Bullen auf Klassenfahrt
Statt einer grundlegenden Polizeireform gibt es für die Carabineros de Chile Nachhilfe von deutschen Beamt*innen
Von Malte Seiwerth
Sie marschierten wieder voller Stolz. In weißer Uniform standen sie da, als am 14. Dezember 2022 der chilenische Präsident, Gabriel Boric, eine weitere Generation Polizeioffiziere aus der Ausbildung entließ. Der Präsident würdigte die Arbeit der chilenischen Polizei, der Carabineros de Chile, und sprach ihr sein volles Vertrauen aus. Einer Polizei, die es zumindest in dieser Form gar nicht mehr geben sollte.
Nur drei Jahre zuvor waren die Carabineros in die schwersten Menschenrechtsverletzungen seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1990 verwickelt. Beim Versuch, die massiven Proteste gegen die damalige rechte Regierung unter Sebastián Piñera und die Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftsregimes niederzuschlagen, verwendeten die staatlichen Ordnungskräfte ein Maß an Gewalt, das viele an die längst vergangene Zeit erinnerte.
Die Reform der Carabineros de Chile war deshalb ein zentrales Wahlversprechen des Linken Gabriel Boric. Während die Polizei in den letzten drei Jahren zwar interne Veränderungen angestoßen hat, hat sie sich bis heute nicht öffentlich für die Menschenrechtsverletzungen von 2019 verantwortet, diese vielmehr mehrfach geleugnet. Gleichzeitig werden jene Stimmen, die eine Reform von außen befürworten, immer leiser. Die Carabineros gewinnen wieder an Ansehen. Dabei hilft auch eine Kooperation mit der deutschen Polizei.
Chilenisch-deutsche Kooperationen
Im November 2022 reiste die chilenische Bereitschaftspolizei zum wiederholten Mal nach Deutschland, dieses Mal nach Hamburg. Solche »Bildungsreisen« sind Teil jener internen Reformen, die die Wahrung von Menschenrechten bei der Polizeiarbeit garantieren sollen. Aus Hamburg möchte man lernen, wie die Polizei bei Demonstrationen die Ordnung aufrechterhalten und gleichzeitig gemäß aktueller Menschenrechtsstandards agieren kann. Ein Unterfangen, das auch in der Hansestadt auf Kritik stößt: Man würde den »Bock zum Gärtner« machen, befand etwa der Linke Bürgerschaftsabgeordnete Deniz Celik gegenüber der taz. Die Hamburger Polizei sei mit ihren Einsatztaktiken nicht die geeignete Institution für solche Lehreinheiten. Seit Dezember 2019, mit einer Unterbrechung während der Pandemie, gibt es einen engen Austausch zwischen den deutschen und chilenischen Polizeibehörden, geleitet vom Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder mit Sitz in Berlin. Eine offizielle Abmachung wurde im April 2022 unterzeichnet. Sie regelt den Austausch, der vorerst bis Ende 2023 gehen soll, und bislang vor allem durch deutsche Behörden finanziert wurde, so die Carabineros de Chile auf Anfrage von ak.
Erklärtes Ziel ist es, die chilenische Polizei in eine moderne, transparente und »kommunikative« Behörde zu verwandeln, die die Menschenrechte respektiert und neue Methoden zur Deeskalation von Konflikten erlernt – so der Wortlaut der Abmachung, die der ak vorliegt. Durch regelmäßige Besuche sollen den chilenischen Beamt*innen »deutsche Polizeiverhältnisse« nähergebracht werden: mehr Bürger*innennähe, ziviler aufgebaute Strukturen und Respekt vor zivilen Rechten und Freiheiten.
Ein Erfolgsprojekt, so meint zumindest Carabineros de Chile. In Reportagen der großen Printmedien des Landes berichten Polizeiangehörige über die Kooperation. Die Botschaft ist klar: Die chilenische Polizei ist gewillt, sich zu ändern. »Modernisierung ist ein Muss«, verkündete etwa der Generaldirektor der Carabineros de Chile, Ricardo Yañez, im April 2022. Eine von außen angetriebene Reform ist in dieser Logik nicht mehr nötig.
Dabei schien es Anfang des Jahres 2022 noch so, als stünde die einst vom chilenischen Diktator Carlos Ibañez del Campo im Jahr 1927 gegründete Polizei Carabineros de Chile in ihrer heutigen Form vor dem Ende. Im Dezember 2021 gewann der ehemalige Parlamentarier und Studierendensprecher, Gabriel Boric, die Wahl zum Präsidenten. Auch wenn aufgrund einer fehlenden Mehrheit im Parlament von Anfang an klar war, dass es keine grundlegende Erneuerung geben würde, so wurde zumindest eine gewisse Zuversicht ausgedrückt, dass es gelingen könnte, die Polizei stärker zu kontrollieren und sie in ihrem Charakter zu reformieren. Denn die Carabineros hatten auch in konservativen Kreisen an Zuspruch verloren.
Bei den Protesten 2019 hatte die Polizei mit Schrotflinten auf Demonstrant*innen geschossen und mindestens 400 Augenerblindungen verursacht, über 2.000 Menschen berichteten damals von Folter auf Kommissariaten. Der Ruf nach einer Neugründung war so stark, dass selbst die rechte Regierung unter Sebastián Piñera im Jahr 2020 eine Kommission zur Reformierung der Polizei einsetzte, die allerdings abgesehen von ein paar Sitzungen nicht viel unternahm.
Polizeigewalt war zwar alles andere als ein neues Phänomen, erklärt die Politikwissenschaftlerin Alejandra Mohor im Gespräch mit ak, »aber die Anzahl der Verstöße« und der große Kreis von Betroffenen waren es durchaus. Zuvor seien es zumeist Indigene, Schüler*innen und andere marginalisierte Gruppen gewesen, die die Gewalt getroffen hatte. Deswegen gab es in diesen Kreisen schon lange den Wunsch, die militärisch aufgebaute Polizei, die bis heute Angehörige der Militärdiktatur von 1973 bis 1990 würdigt, zu reformieren.
In konservativen Kreisen dagegen erlosch der Elan für Polizeireformen nach 2019 rasch, weshalb eine entsprechende parlamentarische Initiative in immer weitere Ferne rückte. Die Hoffnungen der Linken konzentrierten sich deshalb auf den Verfassungskonvent, der, ausgestattet mit einer klaren linken Mehrheit, Reformen auf der Verfassungsebene umsetzen sollte. Laut dem Entwurf, sollten sich die Carabineros de Chile in eine zivil organisierte Polizei verwandeln, die ihren militärischen Charakter aberkannt bekäme. Ein wichtiger Schritt in Richtung der Gründung einer Polizei, die einem demokratischen Land würdig wäre, so die Befürworter*innen. Der Verfassungsentwurf scheiterte jedoch im vergangenen September.
Die Führungsriege der Carabineros reagierte mit öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen auf die anhaltende Kritik. Der Generaldirektor wurde noch 2019 ausgewechselt und die Bereitschaftspolizei umbenannt. Die Einsatzfahrzeuge wurden neu gestrichen – von dunkelgrün zu weiß – und die Ausbildungszeit frisch angehender Polizist*innen von einem auf zwei Jahre verlängert.
»Bildungseinsätze« auf St. Pauli
Mit der Hilfe aus Deutschland wollte man nun den Polizeiapparat modernisieren und alte Verhaltensweisen und Strukturen aus der Diktatur aufbrechen. Begleitet wird dieser Prozess von einer offensiven medialen Kommunikationsstrategie. Auch bei Letzterem bieten die Kolleg*innen aus Deutschland ihre Hilfe an. In zahlreichen internen Berichten, zu denen ak per chilenischem Informationsfreiheitsgesetz Zugang erhalten hat, werden Empfehlungen zur Umsetzung deutscher Polizeistrategien in Chile abgegeben. Dazu gehören Kampagnen, die Carabineros neben ihrer Polizeiarbeit als normale Mitbürger*innen, als »Menschen wie du und ich« darstellen sollen, aber auch die Begleitung von Einsätzen der Bereitschaftspolizei durch Kommunikationsteams, offiziell um den »präventiven Charakter« der Polizei zu stärken. In Hamburg war im November 2022 ein chilenischer Kommunikationsbeamter bei Einsätzen der Bereitschaftspolizei dabei.
Genau wie ihre Kolleg*innen in Deutschland können die chilenischen Kommunikationsabteilungen so aber auch ihre eigene Darstellung der Geschehnisse über ihre Netzwerke verbreiten und an Medien weiterreichen – bevor Kritik an Polizeieinsätzen laut wird.
In Hamburg begleiten die Carabineros ihre Kolleg *innen bei Fußballspielen und Einsätzen auf der Reeperbahn.
Strukturell habe sich innerhalb des Polizeiapparates letztlich wenig geändert, kritisiert die Politikwissenschaftlerin Mohor. Sie begleitet den Wunsch nach Reformen auf wissenschaftlicher Ebene. Bislang »mangelt es an einer Debatte über die Rolle der Polizei in einer demokratischen Gesellschaft und darüber, was dies für das tägliche Handeln bedeutet«, so Mohor. Dies sei eine ideologische Frage, der sich die Carabineros nicht stellen wollten. Auch die »Bildungseinsätze« in Deutschland widmen sich meist nur den Einsatzformen, anstatt strukturelle Veränderungen zu forcieren. So begleiteten die Carabineros in Hamburg im November 2021 ihre Kolleg*innen bei Fußballspielen und Einsätzen auf der Reeperbahn in St. Pauli. Gemeinsam führten sie Übungen bei Demonstrationen durch, gingen auf den Schießstand und lernten deutsche Wasserwerfer im Einsatz kennen.
Strukturelle Veränderungen werden bislang nur sehr zaghaft vorangetrieben, so etwa in Gestalt der Empfehlung, Bereitschaftspolizist*innen psychosoziale Begleitung anzubieten, anonyme Kanäle der internen Kritik bereitzustellen und mehr Austausch unter den Kolleg*innen zu gewährleisten. Für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen von 2019 bedeutet dies, dass die Führungsriege die Probleme der chilenischen Polizei vor allem am Verhalten einzelner Polizist*innen festmacht. Dieser Logik folgend verurteilt auch die Justiz derzeit vor allem untergeordnete Carabineros wegen der Verletzung und grausamer Behandlungen von Demonstrant*innen.
Menschenrechtler*innen versuchen hingegen die rechtliche Aufarbeitung der Verantwortung innerhalb der Führungsebene voranzutreiben. So hat das staatliche Institut für Menschenrechte im Oktober 2022 eine Anzeige gegen Ricardo Yañez und weitere hochrangige Generäle eingereicht. Das Verfahren steht bislang aus. Die Staatsanwaltschaft ermittelt jedoch auch in anderen strafrechtlich relevanten Fällen gegen den Generaldirektor Yañez. Trotz alledem sitzt die alte Führungsriege immer noch fest im Sattel, die neue linke Regierung unternahm bislang keinen Versuch, die Verantwortlichen von 2019 auszutauschen. Die Politikwissenschaftlerin Mohor glaubt, der Regierung Boric ginge es »um institutionelle Stabilität durch Dialog«. Sie versuche institutionellen Widerstand zu vermeiden. Denn auch wenn die Carabineros kein Streikrecht haben, so hätten sie in der Vergangenheit doch gezeigt, dass sie ihren Dienst verweigern könnten. Ein politisches Risiko, dem sich die Regierung nicht aussetzen möchte.
Umdenken mit deutscher Hilfe?
Mit der mehrheitlichen Ablehnung des Verfassungsentwurfs, so meint Mohor, wurden »diejenigen bestärkt, die glauben, dass es nichts zu reformieren, sondern nur einzelne Aspekte zu verbessern gäbe. Dazu gehören auch die Offiziere der Carabineros.«
Noch vor der Ablehnung des Entwurfs, im August 2022, gründete die Regierung eine Kommission, die Empfehlungen für eine Polizeireform erarbeiten sollte. Auch die Politikwissenschaftlerin Mohor wurde dazu eingeladen. Doch seitdem hat die Gruppe nur einmal getagt, seit September ist sie auf Standby. Die Regierung beschwichtigt und vertröstet auf das Jahr 2023. Die Reform würde kommen. Doch wie, weiß derzeit niemand.
Mittlerweile ist das Thema der Polizeireform fast gänzlich aus den chilenischen Medien verschwunden. Stattdessen nehmen Gewaltverbrechen und Diebstahl viel Raum in den Nachrichtensendungen ein, obwohl die Zahl der Delikte im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie kaum zugenommen hat. Doch die Angst in der Bevölkerung wächst und damit auch der Ruf nach einer harten Hand. Davon profitiert die Polizei, Menschenrechtsverletzungen hin oder her. Erstmals seit 2019 steigt in Umfragen die Zustimmung zu den Carabineros de Chile wieder.
Was bleibt, aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Mohor, ist die Hoffnung, dass der Austausch mit der deutschen Polizei zu einem Umdenken führt, und die chilenischen Polizist*innen erkennen, »dass Demokratisierung und Achtung der Menschenrechte keine Bedrohung für die Institution sind, sondern eine Chance«. Es wäre, so hofft Mohor, der Anfang eines sehr langsamen Wandels. Eine Hoffnung, die mit Blick auf die vielen Betroffenen von Polizeigewalt in Deutschland allerdings durchaus trügerisch erscheint.