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Schutzkleidung aus Müllsäcken

Das Vereinigte Königreich liegt bei den Corona-Toten in Europa weit vorn – Grund dafür ist nicht allein das erratische Handeln der Regierung

Von Irene Schrieder

Viel Dank, aber viel wenig Schutzausrüstung gibt es für Pflegekräfte im UK. Foto: Richard Sutcliffe / Thank you NHS and key workers, CC BY-SA 2.0

Am 31. Dezember 2019 geht bei der World Health Organization eine Mail des Center for Disease Control Taiwan ein: Medienberichten zufolge seien in Wuhan Menschen an einer neuartigen Lungenentzündung erkrankt und würden auf der Isolierstation behandelt ob man mehr darüber wisse?

Bis Ende August 2020 infiziert Sars-CoV2, wie die WHO das neue Virus tauft, 25 Millionen Menschen, 850.000 sterben unter der neuen Krankheit, Covid-19. Zu den Spitzenreitern gehört das Vereinigte Königreich. Die offizielle Zahl von 41.589 Covid-Toten bis Ende August ist die höchste in Europa, erfasst jedoch nur diejenigen, die innerhalb von 28 Tagen nach einem positiven Testergebnis gestorben sind.

So fehlen mangels Testung Fälle wie der von Kayla Williams aus Süd-London, 36 Jahre, Frisörin, Mutter dreier Kinder und Immigrantin aus Jamaika. Als ihr Mann, Arbeiter bei der Londoner Müllabfuhr, eines Abends Ende März den Notarzt rief, weil seine Frau keine Luft mehr bekam, hohes Fieber, Husten sowie Leibschmerzen hatte und erbrach, erzählte man ihm, Kayla würde man im Krankenhaus nicht nehmen, sie sei »keine Priorität«. Am nächsten Morgen war sie tot. Das Beerdigungsunternehmen kam im Hazmat-Anzug, auf dem Totenschein steht »Covid-19?«

Realistischere Zahlen liefert das Office for National Statistics (ONS), das wöchentlich die Anzahl der Gestorbenen registriert, inklusive dem, was auf dem Totenschein steht. Demnach sind allein in England bis Mitte August 53.373 Menschen mehr als sonst üblich gestorben, davon fast 50.000 mit dem Verdacht auf Covid-19 laut Totenschein. In einer Vergleichsanalyse von 21 europäischen Staaten kommt das ONS zu dem Schluss: »England hat die höchste Übersterblichkeit verglichen mit allen anderen Nationen.« UK-weit starben laut der Wohltätigkeitsorganisation The Health Foundation zwischen 7. März und 5. Juni 64.500 Menschen mehr als normal, eine um 43 Prozent erhöhte Sterberate.

Herdenimmunität

Konfrontiert mit einer sich schnell ausbreitenden Seuche, wählten die meisten Regierungen die eine oder andere Version eines Shutdown, um die Ansteckungsrate zu mindern. Nicht so das UK. Anfang März erklärte Boris Johnson in einem Fernsehinterview, dass manche Experten empfehlen würden, Covid-19 einfach hinzunehmen und sich durch die Bevölkerung ausbreiten zu lassen. Am 13. März, fünf Tage nachdem in Italien die Lombardei den Shutdown ausgerufen hatte, erläuterte im Vereinigten Königreich Sir Patrick Vallance, Chief Scientific Advisor der britischen Regierung, dass 60 Prozent der Bevölkerung sich infizieren müssten, damit eine »Herdenimmunität« entstehe. Nur die besonders Gefährdeten, wie Alte und Kranke, sollten sich vorsichtshalber so lange vom öffentlichen Leben fernhalten bis diese Herdenimmunität auch sie schütze.

So kam es, dass, während Europa nach und nach dem italienischen Vorbild folgte und Wirtschaft und öffentliches Leben in den weitgehenden Ruhezustand versetzte, im UK ungehindert Großveranstaltungen stattfanden. Das Pferderennen in Cheltenham mit 250.000 Zuschauern, Fußball- und Rugbytourniere; die Rockgruppe Stereophonics machte ihre Tour durch das Land und musizierte vor dicht gepacktem Publikum, das begeistert mitsang – unter anderem im Londoner O2, in der Manchester Arena, im schottischen Glasgow und im walisischen Cardiff. Vergegenwärtigt man, dass Covid-19 sich unter anderem in Superspreading Events ausbreitet – in Vermont, USA, infizierte ein einziger unauffälliger Träger 52 von 61 Sänger*innen bei einer Chorprobe – mag man ermessen, was bei 21.000 dicht gedrängten, mitsingenden Zuschauer*innen in einer Konzerthalle geschieht.

Dann, am 16. März, veröffentlichten Neil Furgeson – Epidemiologe am Imperial College London – und sein Team die Resultate ihrer Modellrechnungen: Ohne massive Maßnahmen sozialer Distanzierung sei mit 250.000 Toten im UK zu rechnen. Damit kam die Kehrtwende: Am 17. März appellierte die Regierung Johnson an die Bevölkerung, freiwillig social distancing zu praktizieren. Eine Woche später wurde der Shutdown obligatorisch. Doch war da bereits ein weiterer Infektionsweg des Virus im Entstehen, der gerade diejenigen traf, die eigentlich hätten geschützt werden sollen: die Alten und Kranken.

Das UK hat zusammen mit Schweden die geringste Zahl an Krankenhausbetten pro Bevölkerung in Europa und eine der geringsten Zahlen an Intensivpflegebetten weltweit. Um Platz für den erwarteten Ansturm an Patient*innen zu schaffen, wurden die Krankenhäuser verpflichtet, Menschen, die in Altenheimen gepflegt werden könnten, zu entlassen – Heime wurden unter Androhung von Mittelkürzungen verpflichtet, diese Personen aufzunehmen. So wurden zwischen dem 17. März und dem 15. April 25.000 Senior*innen aus Krankenhäusern in Heime entlassen; aus Mangel an Testkapazitäten ohne sie auf Covid-19 zu testen.

Stattdessen veröffentlichte die Regierung Handreichungen, wie Heime mit nicht lebensbedrohlichen Verläufen der Krankheit umgehen und die Kranken versorgen könnten. Dazu wurde die Bedrohlichkeit des Virus legal herabgestuft das bedeutete, dass das Personal in Krankenhäusern und Heimen keinen Anspruch auf Schutzkleidung gemäß WHO-Standards hatte.

Denn zehn Jahre konservativ-neoliberaler Sparmaßnahmen haben dafür gesorgt, dass die Lagerbestände an Schutzkleidung für den Fall einer Pandemie komplett unzureichend waren. Manches gab es überhaupt nicht – zum Beispiel adäquate Kittel und Schutzbrillen. Von anderem, wie virensicheren Respiratoren, gab es zu wenig, und von dem, was es gab, war das Verfallsdatum seit langem überschritten – teilweise schon seit 2009. Durch die Medien gingen Bilder von Pfleger*innen, die sich Schutzkleidung aus Müllsäcken gebastelt hatten und sich mit gespendeten Brillen aus Kinder-Chemiekästen behalfen.

Gut zwei Drittel der Todesopfer unter den Pflegekräften gehören Minderheiten an. Unter den toten Ärzt*innen ist die Quote fast 100 Prozent.

Der Mangel an Schutzkleidung hatte unter anderem zur Folge, dass Covid über das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altenheimen verbreitet wurde. Dieser Effekt wurde verschärft durch den Einsatz an Zeitarbeiter*innen, die in mehreren Institutionen arbeiteten und so das Virus zwischen den Heimen und Krankenhäusern hin und her trugen. Zudem gingen manche trotz Symptomen zur Arbeit, da sie mangels hinreichender sozialer Sicherungen auf das Einkommen angewiesen sind. Hinzu kam bei alten Menschen, dass viele Behandlungen suspendiert wurden, weil die Krankenhäuser sich auf Covid-19 konzentrierten und angehalten wurden, nicht lebensnotwendige Diagnose- und Behandlungsmaßnahmen hintanzustellen.

Laut ONS sind 2020 bis Mitte Juni fast 30.000 Bewohner*innen von Altenheimen mehr gestorben als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, eine Erhöhung um 46 Prozent, davon etwa ein Drittel mit Covid-19 auf dem Totenschein.

Unfreiwillige Held*innen

Der krasse Mangel an Schutzkleidung brachte es auch mit sich, dass das UK weltweit mit die höchste Rate an Todesfällen von medizinischem und Pflegepersonal hat. Eine internationale Studie von Amnesty International berichtet, dass bis Ende Juni in England und Wales 268 Arbeiter*innen in der Pflege und 272 im medizinischen Sektor an Covid-19 gestorben waren.

Dabei zeigte sich auch der Rassismus im britischen Arbeitsleben: Gut zwei Drittel der Opfer unter den Pflegekräften gehören BAME-Minderheiten an, das offizielle Akronym für »Black, Asian and Minority Ethnic Communities«. Unter den toten Ärzt*innen ist die Quote fast 100 Prozent. In einer Reportage des Nachrichtensenders ITV prangern die Interviewten die »systematische Diskriminierung« bei der Arbeit an und klagen, dass es vor allem BAME-Angehörige sind, denen die riskanten Jobs zugeteilt werden. Besonders Migrant*innen haben Angst, ihren Job und damit gegebenenfalls auch ihre Aufenthaltsberechtigung zu verlieren.

Statt mit lebensrettender Ausrüstung versorgt zu werden, wurden »our heroes from the NHS«, die »frontline workers«, über mehrere Wochen jeden Donnerstagabend mit dem Schlagen von Töpfen und Pfannen vor den Haustüren geehrt, am 28. April wurde zudem eine Schweigeminute für sie eingelegt. In der Recherche-Sendung Panorama kommentierte ein Intensivstations-Pfleger bitter: »Uns Helden zu nennen macht es OK, wenn wir sterben.«

In seinem Aufsatz »Coronavirus, Crisis and the end of neoliberalism« verweist Alfredo Saad-Filho, Professor für Politische Ökonomie und Internationale Entwicklung am Londoner King’s College, darauf, wie ungleich besser sich Taiwan, Vietnam oder Südkorea in der Corona-Krise bewährt haben als die meisten Staaten des Westens. »Die Gesundheitskrise und der ökonomische Zusammenbruch im Westen, verglichen mit dem viel effizienteren Respons im Fernen Osten, haben gezeigt, dass radikal neoliberale Systeme unfähig sind, die elementarste Funktion staatlicher Organisation auszuführen: Leben zu schützen und Existenzgrundlagen zu sichern.« Der neoliberale Kapitalismus, so Saad-Filho, sei als unmenschlich und kriminell entlarvt worden. »Covid-19 hat gezeigt, dass es keine Gesundheitspolitik geben kann ohne Solidarität, eine industrielle Politik und staatliche Leistungsfähigkeit. Die Linke wird gebraucht wie nie zuvor.«

Irene Schrieder

Irene Schrieder schreibt in ak über britische Politik und Gesellschaft und über den Brexit.