unterstützen.
Anmerkung
1) Die Daten stammen aus dem (bislang noch nicht veröffentlichten) Datensatz SinoTop500, der im Rahmen des Forschungsprojekts Kampf oder Konvergenz der Kapitalismen an der Uni Erfurt erhoben wurde.