Neuer Name, alte Politik
Das Chancen-Aufenthaltsrecht der Ampelkoalition verspricht Klarheit für Geduldete, verkennt aber ihre Lebensrealitäten
Von Marika Spille
Ein Ende der Kettenduldung«, verspricht die Bundesregierung mit ihrem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht. Eine Duldung ist der aufenthaltsrechtliche Schwebezustand, mit dem laut dem Portal Statista aktuell über 247.000 Menschen in Deutschland leben. Eine Duldung ist keine legale Aufenthaltserlaubnis, sondern lediglich eine »Aussetzung der Abschiebung«. Sie ist als Übergangsstatus gedacht, für Menschen, die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Eigentlich sollen Duldungen nur für wenige Tage, Wochen oder Monate bestehen. Und sie bedeutet, dass grundlegende Rechte massiv eingeschränkt sind. Anders als es der Name vermuten lässt, bietet das neue Gesetz nur Wenigen wirkliche Chancen.
Bisher führte der einzige Weg von der Duldung in einen sicheren Aufenthalt über die 2015 geschaffenen Paragrafen 25a und 25b im Aufenthaltsgesetz (Aufenthalt bei nachhaltiger Integration). Dafür müssen die Geduldeten den eigenen Lebensunterhalt überwiegend selbst bestreiten, Kenntnisse der deutschen Sprache und Rechtsordnung und ihre Identität nachweisen. Diese Anforderungen sind aus dem Zustand der Duldung aber schwer zu bewältigen. Denn ohne Anspruch auf einen Deutschkurs ist es schwierig, die Sprache zu erlernen. Von den geringen Leistungen, die die Geduldeten zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten, bleibt für einen Kurs in der Regel nichts übrig. Für einige sind das lateinische Alphabet oder das Lesen selbst eine zusätzliche Barriere. In den sieben Jahren seit der Einführung der Neuerung von 2015 haben gerade einmal 10.400 Personen eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.
»Eine Farce«
Mit dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht haben Geduldete nun für anderthalb Jahre zumindest einen Anspruch auf einen Deutschkurs und dürfen arbeiten, ohne vorher eine Erlaubnis einzuholen.
»Ich war erst sehr begeistert, als ich davon gehört habe, aber wenn man sich das genauer anguckt, ist das eine Farce«, erzählt Dörte Mälzer, langjährige Sozialberaterin in einer Migrations- und Sozialberatungsstelle in Köln. »Dieses Gesetz reiht sich ein in Gesetzgebungen, mit der die Regierung den Leuten eine Pseudo-Chance gibt, wo aber klar ist: Die können das gar nicht erfüllen. In den 30 Jahren, die ich in der Beratung arbeite, ist es das fünfte oder sechste Gesetz, das erlassen wird, um diesen Zustand zu beenden.«
Dass Viele nicht von dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren werden, liegt zum einen an den eingebauten Ausschlusskriterien. Es können nur Personen das Chancen-Aufenthaltsrecht beantragen, die zum Stichtag, 31.10.2022, fünf Jahre durchgängig in Deutschland geduldet waren. Damit reduziert sich die Zahl der Berechtigten auf 136.000. Es werden auch jene von dieser Chance ausgeschlossen, die zu einer Strafe von 50 Tagessätzen – bzw. 90 bei Straftaten nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz – verurteilt wurden. Ein solches Strafmaß kann man schon fürs Schwarzfahren bekommen. Wie viele dadurch von der Regelung ausgeschlossen werden, lässt sich aktuell nicht sagen.
Zum anderen führt die jahrelange Diskriminierung, der die Menschen durch die Duldung ausgesetzt waren, zu schwierigen Startbedingungen. Neben dem psychischen Druck und der permanenten Angst vor Abschiebung haben einige Geduldete sprachliche Defizite, weil sie bisher nicht das Recht hatten, an Sprachkursen teilzunehmen. Mit dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht haben sie jetzt Anspruch auf Deutschkurse. Aus einem Rechtsanspruch folgt aber bekanntermaßen nicht die de facto Möglichkeit, an einem Kurs teilzunehmen. Es herrscht ein absoluter Mangel an Plätzen in Deutsch- und Integrationskursen.
Es herrscht ein absoluter Mangel an Plätzen in Deutsch- und Integrationskursen.
Für viele Geduldete war es bisher schwer bis unmöglich, eine Berufsausbildung anzufangen, geschweige denn abzuschließen. Darum bleibt für Viele nur die Beschäftigung in prekären Arbeitsverhältnissen. Bei einem Vollzeitjob mit Mindestlohn ist es undenkbar, den Lebensunterhalt für sich selbst und die eigene Familie zu sichern.
Um die neue, 18-Monatige befristete Aufenthaltserlaubnis in eine unbefristete umwandeln zu können, muss die Identität geklärt werden. Dafür fordern die Behörden die Vorlage eines Passes. Die Hauptgründe für Duldungen sind aber gerade fehlende Reisedokumente oder eine ungeklärte Staatsangehörigkeit. Ihre Staatsangehörigkeit zu klären, stellt die Betroffenen oft vor Herausforderungen. Für langjährig geduldete Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien zum Beispiel gestaltet sich der Prozess, um festzustellen, welchem Staat sie angehören, oft als langwierig, bürokratisch und kostenintensiv.
Und das Thema Passbeschaffung ist selbst für Personen mit geklärter Staatsangehörigkeit mit verschiedenen Fallstricken verbunden. Botschaften von Staaten wie Guinea stellen einfach keine Pässe aus. Vor einer Hürde ganz anderer Art stehen Geflüchtete, die vor politischer Verfolgung geflohen sind, deren Asylverfahren aber negativ beschieden wurde. Sie haben weiterhin Angst vor Repressionen durch das Herkunftsland. Rein rechtlich könnten sie sich in der Botschaft einen Pass besorgen, aber die Angst, in die Botschaft zu gehen, ist für viele einfach zu groß.
Für viele der genannten Punkte gibt es Sonderregelungen. Kann zum Beispiel nachgewiesen werden, dass die Passbeschaffung oder Klärung der Staatsangehörigkeit unmöglich ist, dann wird auf andere Wege, die Identität zu klären, zurückgegriffen. Diese Wege sind aber wieder: langwierig, bürokratisch und kostenintensiv. Außerdem müssen die Menschen von diesen ganzen Sonderreglungen erst einmal erfahren. Doch auch dann brauchen sie für diesen Paragrafendschungel neben Fachkompetenz auch psychische, solidarische Unterstützung – wie etwa durch das 2018 gegründete Programm Bleibeperspektive für Langzeitgeduldete in Köln. Im Ausländeramt Köln wurde eine Projektgruppe eingesetzt, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Beratungsstellen die Geduldeten auf ihren Weg in ein dauerhaftes Bleiberecht unterstützt.
»Hier wird nicht mehr über Abschiebung geredet, es gibt sechs Monate Verlängerung der Duldung ohne Diskussion. Dafür müssen die Menschen mit den Beratungsstellen zusammenarbeiten und Schritte unternehmen in Richtung sozialer und wirtschaftlicher Integration. Dieser tolle Ansatz muss meiner Meinung nach in der ganzen Behörde und dann eben auch bundesweit installiert werden. Sonst wird das Dilemma der Kettenduldungen nie ein Ende finden«, meint Oliver Ditzel von Rom e.V., einem Verein, der das Projekt mit initiiert hat.
Leistungsnarrative und Abschiebeoffensive
Aber auch mit einer solchen institutionalisierten Unterstützung werden viele im Zustand der Duldung bleiben. Aus Angst vor den Behörden der Herkunftsstaaten, aufgrund der Ausschlusskriterien oder weil sie vielleicht einfach schon die Hoffnung aufgegeben haben.
Diese Menschen stehen dann der ebenfalls beschlossenen Abschiebeoffensive gegenüber. Denn gemeinsam mit dem Chancen-Aufenthalt wurde eine rigorose Abschiebepraxis inklusive erleichterter Abschiebehaft beschlossen. Das Bundesministerium des Innern selbst geht laut Gesetzesentwurf davon aus, dass nur 33.000 Personen durch das Chancen-Aufenthaltsrecht die nötigen Voraussetzungen erfüllen werden und somit überhaupt einen Antrag auf einen unbefristeten Aufenthalt stellen können. Das wären 13 Prozent der geduldeten Menschen in Deutschland.
Gemeinsam mit dem Chancen-Aufenthalt wurde eine rigorose Abschiebepraxis beschlossen.
Das Chancen-Aufenthaltsrecht zeigt: Die gängige Praxis war und ist »wer leistet, darf bleiben«. Wer gut ausgebildet ist, darf kommen. In Deutschland zu leben, ist für all diejenigen, deren Eltern nicht zufällig bei der Zeugung einen deutschen Pass hatten, ein Privileg, das man sich verdienen muss. Die kontinuierliche Diskriminierung, der Geduldete ausgesetzt sind, und die daraus resultierenden Startbedingungen der Betroffenen werden dabei ignoriert.
Und nicht nur das individuelle Leistungsnarrativ führt sich hier fort. Wer straffällig geworden ist, dem droht direkt die Abschiebung. Deutschland präsentiert sich nach wie vor als Gastarbeiter*innenland. Es sind allerdings nur diejenigen willkommen, die gut ausgebildet, »wohlerzogen und fleißig« sind. Alle anderen werden ausrangiert und abgeschoben. So wird verstärkt, dass Fachkräfte die Regionen verlassen, in denen sie dringend gebraucht werden.
Das Gesetz ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Es schafft Chancen, und mit Sicherheit werden einige davon profitieren. Aber es verkennt die Diskriminierung der Menschen, die teilweise seit Jahrzehnten von Duldungen betroffen sind. In der jetzigen Form ist das Gesetz eindeutig nicht dafür geeignet, den Zustand der Kettenduldung zu beenden. Traurig ist: Der angekündigte Perspektivwechsel lässt sich nicht erkennen, sondern ein Weiter-So.
In einer früheren Version dieses Artikels wurde die Vorrangprüfung Geduldete Menschen beschrieben, die 2019 offiziell abgeschafft wurde. Wir haben die Beschreibung deshalb gekürzt.