Diplomatie der langen Bank
Papua-Neuguineas Regierung entlässt Bougainville trotz Referendum (noch) nicht in die Unabhängigkeit
Von Volker Böge
Der Unabhängigkeitsprozess auf Bougainville kommt nur schleppend voran. Im Dezember 2019 hatten sich in einem Referendum 97,8 Prozent der Bougainvilleans für die Loslösung von Papua-Neuguinea ausgesprochen. Doch die Umsetzung dieses Votums in die Realität stockt. Das hat vielfältige Gründe. Einer davon ist die Corona-Pandemie.
Gemäß Friedensabkommen zwischen Papua-Neuguinea (PNG) und den Sezessionisten auf Bougainville vom August 2001 ist das darin vorgesehene Referendum über den zukünftigen politischen Status Bougainvilles nicht-bindend. Vielmehr sollen beide Seiten »Konsultationen« über das Referendumsergebnis abhalten; die Ratifizierung ist letztlich dem Parlament PNGs vorbehalten. Diese Regelungen machen den gegenwärtigen Post-Referendumsprozess notwendig.
Obgleich das Ergebnis eindeutig ist – 97,8 Prozent für die Unabhängigkeit bei einer Beteiligung von 86 Prozent der Abstimmungsberechtigten, in einem von der unabhängigen Referendumskommission und internationalen Beobachter*innen als frei und fair bewerteten Verfahren – besteht die Regierung PNGs auf die Einhaltung der Bestimmungen des Friedensabkommens. Während die Autonomieregierung Bougainvilles, das Autonomous Bougainville Government (ABG), die Position vertritt, es könne nurmehr darum gehen, die konkreten Schritte zur Unabhängigkeit zu verabreden, sagt die Regierung PNGs, dass man das Ergebnis zwar zur Kenntnis nehme, aber gleichwohl noch über den künftigen Status Bougainvilles verhandelt werden müsse.
Mit diesen Ausgangspositionen gingen die beiden Seiten Anfang 2020 in die Konsultationen. Und dann kam Covid-19. Wegen der Pandemie wurde in PNG und Bougainville der Notstand ausgerufen. Das politische Leben kam ins Stocken, Treffen wurden abgesagt. Das spielte der PNG-Regierung in die Hände, die keine Eile hat, in der Sache voranzukommen. Dann wurde im September auf Bougainville gewählt, und es brauchte Zeit, bis sich die neue Regierung sortiert hatte. Ein für November 2020 festgesetztes Spitzentreffen wurde von der PNG-Regierung kurzfristig abgesagt, weil sie sich einem Misstrauensvotum im eigenen Parlament stellen musste. So ging ein Jahr nach dem Referendum ins Land, ohne dass sich Wesentliches bewegt hatte. Erst Anfang Februar 2021 kam ein Treffen der beiden Regierungen zustande, bei dem man sich darauf einigte, eine erste Runde substanzieller Konsultationen im März durchzuführen.
Ironischerweise erwies sich dieses Treffen für Bougainville als Covid-19-Superspreader-Ereignis. Teilnehmer*innen der PNG-Delegation waren offensichtlich infiziert, übertrugen das Virus auf die Bougainville-Delegation, und diese trug es in die Bevölkerung Bougainvilles. Bougainville war bis dahin von Covid-19 weitestgehend verschont geblieben, jetzt stiegen die Fallzahlen rasch. Besonders die politische Elite war betroffen. Mehrere an Treffen mit PNG-Vertreter*innen Beteiligte erkrankten an Covid-19 (unbestätigten Gerüchten zufolge auch Bougainvilles Präsident Ishmael Toroama), der ABG-Gesundheitsminister starb am Virus.
Unter diesen Umständen mussten die für März geplanten Konsultationen abgesagt werden. Sie wurden am 18. und 19. Mai nachgeholt. Im Wesentlichen wurde in dieser ersten Runde lediglich ein Aufgabenkatalog verabredet, unter anderem Beratungen über Definition und Prozess der Ratifizierung des Referendumsergebnisses oder die Erarbeitung eines Fahrplans für die Post-Referendum-Konsultationen.
Am 6. Juli folgte eine zweite Konsultationsrunde. Man einigte sich darauf, die Konsultationen zwischen »frühestens 2025 und spätestens 2027« zum Abschluss zu bringen; in einem Anhang zum Gemeinsamen Communiqué wurden einige Meilensteine für den Prozess festgelegt: die Erarbeitung einer Verfassung für Bougainville, notwendige Änderungen der Verfassung PNGs und die Vorbereitung eines PNG-Bougainville-Vertrags. Was bis frühestens 2025 und spätestens 2027 erreicht werden soll, bleibt allerdings offen: Unabhängigkeit – so die Bougainville-Seite; eine »endgültige politische Regelung« – so die PNG-Seite.
Keine Einigung in Sicht
Die Verhandlungspositionen sowie Interpretationen der Ergebnisse der Konsultationen liegen weiterhin weit auseinander. Bougainvilles Präsident Toroama – während des Sezessionskriegs Oberkommandierender der Bougainville Revolutionary Army und konsequenter Unabhängigkeitsverfechter – pocht darauf, das demokratische Votum umzusetzen. Gleichzeitig bemüht er sich, der PNG-Seite goldene Brücken zu bauen. Er betont, dass PNG nichts zu fürchten habe von Bougainvilles Unabhängigkeit, Bougainville werde ein »melanesischer Bruder« PNGs bleiben, es gehe lediglich um eine »Neudefinition der politischen Beziehungen«.
Alle Wahlkreise Bougainvilles sollen Aktivitäten entfalten, um sich auf die Unabhängigkeit vorzubereiten.
Toroama ist sich bewusst, unter welchem Druck PNGs Ministerpräsident James Marape innenpolitisch steht. Ein großer Teil der politischen Elite PNGs will Bougainville nicht gehen lassen. Bei den Konsultationen im Mai hat Marape das Dilemma für PNG sinngemäß so beschrieben: Bougainville will Unabhängigkeit, wir wollen sie nicht, müssen uns aber darauf einlassen, darüber zu reden. Gleichzeitig zieht er sich darauf zurück, dass das PNG-Parlament das letzte Wort haben wird.
Als die Presse in PNG nach den Juli-Konsultationen kolportierte, man habe sich auf Unabhängigkeit für Bougainville bis 2027 geeinigt (so auch die Interpretation der Bougainville-Seite), dementierte Marape kategorisch: Von Unabhängigkeit sei im Gemeinsamen Communiqué nicht die Rede (das ist korrekt, aber im Anhang wird sehr wohl das Wort Unabhängigkeit benutzt), und 2027 sei bloß ein vorläufiger Termin. Marape sagt klar: »Meine Verantwortung ist es, die Einheit des Landes zu bewahren«. In PNG stehen im nächsten Jahr Wahlen an, und Marape will sich in der Bougainvillle-Frage keine Blöße geben. Als neue Verzögerungstaktik fordert die PNG-Seite nunmehr, dass es überall in PNG Konsultationen über das Referendumsergebnis geben müsse. Es ist offensichtlich, dass nach dem Willen der PNG-Regierung vor den Wahlen 2022 nichts mehr passieren soll.
Während die politischen Verhandlungen stocken, mobilisiert das ABG die eigene Bevölkerung in einer »Independence-Ready«-Kampagne. Alle Wahlkreise Bougainvilles sollen Aktivitäten entfalten, um sich – wie Toroama es formuliert – »wirtschaftlich, sozial, politisch und spirituell bereit zu machen für die Unabhängigkeit (…) Ihr habt für die Unabhängigkeit gestimmt, jetzt ist es an der Zeit, dass ihr zeigt, dass ihr dazu fähig seid«. Mit der Kampagne wird die Basis mobilisiert, die Menschen können selber aktiv werden und sehen, dass sich etwas bewegt (auch wenn sich auf der politischen Ebene kaum etwas bewegt), und es kann der Druck auf PNG verstärkt werden.
Diese Mobilisierung ist die zweite Säule im Drei-Säulen-Konzept des ABG für die Unabhängigkeit. Die erste Säule sind die Verhandlungen mit der PNG-Seite, und die dritte Säule ist die Organisierung internationaler Unterstützung. Diese Säule ist bisher wenig entwickelt, soll nun aber ausgebaut werden. Es bleibt abzuwarten, wie die »internationale Gemeinschaft«, die Hohepriester der Demokratie und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, sich verhalten werden. Immerhin kann sich Bougainville auf ein demokratisches Votum von 97,8 Prozent berufen.