»Die Möglichkeit für klassenübergreifende Solidarität ist da«
In China protestierten nicht nur Tausende Arbeiter*innen, auch die Mittelschicht ist unzufrieden, sagt der Soziologe Xu Hui
Interview: Esther Lichtenfeld, Sarah Peters und Felix Rumbach
Nach einem Corona-Ausbruch beim Apple-Zulieferer Foxconn im chinesischen Zhengzhou kam es im Oktober zu Protesten und zur Flucht von Arbeiter*innen vom Fabrikgelände. Massenproteste in Städten wie Nanjing und Shanghai zwangen die chinesische Regierung jüngst zur Lockerung der Corona-Regelungen. Xu Hui sprach Anfang Dezember mit ak über die zermürbende Arbeit in chinesischen Fabriken, die gesellschaftlichen Auswirkungen der Null-Covid-Politik und die Frage, was die Aufstände für Chinas Rolle als »Werkbank der Welt« bedeuten.
Was geschah im Oktober in der Foxconn-Fabrik in Zhengzhou?
Xu Hui: In den vergangenen zwei Monaten wurde in den chinesischen sozialen Medien über Unruhen in der Foxconn-Fabrik in Zhengzhou und die Flucht von Arbeiter*innen berichtet. Das alles begann mit einer Welle von Covid-Infektionen, die im Oktober über Zhengzhou hereinbrach. In der Foxconn-Fabrik arbeiten Zehntausende von Wanderarbeiter*innen. Sie stellen unter anderem das iPhone 14 her, und gerade jetzt ist Hochsaison für Foxconn und Apple. Daher wurde von den Arbeiter*innen erwartet, dass sie trotz des Ausbruchs der Krankheit weiterarbeiten, auch wenn sie sich selbst mit Covid infiziert hatten, um den Auftrag von Apple zu erfüllen. Da Foxconn für die Exportwirtschaft wichtig ist, wollte auch die Regierung das Werk nicht schließen. Als die Arbeiter*innen merkten, dass sich immer mehr von ihnen infizierten, bekamen sie Angst. Ihre Schlafsäle wurden geschlossen und sie bekamen keine klaren Informationen über die Vorgänge. Aufgrund dieses Mangels an Informationen verbreiteten sich viele Gerüchte, wie zum Beispiel, dass einige der infizierten Arbeiter*innen gestorben seien.
Sie wurden also in den Fabriken eingeschlossen?
Im Zusammenhang mit Covid haben die Unternehmen und die Regierung beschlossen, dass die Arbeiter*innen in den Fabriken bleiben, um das Risiko einer Ansteckung zu verringern. Sie arbeiten also tagsüber und schlafen nachts in den Fabriken. Das Problem ist, dass es nicht genügend Schlafsäle für alle gibt, so dass viele auf dem Boden der Kantinen oder Werkshallen schlafen. Es gibt keine ausreichende Infrastruktur, das heißt keine Duschen, unzureichende medizinische Versorgung und Nahrungsmittelengpässe, viele Arbeiter*innen essen täglich Instantnudeln. Sie verbringen ihr ganzes Leben in der Fabrik im Namen des kommunistischen Fortschritts. Ich kann mir ein solches Leben nicht vorstellen.
Die Arbeiter*innen verbringen ihr ganzes Leben in der Fabrik im Namen des kommunistischen Fortschritts.
Konnten die Arbeiter*innen denn nach Hause zurückkehren?
Viele von ihnen beschlossen, aus der Fabrik zu fliehen und zu versuchen, in ihre Heimatstädte zurückzukehren. Foxconn-Mitarbeiter*innen und Polizist*innen versuchten, sie daran zu hindern, das Werk zu verlassen. Außerdem wurde der öffentliche Nahverkehr eingestellt, so dass sie weder Busse noch Züge nehmen konnten, um nach Hause zu fahren. Da es an den Straßen Corona-Kontrollen gibt, liefen die Menschen einfach querfeldein, um nach Hause zu kommen. Einige von ihnen brauchten dafür zehn, zwanzig oder sogar dreißig Stunden. Als sie durch die Dörfer kamen, versorgten sie die Dorfbewohner*innen mit Essen und Wasser.
Die Geschichte von bis zu 20.000 Arbeiter*innen, die aus der Fabrik geflohen waren, verbreitete sich rasant in den sozialen Medien. Die Regierung begann daraufhin, Busse bereitzustellen, damit die Arbeiter*innen in ihre Heimatstädte gelangen konnten. Das war Anfang Oktober. Das Verrückte daran ist, dass Foxconn nach der Massenflucht die Produktion wieder aufgenommen hat und die Arbeiter*innen zurückkommen sollten, was diese aber nicht wollten.
Also bekam die Regierung der Provinz, in der Zhengzhou liegt, den Auftrag, Arbeiter*innen für Foxconn zu rekrutieren. Jedes Dorf und jede Regierungsstelle musste mindestens eine*n Arbeiter*in für Foxconn einstellen, andernfalls mussten die Staatsbediensteten selbst für etwa zwei Monate am Fließband arbeiten. Foxconn konnte aber schon vor den Aufständen nicht genügend Arbeiter*innen in der Region finden, also verpflichtet das Bildungsministerium auch 16-jährige Schüler*innen von Berufsschulen, »Praktika« in den Foxconn-Fabriken zu absolvieren. Tatsächlich können diese Schüler*innen bei Foxconn aber keine Fähigkeiten erlernen, sie sind nur Arbeitsmaschinen.
Sie selbst haben auch in chinesischen Fabriken gearbeitet, was waren Ihre Erfahrungen?
Die erste Fabrik, in der ich gearbeitet habe, war Foxconn in Chongqing, wo ich am Fließband hp-Laptops hergestellt habe. Das Schwierige daran war, zehn oder sogar zwölf Stunden am Tag alle zehn oder zwölf Sekunden den gleichen Arbeitsschritt zu wiederholen. Der Lohn der in Zentralchina gelegenen Stadt Chongqing war nicht so hoch wie in anderen Fabriken in den Küstenregionen. Um genug Geld zu verdienen, musste man jeden Tag arbeiten.
Nachdem ich das etwa zwei Monate gemacht hatte, bekam ich Selbstmordgedanken. Ich hatte das Gefühl, alle Hoffnung zu verlieren, wegen dieser sinnlosen Arbeit, bei der man jeden Tag am Fließband steht und dieselben Bewegungen wiederholt. Ich habe es gehasst, doch ich hatte eine Wahl. Andere Arbeiter*innen haben aber keine andere Wahl, als ihr ganzes Leben dort zu arbeiten. Bei Foxconn passieren viele Selbstmorde.
Xu Hui
ist Soziologe und promoviert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu Migration und Arbeit in China. Er selbst arbeitete bei chinesischen Zulieferern für Apple und Adidas, um die dortigen Arbeitsbedingungen zu untersuchen.
Halten Sie die strengen Corona-Vorschriften für notwendig?
Für mich sind sie wirklich nicht notwendig, sie sind einfach lächerlich. Diese Politik basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und ignoriert die Lebensrealität der Menschen. Zu Beginn der Pandemie war die strenge Null-Covid-Politik für die chinesische Bevölkerung akzeptabel. Aber um mit der neuen Omikron-Variante, die sich viel schneller ausbreitet, Schritt zu halten, musste die Regierung noch extremere Maßnahmen ergreifen. Millionen von Menschen wurden unter Lockdown gestellt und es wurden Isolationslager eingerichtet. Immer mehr Menschen erkennen, dass diese Maßnahmen unwissenschaftlich und unhaltbar sind. So kommt es schließlich zu zahlreichen Protesten. Die Menschen sind wütend und verzweifelt, sie haben keine andere Wahl, als zu kämpfen.
Sind diese Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung eine neue Entwicklung?
Schon im März und April gab es Proteste in Shenzhen und Shanghai während der dortigen Lockdowns. Aber diese Proteste waren unzusammenhängend, es handelte sich nicht um eine Welle, sondern eher um vereinzelte Reaktionen. Es gab keine Verbindung zwischen den Protestaktionen, und sie waren von geringem Ausmaß und dauerten meist nur eine Nacht.
Seit Oktober, insbesondere nach den Vorfällen bei Foxconn in Zhengzhou, gab es Proteste in größerem Umfang. Sie unterscheiden sich von denen, die wir zum Beispiel im März erlebt haben. Diese jüngsten Aufstände haben ein viel größeres Ausmaß und werden oft von Hunderten oder Tausenden Arbeiter*innen getragen. Außerdem sind sie oft gewalttätiger, weil die Beteiligten in direkten Konflikt mit der Polizei kommen. In letzter Zeit hat es jede Nacht Unruhen gegeben. In der Provinz Guangzhou wurden fast alle Polizeibeamt*innen mobilisiert, um gegen diese Protestbewegung vorzugehen. Seit Jahrzehnten hat es in China keine Protestbewegung in so großem Umfang mehr gegeben.
Seit Jahrzehnten hat es in China keine Protestbewegung in so großem Umfang mehr gegeben.
Xu Hui
Glauben Sie, dass die Proteste und Streiks die Chance bergen, die Arbeitsbedingungen zu verändern oder vielleicht sogar das Regime von Xi Jinping zu bedrohen?
Die jüngsten Proteste haben ein großes Potenzial, weil sie sowohl die Arbeiter*innen als auch die Mittelschicht einbinden. Nach dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei im Oktober schien Xi Jinping der unangefochtene Herrscher Chinas zu sein. Aber der letzte Monat hat gezeigt, dass er wirklich erhebliche Herausforderungen von unten zu bewältigen hat. Ich glaube, solange er auf der Null-Covid-Politik beharrt, werden die Herausforderungen wachsen, weil das Leben fast aller Menschen in China durch diese Politik stark beeinträchtigt oder sogar zerstört wird.
Das bietet Möglichkeiten für klassenübergreifende Solidarität. In seiner Gesamtheit stellt diese Bewegung eine politische Bedrohung für das Regime von Xi Jinping dar. Ich denke, er hat die Botschaft verstanden, dass seine Null-Covid-Politik der Wirtschaft und Gesellschaft strukturellen Schaden zugefügt hat. Die Regierung hat eine sehr schnelle Entscheidung getroffen, die Beschränkungen in Guangzhou und mittlerweile in vielen anderen Städten zu lockern. Wir werden bald sehen, ob dies auch an anderen Orten die Norm sein wird. Was wir sehen, ist keine Änderung der Politik von oben, sondern das Ergebnis eines Kampfes von unten.
Werden diese Proteste auch Auswirkungen auf die Wirtschaft Chinas haben?
Das alles stellt eine Herausforderung für Chinas Rolle als »Werkbank der Welt« dar. Mit den steigenden Löhnen wird es schwierig für China, international zu konkurrieren. Es ist an der Zeit für eine Neuordnung der globalen Lieferkette. Apple verlagert seine Zuliefererfabriken schrittweise in südostasiatische Länder wie Indien und Vietnam. Nach dem Vorfall in Zhengzhou könnte auch Foxconn die Verlagerung der Produktion beschleunigen.
Aus den historischen Erfahrungen in Südkorea, Japan und Taiwan kann man lernen, dass China seine Produktion modernisieren und neue Technologien entwickeln muss. China importiert aber alle Schlüsseltechnologien noch immer aus dem Westen. In naher Zukunft sehe ich keine Hoffnung, den Rückgang der Wirtschaft zu verhindern. Die Arbeitslosenquote wird steigen und die Arbeitsbedingungen werden immer schlechter. Und das gilt nicht nur für Arbeiter*innen, sondern auch für IT-Ingenieur*innen und andere Dienstleister*innen. China wird in Zukunft vor vielen Herausforderungen stehen.