Keine Party in São Paulo
Für die Stichwahl ums Präsidentenamt kann Lula nicht auf die Stärke linker Bewegungen zählen, stattdessen sucht er Allianzen in der politischen Mitte
Von Niklas Franzen
Als Luiz Inácio »Lula« da Silva im vollbepackten Auditorium vor die Presse tritt, hat er ein Lächeln im Gesicht. Es läuft der Wahlkampfjingle, Fäuste und zum L geformte Hände werden in die Luft gereckt. Doch so richtig will in dem schicken Hotel im Zentrum São Paulos keine Partystimmung aufkommen. Zwar ging der Politiker der Arbeiterpartei als Sieger aus der Präsidentschaftswahl in Brasilien hervor. Doch der erhoffte Sieg in der ersten Runde gelang ihm nicht, es kommt zu einer Stichwahl am 30. Oktober. Und sein großer Kontrahent, Amtsinhaber Jair Bolsonaro, schnitt ebenfalls stark ab. Alle anderen Kandidat*innen lagen abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.
Mehr als 160 Millionen Brasilianer*innen waren am 2. Oktober dazu aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Analyst*innen sprachen im Vorfeld von der »wichtigsten Wahl in der Geschichte des Landes«. Denn mit Bolsonaro trat ein Rechtsradikaler zur Wiederwahl an. Ein Mann, der sich im Dauerclinch mit den demokratischen Institutionen befindet, gegen Minderheiten hetzt und das Land durch seine zerstörerische Umweltpolitik international isoliert hat.
Optimismus – ja, Freude – nein
In den Umfragen hatte Bolsonaro deutlich hinter Lula gelegen, holte dann aber überraschend 43,2 Prozent der Stimmen. Lula kam auf 48,4 Prozent und schrammte nur knapp an einem Wahlsieg in der ersten Runde vorbei, für den er mehr als 50 Prozent der Stimmen benötigt hätte.
»Wir wollten eigentlich in der ersten Runde gewinnen«, sagt Eduardo Suplicy, Politiker der brasilianischen Abeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT), am Rande der Wahlparty gegenüber ak. Der 81-Jährige ist Ex-Senator und Kultfigur der Partei. »Doch die Mehrheit der Brasilianer wird in der Stichwahl für Lula stimmen.« So klingen an diesem Abend viele Politiker*innen der PT: Optimismus – ja, wirkliche Freude – nein. Das liegt auch am weiteren Ausgang der Wahl.
Denn neben dem Präsidenten wurden auch das Abgeordnetenhaus, Teile des Senats, die Lokalparlamente und die Gouverneur*innen gewählt. In vielen Bundesstaaten konnten sich Verbündete Bolsonaros durchsetzen. In Rio de Janeiro fuhr der von Bolsonaro unterstützte Kandidat Claudio Castro einen Erdrutschsieg ein und gewann die Gouverneurswahl in der ersten Runde. In São Paulo holte Bolsonaro-Kandidat Tarcísio Freitas die meisten Stimmen, er muss jedoch gegen PT-Politiker und Ex-Präsidentschaftskandidat Fernando Haddad in die Stichwahl.
Für die Stichwahl zwischen Lula und Bolsonaro wird es entscheidend sein, wohin die Wähler*innen der anderen Präsidentschaftskandidat*innen wandern. Zwar kamen diese zusammen noch nicht einmal auf zehn Prozent der Stimmen, sie könnten jedoch das Zünglein an der Waage sein. Sowohl der Mitte-Links Kandidat Ciro Gomes, als auch die Konservative Simone Tebet riefen zur Wahl Lulas auf. Weitere prominente Unterstützung erhielt er von Ex-Präsident Fernando Henrique Cardoso. Bolsonaro könnte wiederum von den Siegen bei den Gouverneurswahlen in Rio de Janeiro, São Paulo und Minas Gerais profitieren. Außerdem könnte ihm das überraschend hohe Wahlergebnis ein Momentum verschaffen, glauben Analyst*innen.
Bolsonaro gibt sich sozial
Bolsonaro versucht alles, um seine Wiederwahl zu garantieren. Da er gerade bei armen Brasilianer*innen miserabel abschneidet, hob die Regierung die Sozialhilfen an. LKW- und Taxifahrer*innen bekamen Sozialhilfen. Tatsächlich hat sich die kriselnde Wirtschaft in den letzten Wochen erholt, die Inflation ist gesunken, ebenso die Arbeitslosigkeit. Dennoch nimmt die Verarmung weiter zu, der Hunger ist mit voller Wucht zurück. Sollte Bolsonaro in diesem Jahr abgewählt werden, dann weder wegen seiner schulterzuckenden Corona-Politik noch wegen der zerstörerischen Umweltbilanz, sondern vor allem aufgrund der sozialen Verwerfungen im Land. Das weiß auch Lula. Dieser inszeniert sich als Anti-Bolsonaro und als großer Versöhner, der die Armutsbekämpfung zur Chefsache machen und das tief gespaltene Land einen wird.
Um zurück an die Spitze des größten Landes Lateinamerikas zu gelangen, hat Lula ein breites Bündnis geschmiedet. Sein Vize ist der konservative Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin. Auch der Ex-Präsident der Zentralbank, Henrique Meirelles, sagte Lula seine Unterstützung zu. Während die Finanzmärkte erfreut auf den Schulterschluss reagierten, schrillen bei Linken die Alarmglocken. Die Befürchtungen sind groß, dass Lulas Amtszeit von einer orthodoxen Finanzpolitik geprägt sein könnte. Doch allzu große Kritik wird im Wahlkampf zurückgehalten. Es scheint nun erst einmal darum zu gehen, Bolsonaro zu schlagen.
Während es in Chile und Kolumbien linken Kandidat*innen gelang, mit Massenprotesten im Rücken die Wahlen zu gewinnen, sieht das in Brasilien anders aus.
Der für sein Verhandlungsgeschick bekannte Lula hat aber auch kaum eine andere Wahl, als breite Allianzen zu knüpfen. Während es in Chile und Kolumbien linken Kandidat*innen gelang, mit Massenprotesten im Rücken die Wahlen zu gewinnen, sieht das in Brasilien anders aus. Lulas Umfragefragehoch ist wahrlich kein Ausdruck der Stärke der Linken, sondern eher mit Lulas Charisma und Bolsonaros Katastrophenkurs zu erklären. Viele Brasilianer*innen blicken sehnsüchtig auf die Amtszeiten des Ex-Gewerkschafters zurück. Ein Rohstoffboom erlaubte es damals, ambitionierte Sozialprogramme umzusetzen und die Armut massiv zu verringern.
Doch die goldenen Zeiten sind vorbei. Die Fronten sind verhärtet, die Gesellschaft gespalten, wirtschaftlich geht es dem Land schlecht. Auch wenn es gelingen sollte, die Wahl zu gewinnen, wird Lula viele Zugeständnisse an seine konservativen Partner*innen machen und im stark zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Obwohl die Arbeiterpartei PT zulegen konnte, wird Bolsonaros Partei die stärkste Partei im Parlament stellen. Allzu große Veränderungen werden deshalb nicht zu erwarten sein.
Lula gegen Abtreibungen
Lula ist sich der Kräfteverhältnisse bewusst und bewegt sich spürbar zur Mitte – nicht nur in wirtschaftlichen Fragen. In einem Interview erklärte er, gegen Abtreibungen zu sein. Die Aussagen dürften wohl eine Ansage an die evangelikale Wähler*innenschaft sein, von denen die meisten Bolsonaro unterstützen. Dieser versucht, Lula als »Antichrist« darzustellen und verbreitet die Falschmeldung, sein Gegenkandidat wolle Kirchen schließen. Doch auch Bolsonaro zog kurz nach der ersten Wahlrunde den Unmut der streng Religiösen auf sich, als ein Video in den sozialen Medien auftauchte, dass ihn bei einem Freimauer-Treffen zeigt. Einige User*innen reagierten empört und fühlen sich verraten, gelten Freimauer bei den Freikirchen doch als »antichristlich«.
Am 30. Oktober kommt es nun in einer Stichwahl zum Showdown zwischen Bolsonaro und Lula. Es ist eine Richtungsentscheidung über die Zukunft des Landes. Bisher halten Brasiliens Institutionen noch vielen autoritären Sehnsüchten stand, und es gelang dem Präsidenten nicht, einen offenen Bruch zu provozieren. Gerade der Oberste Gerichtshof zeigt Bolsonaro immer wieder die Grenzen auf – deshalb will er genau dort ansetzen. Regelmäßig teilt er hart gegen den Obersten Gerichtshof und einzelne Richter*innen aus. Zwei ihm ideologisch nahestehende Richter*innen konnte er bereits ernennen. Bei einem Sieg in der Stichwahl kann er in der anstehenden Amtszeit mindestens zwei weitere Richter*innen nominieren. Und mehrfach deutete Bolsonaro an, die Zahl der Richter*innen erhöhen zu wollen. Eine weitere Gefahr: Viele Bolsonaro nahestehende Politiker schafften bei der ersten Runde der Wahl den Einzug in den Senat. Mit einer Mehrheit in dieser Kammer ließe sich die Amtsenthebung von Richtern betreiben. Eine konservative Mehrheit im Obersten Gerichtshof könnte verheerende Auswirkungen haben. Ähnlich wie in den USA, wo der Supreme Court unlängst das Recht auf Abtreibung kassierte, stünden auch in Brasilien viele Grundsatzurteile auf dem Spiel.
Außerdem würde Bolsonaro in einer zweiten Amtszeit erfahrener agieren. In den letzten Jahren hat er viel vermasselt, teils aus Unvermögen, teils aus ideologischer Verbohrtheit. Um sich weiter als Anti-System-Politiker zu inszenieren, war er anfangs auf Kriegsfuß mit dem Kongress. Doch bald lernte er, Arrangements zu suchen und Stimmen für Gesetze einzukaufen. Diese Erfahrung käme ihm zugute, um in einer zweiten Amtszeit etwa die gefürchtete Reform des Antiterrorgesetzes durchzubringen. Deshalb ist es nicht übertrieben festzustellen, dass eine Wiederwahl Bolsonaros der Sargnagel für Brasiliens Demokratie bedeuten könnte.