Digitaler Kolonialismus
Ohne Gegenbewegung wird die Dominanz von Big Tech zur Gefahr für den Globalen Süden
Von Michael Kwet
Im Jahr 2020 sahnten Milliardäre ordentlich ab. Das Vermögen von Jeff Bezos stieg von 113 auf 184 Milliarden US-Dollar. Elon Musk stellte Bezos kurzzeitig in den Schatten und steigerte sein Vermögen von 27 Milliarden Dollar auf über 185 Milliarden Dollar. Für die Bourgeoisie, die den »Big Tech«-Konzernen vorsteht, ist das Leben großartig. Während die Dominanz dieser Konzerne auf ihren heimischen Märkten Gegenstand zahlreicher kritischer Analysen ist, bleibt ihre globale Reichweite unterbelichtet. Nicht nur ist Big Tech global aktiv – die US-dominierte Branche agiert auf ausländischen Märkten auch kolonialistisch. Dieser »digitale Kolonialismus« droht zu einer bedeutenden und weitreichenden Bedrohung für den Globalen Süden zu werden, wie es schon der klassische Kolonialismus in früheren Jahrhunderten war. Stark zunehmende Ungleichheit, die Zunahme öffentlicher und privater Überwachung und hochentwickelte Polizei- und Militärtechnologien sind nur einige der Folgen dieser neuen Machtkonstellation. Ohne eine starke Gegenbewegung könnte sich die Situation für die Menschen im Globalen Süden weiter verschlechtern.
Mit dem Begriff des digitalen Kolonialismus ist die Nutzung digitaler Technologien zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorherrschaft über andere Nationen oder Gebiete gemeint. Im klassischen Kolonialismus eroberten und besiedelten die Europäer fremdes Land, errichteten Infrastrukturen wie militärische Festungen, Seehäfen und Eisenbahnen, setzten Kanonenboote zur wirtschaftlichen Durchdringung und militärischen Eroberung ein, bauten schwere Maschinen und beuteten Arbeitskräfte zur Gewinnung von Rohstoffen aus, setzten die Polizei ein, um die Arbeiter*innen zu kontrollieren, schöpften indigenes Wissen für Herstellungsprozesse ab, schifften Rohstoffe zurück in die Metropolen für die Produktion von Industriegütern, untergruben die funktionierenden Märkte des Globalen Südens mit billigen Industriegütern, verfestigten die Abhängigkeit und Ungleichheit der Länder im Globalen Süden in einer globalen Arbeitsteilung, bauten ihre ökonomische, diplomatische und militärische Vorherrschaft aus. Mit anderen Worten: Der klassische Kolonialismus hing ab von Besitz und Kontrolle von Territorium und Infrastruktur, der Extraktion von Arbeitskräften, Wissen und Waren und der Ausübung von Staatsmacht.
Beim digitalen Kolonialismus geht es um die Verfestigung einer ungleichen Arbeitsteilung, bei der die dominanten Mächte die sich in ihrem Eigentum befindliche digitale Infrastruktur, Wissen und ihre Kontrolle über die Rechenmittel nutzen, um den Süden in einer Situation permanenter Abhängigkeit zu halten.
Daten und Profit: von der Schule bis zur Arbeit
Der Code, der einst frei und weithin von Programmierer*innen geteilt wurde, wurde zunehmend privatisiert und dem Urheberrecht unterworfen. In den 1970er und 1980er Jahren begann der US-Kongress, die Software-Urheberrechte zu stärken. Als Gegentrend dazu entstanden »Freie und Open-Source-Software« (FOSS)-Lizenzen, die den Nutzer*innen das Recht einräumten, Software zu verwenden, zu studieren, zu modifizieren und weiterzugeben. Das brachte auch den Ländern des Globalen Südens Vorteile, da ein »digitales Gemeingut« entstand, das frei war von der Kontrolle von Unternehmen und dem Streben nach Profit. Doch als sich die Freie-Software-Bewegung im Süden ausbreitete, löste sie eine Gegenreaktion der Unternehmen aus. Microsoft kritisierte Peru, als dessen Regierung versuchte, von Microsofts proprietärer Software wegzukommen. Das Unternehmen versuchte auch, afrikanische Regierungen daran zu hindern, das FOSS-Betriebssystem Linux in Ministerien und Schulen einzusetzen.
Gleichzeitig entstand eine rasante Zentralisierung des Internets in den Händen von Mittlerdiensten wie Facebook und Google. Die Verlagerung der Daten auf Cloud-Dienste machte die Freiheiten, die FOSS-Lizenzen den Nutzer*innen gewährt hatten, zunichte, weil diese nun auf den Computern der Big-Tech-Konzerne lagerten. Unternehmens-Clouds enteigneten die Menschen der Fähigkeit, ihre Computer zu kontrollieren. Heute liefern Cloud-Dienste Petabytes an Informationen an Konzerne, die diese Daten zum Trainieren ihrer künstlichen Intelligenzsysteme (KI) verwenden. KI nutzt Big Data, um zu »lernen« – sie benötigt Millionen von Bildern, um zum Beispiel den Buchstaben A in seinen verschiedenen Schriftarten und Formen zu erkennen. Für die Menschen bedeutet das, dass sensible Daten zu einer extrem wertvollen Ressource geworden sind, die Tech-Giganten unaufhörlich versuchen zu extrahieren.
»Rückkopplungseffekte« von Big Data verschlimmern die Situation: Wer mehr und qualitativ bessere Daten hat, kann die besten KI-Dienste bereitstellen, was mehr Nutzer*innen anlockt, die ihnen noch mehr Daten liefern, um den Dienst zu verbessern. Entsprechend dem klassischen Kolonialismus sind Daten Rohstoffe für die imperialistischen Mächte, die die Daten verarbeiten und die Dienste wieder für die globale Öffentlichkeit bereitstellen – was wiederum ihre Herrschaft weiter stärkt und alle anderen in eine untergeordnete Situation der Abhängigkeit bringt.
Cecilia Rikap illustriert in ihrem Buch »Capitalism, Power and Innovation: Intellectual Monopoly Capitalism Uncovered«, wie US-Tech-Giganten ihre Marktmacht auf ihre intellektuellen Monopole stützen und eine komplexe Warenkette untergeordneter Firmen beherrschen, um Profite zu extrahieren und Arbeitskräfte auszubeuten. Das hat ihnen die Fähigkeit gegeben, das »Know-who« und »Know-how« zu akkumulieren, um globale Wertschöpfungsketten zu planen und zu organisieren und Wissen zu privatisieren. So schöpft Apple Profite aus Forschungswissen und dem Branding für seine Smartphones und koordiniert die Produktion entlang der Produktionskette. Die Produzent*innen auf der unteren Ebene, seien es Hersteller von Mobiltelefonen beim taiwanesischen Unternehmen Foxconn, Chiphersteller, die Prozessoren liefern, oder die Menschen im Kongo, die die Mineralien für die Batterien abbauen – sie alle sind den Anforderungen und »Launen« von Apple untergeordnet.
Ein anderes Beispiel dafür, wie sich die digitale Kolonisierung auswirkt, ist der Bildungssektor. In Südafrika hat Microsoft eine Armee von Ausbilder*innen vor Ort, die Lehrer*innen darin schulen, wie man Microsoft-Software im Bildungssystem einsetzt. Außerdem stattete die Firma Universitäten mit Windows-Tablets und Microsoft-Software aus. Während Microsoft der Top-Lieferant ist, mit Verträgen in mindestens fünf der neun Provinzen in Südafrika, strebt auch Google nach Marktanteilen. Die Michael and Susan Dell Foundation hat sich ebenfalls dem Rennen angeschlossen und bietet den Provinzregierungen eine Data-Driven-District (DDD)- Plattform an. Die DDD-Software wurde entwickelt, um Daten zu sammeln, die Lehrer*innen und Schüler*innen überwacht, einschließlich Noten, Anwesenheit und »soziale Probleme«. Microsoft trat an das südafrikanische Bildungsministerium mit dem Vorschlag heran, Daten »für den Lebenszyklus des Nutzers« zu sammeln, beginnend mit der Schule und, für diejenigen, die ihre Microsoft-Office-Konten behalten, bis ins Erwachsenenalter – damit die Regierung Langzeitanalysen durchführen kann, beispielsweise über den Zusammenhang zwischen Bildung und Beschäftigung.
Welchen besseren Weg gibt es, um Marktanteile zu erobern, als Big-Tech-Software auf Geräte vorzuladen, die Kindern angeboten werden, die vielleicht kaum einen anderen Zugang zu Technik haben?
Schulen sind großartige Orte für Big Tech, um ihre Kontrolle über digitale Märkte auszuweiten. Welchen besseren Weg gibt es, um Marktanteile zu erobern, als Big-Tech-Software auf Geräte vorzuladen, die Kindern angeboten werden, die vielleicht kaum einen anderen Zugang zu Technik haben? Für die Unternehmen hat es den zusätzlichen Vorteil, dass sie zukünftige Softwareentwickler*innen trainieren, die Jahre damit verbringen, deren Software zu benutzen und sich an deren Oberflächen und Funktionen gewöhnt haben.
Der digitale Kolonialismus zeigt sich auch in der Art und Weise, wie die Länder des Globalen Südens massiv für manuelle Arbeiten ausgebeutet werden, um die entscheidenden Inputs für digitale Technologien zu liefern. Es ist schon lange bekannt, dass die Demokratische Republik Kongo mehr als 70 Prozent des weltweiten Kobalts liefert, ein wichtiges Mineral für Batterien, die in Autos, Smartphones und Computern verwendet werden. 14 Familien in der Demokratischen Republik verklagen derzeit Apple, Tesla, Alphabet, Dell und Microsoft und beschuldigen sie, von Kinderarbeit im Kobaltabbau zu profitieren. Der Prozess des Abbaus von Mineralien hat oft negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter*innen und ihre Umwelt.
Was Lithium betrifft, so befinden sich die größten Reserven in Chile, Argentinien, Bolivien und Australien. Die Löhne der Arbeiter*innen in allen südamerikanischen Ländern sind im Vergleich zu den Standards der reichen Länder niedrig, vor allem wenn man die Arbeitsbedingungen bedenkt, die sie ertragen müssen. Während die Verfügbarkeit von Daten variiert, verdienen Minenarbeiter*innen in Chile zwischen 1.430 und 3.000 US-Dollar im Monat, während in Argentinien die Monatslöhne zwischen 300 und 1.800 Dollar liegen können. Im Jahr 2016 lag der monatliche Mindestlohn für Bergarbeiter*innen in Bolivien bei 250 Dollar. Im Gegensatz dazu verdienen australische Bergleute rund 9.000 Dollar pro Monat.
Der Globale Süden als Testfeld
Die Länder des Globalen Südens bieten auch billige Arbeitskräfte für Tech-Giganten. Dazu gehören die Aufbereitung von Datensätzen für die KI, Callcenter-Arbeiter*innen und Content-Moderator*innen für Social-Media-Giganten wie Facebook. Content-Moderator*innen bereinigen Social-Media-Feeds von verstörenden Inhalten, die unter anderem (sexualisierte) Gewalt zeigen, was ihnen psychisch oft schwer zusetzt. Dennoch verdienen Content-Moderator*innen in Indien gerade einmal 3.500 Dollar im Jahr.
Die wirtschaftliche Macht der US-Tech-Giganten geht Hand in Hand mit ihrem Einfluss in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre. Wie in anderen Branchen geben sich Tech-Führungskräfte und US-Regierung die Türklinke in die Hand. Tech-Konzerne und Unternehmensallianzen geben viel Geld für Lobbyarbeit bei den Regulierungsbehörden aus, um eine Politik zu erreichen, die ihre spezifischen Interessen – und die des digitalen Kapitalismus im Allgemeinen – fördert.
Regierungen und Strafverfolgungsbehörden wiederum gehen Partnerschaften mit Tech-Giganten ein, die ihre schmutzige Arbeit erledigen. Edward Snowden enthüllte 2013 bekanntlich, dass Microsoft, Yahoo, Google, Facebook, YouTube, Skype, AOL und Apple über das PRISM-Programm Informationen mit dem Geheimdienst National Security Agency (NSA) austauschten. Weitere Enthüllungen folgten, und die Welt lernte, dass Daten, die von Unternehmen gespeichert und über das Internet übertragen werden, in riesige Regierungsdatenbanken gesaugt werden. Auch Länder des Globalen Südens waren Ziel der NSA-Überwachung, vom Nahen Osten über Afrika bis nach Lateinamerika.
Polizei und Militär arbeiten ebenfalls mit Tech-Konzernen zusammen, die als Anbieter von Überwachungsprodukten und -dienstleistungen erhebliche Profite machen, auch in Ländern des Globalen Südens. Zum Beispiel hat Microsoft über seine wenig bekannte Abteilung für öffentliche Sicherheit und Justiz ein umfangreiches Partnerschafts-Ökosystem mit »Strafverfolgungs«-Anbietern aufgebaut, die ihre Technologie auf der Microsoft-Cloud-Infrastruktur betreiben. Dazu gehört eine stadtweite Überwachungsplattform namens »Microsoft Aware«, die von der Polizei in Brasilien und Singapur gekauft wurde, sowie Anwendungen für Polizeifahrzeuge mit Gesichtserkennungskameras, die in Südafrika eingeführt wurden.
Microsoft bietet eine Reihe von Lösungen für den Strafvollzug an, die die gesamte Pipeline abdecken.
Microsoft ist auch stark in der Gefängnisbranche aktiv. Die Firma bietet eine Reihe von Softwarelösungen für den Strafvollzug an, die die gesamte Strafvollzugspipeline abdecken, von jugendlichen »Straftäter*innen« über Untersuchungshaft und Bewährung bis hin zum Gefängnis und den aus dem Gefängnis Entlassenen. In Afrika ging Microsoft eine Partnerschaft mit einem Unternehmen namens Netopia Solutions ein, das eine Plattform für Gefängnismanagement-Software anbietet, die auch »Fluchtmanagement« und Häftlingsanalysen umfasst. Zwar ist unklar, wo genau Netopias Gefängnisverwaltungsanwendung eingesetzt wird – Microsoft erklärte aber: »Netopia ist (ein Microsoft-Partner) in Marokko mit einem starken Fokus auf die digitale Transformation von Regierungsdiensten in Nord- und Zentralafrika«. Marokko ist dafür bekannt, Dissident*innen zu malträtieren und Gefangene zu foltern.
Über Jahrhunderte hinweg testeten imperiale Mächte Technologien zur Überwachung und Kontrolle ihrer Bürger*innen zuerst in ihren Kolonien, von Sir Francis Galtons Arbeit zur Erfassung von Fingerabdrücken, die in Indien und Südafrika angewandt wurde, bis hin zu Amerikas Kombination aus Biometrie, Statistik und Datenmanagement, die auf den Philippinen erstmals zum Einsatz kam. Wie der Historiker Alfred McCoy gezeigt hat, war die Sammlung von Überwachungstechnologien, die auf den Philippinen zum Einsatz kam, ein Testlauf für ein Modell, das schließlich in die Vereinigten Staaten zurückgebracht wurde, um es gegen Dissident*innen im eigenen Land einzusetzen. Die Hightech-Überwachungsprojekte von Microsoft und seinen Partnern legen nahe, dass Afrika heute als Labor für den Strafvollzug dient.
Big Tech zurückdrängen
Anstatt Wissen zu teilen, Technologie zu transferieren und die Bausteine für einen gemeinsamen globalen Wohlstand zu gleichen Bedingungen bereitzustellen, versuchen die reichen Länder und ihre Konzerne, ihren Vorteil zu schützen und den Globalen Süden für billige Arbeitskräfte und Profitextraktion zu nutzen. Indem sie die Kernkomponenten des digitalen Ökosystems monopolisieren, ihre Technologie in Schulen und Ausbildungsprogrammen durchsetzen und Partnerschaften mit Unternehmens- und Staatseliten im Globalen Süden eingehen, erobern Big-Tech-Unternehmen die aufstrebenden Märkte. Sie profitieren sogar von Überwachungsdiensten, die sie Polizeidienststellen und Gefängnissen zur Verfügung stellen.
Doch es gibt es immer auch diejenigen, die sich gegen diese geballte Macht wehren. Der Widerstand gegen Big Tech im Globalen Süden hat eine lange Geschichte, die bis zu den Tagen der internationalen Proteste gegen IBM, Hewlett Packard und andere, die mit dem Apartheidregime in Südafrika Geschäfte machten, zurückreicht. In den frühen 2000er Jahren begrüßten die Länder des Globalen Südens Freie Software und die Global Commons als Mittel, um sich dem digitalen Kolonialismus für eine Weile zu widersetzen – auch wenn viele dieser Initiativen inzwischen verblasst sind. In den letzten Jahren sind neue Bewegungen gegen den digitalen Kolonialismus entstanden.
Doch es geht um noch mehr: Eine durch den Kapitalismus verursachte ökologische Krise droht das Leben auf der Erde schnell und dauerhaft zu zerstören. Lösungen für die digitale Wirtschaft müssen sich mit Umweltgerechtigkeit und breiteren Kämpfen für Gleichheit verbinden. Um den digitalen Kolonialismus zu überwinden, brauchen wir einen anderen konzeptionellen Rahmen, der die Ursachen und Hauptakteur*innen infrage stellt. Und es braucht Basisbewegungen, die bereit sind, sich dem Kapitalismus und dem Autoritarismus, dem amerikanischen Imperium und seinen intellektuellen Unterstützer*innen entgegenzustellen.
Die längere Originalfassung dieses Beitrags erschien im März 2021 zuerst bei ROAR Magazine unter dem Titel »Digital colonialism: the evolution of American empire«.
Übersetzung und Kürzung: Paul Dziedzic