Erhitzt und verdichtet
Der Klimabruch verlangt den gesellschaftlichen Bruch
Von Christian Zeller
Die aktuellen Überschwemmungen und Brände, die Verwüstungen und der Tod vieler Menschen in ganz unterschiedlichen Regionen der Welt machen abstrakte Befürchtungen zur erlebten Erfahrung. Diese Ereignisse kommen nicht überraschend. Sie bestätigen, wovor die Klimaforscher*innen seit vielen Jahrzehnten warnen. Wetterextreme sind die neue Normalität.
Die abrupten Brüche im Klima- und Erdsystem machen alle politischen Vorstellungen einer schrittweisen sozial-ökologischen Transformation zur Illusion. Der Herausforderung angemessen und realistisch ist nur noch eine Strategie des revolutionären Bruchs, die allerdings erst in unscharfen Umrissen erkennbar ist.
Der kürzlich publizierte Bericht des Weltklimarates (IPCC) zur sich rasch beschleunigenden Erderhitzung ist nüchtern und technisch abgefasst. Aber noch kein anderer Bericht des IPCC hat die Befürchtungen vor den Konsequenzen der unausweichlichen physikalischen Naturgesetze derart klar zum Ausdruck gebracht. Die brutale und ernüchternde Erkenntnis: Das Ziel der Pariser Klimakonferenz von 2015, die Erderhitzung auf 1,5° C zu begrenzen, lässt sich nicht mehr erreichen. Sogar, wenn sich die Regierungen an der Klimakonferenz im kommenden November in Glasgow auf eine schnelle und umfassende Reduktion der Treibhausgasemissionen einigen würden – was als ausgeschlossen gilt – befände sich die Welt weiterhin auf einem katastrophalen Pfad. Sogar in diesem Szenario würde sich das Erdsystem schon in wenigen Jahrzehnten so stark und abrupt verändern, dass allen bisherigen Vorstellungen über eine sozial-ökologische Transformation die Grundlagen entzogen würden.
Das Ziel der Pariser Klimakonferenz, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen, lässt sich nicht mehr erreichen.
Die anderen und wesentlich wahrscheinlicheren Szenarien werden zum Überschreiten von Kipppunkten führen. Das wird eine verhängnisvolle Eigendynamik auslösen, die Erderhitzung zusätzlich antreiben und aus der Erde einen heißen Planeten machen, der für die menschlichen Gesellschaften und für viele weitere Arten nur noch eingeschränkt bewohnbar ist.
Die kapitalistische Produktionsweise pflegt seit über 200 Jahren einen gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur, der das Erdsystem so stark verändert hat, dass die Erde spätestens seit der großen Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg in eine neue erdgeschichtliche Epoche, das Anthropozän, geraten ist. Die stabile Phase des Holozäns, die nach der letzten Eiszeit einsetzte und rund 11.700 Jahre dauerte, ist vorbei. Doch genau die lebensfreundliche Klimakonfiguration des Holozäns ermöglichte erst die Entwicklung der menschlichen Zivilisation wie wir sie kennen. Mit dem Anthropozän-Kapitalismus treten wir in eine Phase voller Ungewissheiten und Instabilitäten. Die Dynamiken des Erdsystems mit seinen Kipppunkten werden den Gesellschaften abrupte Veränderungen aufzwingen. Pandemien sowie gesellschaftliche Katastrophen durch Dürren, Überschwemmungen und Hitzeperioden sind der Normalzustand. Sie werden den Kampf zwischen den Klassen prägen.
Der erhitzte Planet lässt viele althergebrachte und vertraute Lebensumstände abrupt abbrechen. Das erleben wir in Zeiten der Pandemie. Das erfahren die Menschen, deren Häuser weggeschwemmt oder verbrannt werden. Darunter leiden die Menschen, die ihre Städte wegen unerträglicher Hitze verlassen müssen. Es gibt weder Sicherheiten noch Gewissheiten mehr.
Die vergangenen Jahrzehnte waren trotz Weltwirtschaftskrise relativ stabil. Die Rahmenbedingungen veränderten sich in den imperialistischen Ländern nur schrittweise. Nach dieser leeren Zeit gradueller Veränderungen sind wir in eine Phase der verdichteten Zeit plötzlicher Brüche eingetreten.
Die politischen Projekte sozialdemokratischer, grüner und linker Parteien sind in dieser verdichteten Zeit vollkommen wirkungslos.
Die uns vertrauten politischen Projekte sozialdemokratischer, grüner und linker Parteien sind in dieser verdichteten Zeit vollkommen wirkungslos, denn sie gehen immer noch von stabilen Verhältnissen aus. Sie sehnen sich regelrecht nach Stabilität und Sicherheit, allerdings nur in den imperialistischen Zentren der Weltökonomie. Diese Strategien tragen dazu bei, dass die sozialen und ökologischen Probleme größer werden und die Lasten auf die Menschen in den postkolonialen Ländern abgewälzt werden.
»Netto-Null« ist imperialistische Klimapolitik
Die umfassende ökologische Krise ist Ausdruck des Widerspruchs zwischen den planetaren Grenzen des Wachstums und der endlosen Akkumulationsdynamik des Kapitals. Seit das Finanzkapital ab den späten 1970er Jahren zunehmend das Kommando über die Prozesse der Kapitalakkumulation – also die Produktion und Bereitstellung von Infrastruktur sowie, durch die private Verschuldung, sogar über den Konsum – übernahm, schreiten die Ausbeutung der Arbeit und die Plünderung der Natur weltweit noch schrankenloser voran.
Als Antwort auf die Zerstörung der Natur gibt es vermehrt Bestrebungen, auch die Natur beziehungsweise sogenannte Dienstleistungen der Natur als Kapital zu betrachten. Diese erweiterte Stufe der Kolonisierung der Natur dient nicht dem Schutz von Ökosystemen, sondern schafft vielmehr eine neue Anlageklasse. Sie bietet dem Finanzkapital – organisiert in Banken, Fonds, Altersvorsorgekassen, großen Unternehmen aller Art und vermögenden Individuen – eine neue Möglichkeit, Erträge in Form von Zinsen und Renten zu erzielen.
Doch der Finanz-Fossil-Staats-Komplex tritt nicht ab. Zwar vereinbarten die Regierungen der frühindustrialisierten Staaten im Jahr 2009 bei einem Gipfeltreffen, Subventionen für fossile Energieträger zu beenden. Selbstverständlich legten sie aber kein Datum fest. Die Besitzer*innen des im fossilen Sektor investierten und platzierten Kapitals denken nicht daran, ihre Vermögenswerte abzuschreiben, ganz im Gegenteil. Die G20-Staaten haben im Zeitraum von 2015 bis 2019 die fossile Energie und Infrastruktur mit rund 3,3 Billionen US-Dollar (2,5 Billionen Euro) subventioniert. Zwar haben sie mehr als 360 Milliarden Euro in klimafreundliche Initiativen gesteckt, neben den Subventionen aber viermal so viel Geld in CO2-intensive Sektoren wie die Luftfahrtindustrie oder die Bauwirtschaft gepumpt. Die kapitalistischen Staaten sind unentwirrbar mit dem Finanzsektor und dem fossilen Sektor seit Jahrzehnten verwoben.
Die fossile Wirtschaft bleibt profitabel. Dementsprechend fließt weiterhin Kapital in diesen Sektor. Die Financial Times berichtete am 23. Juli, dass die steigende Stromnachfrage Kraftwerkskohle zur lukrativsten Anlageklasse gemacht hat. Da die Stromnachfrage weiter stark zunahm, stiegen auch die Preise für Kraftwerkskohle. Obwohl erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie rasant wachsen, halten sie mit der steigenden Nachfrage nach Strom und Energie nicht Schritt.
Die Zeit gradueller und kleinteiliger sozial-ökologischer Transformationsdebatten ist abgelaufen.
Es fehlen weltweit die materiellen Voraussetzungen, die bestehende Energienachfrage ohne fossilen Energieträger zu befriedigen. Es mangelt an den Rohstoffen hierzu. Die erneuerbaren Energien sind extrem ressourcenintensiv und der Aufbau der Infrastruktur für erneuerbare Energien wird weiterhin riesige Mengen fossiler Energie verschlingen. Um die Preise für die Rohstoffe so niedrig zu halten, dass die Preise der erneuerbaren Energien jene der fossilen Energieträger nicht überschreiten, läuft bereits ein imperialistischer Wettlauf um die Kontrolle und die Erschließung der Rohstofflagerstätten. Ein grüner Kapitalismus kann nur ein imperialistischer sein.
Das Budget der Treibhausgasemissionen ist in den imperialistischen Ländern, die historisch die Hauptverantwortung für die Treibhausgasemissionen tragen, aufgebraucht. Doch die Regierungen sprechen von »Netto-Null-Emissionen«. Dahinter verbirgt sich ein großes Ablenkungsmanöver, dem leider auch die Klimabewegung und linke Parteien teilweise erliegen, wenn sie den Begriff unhinterfragt übernehmen. Die »Netto-Null-Strategien« sind damit verbunden, dass riesige Landflächen in den abhängigen und armen Ländern angeeignet und genutzt werden, um Kohlenstoffemissionen aufzufangen, so dass die größten Emittenten in den imperialistischen Ländern eine deutliche Senkung ihrer eigenen Emissionen vermeiden können.
Derartige Kompensationsstrategien führen zu einer explosionsartigen Zunahme der Landnachfrage. Die industriellen Wälder und Anpflanzungen zur CO2-Bindung geraten in Konkurrenz zur Nahrungsmittelherstellung und verschlimmern somit den Hunger. Diese Entwicklung beruht auf einer massiven Steigerung ungleicher Verteilung von Land und damit der Verarmung und Vertreibung von Menschen in den betroffenen Ländern.
Die grün-kapitalistische Modernisierung verschärft die neokoloniale Ausplünderung und die innerimperialistische Rivalität. Diese Entwicklung eines imperialistischen »grünen« Kapitalismus gilt es zu stoppen. »Netto-Null« ist Bestandteil einer imperialistischen Klimapolitik. Die Klimabewegung sollte sich diesem Ablenkungsmanöver widersetzen.
Hypothese: revolutionäre Strategie
Die Zeit gradueller und kleinteiliger sozial-ökologischer Transformationsdebatten ist abgelaufen. Dafür gibt es keinen Spielraum mehr. Sozial-ökologische Reformbündnisse und Projekte für einen »linken Green New Deal« sind ökologisch ungenügend und ökonomisch widersinnig. In den imperialistischen Ländern fehlt ihnen jede materielle, ökonomische und politische Grundlage. Orientierungen, die auf eine sozial-ökologische Transformation des Kapitalismus setzen, werden in grauenvolle Niederlagen führen.
Um die Erderhitzung auf 1,5° C gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, sind in den imperialistischen Ländern einschließlich China die gesamten Produktionsapparate, die Transport- und Logistiksysteme sowie die gesellschaftliche Reproduktion komplett umzubauen. Allerdings werden über 80 Prozent des Weltenergiebedarfs durch fossile Energieträger gedeckt. Öl und Kohle fließen gewissermaßen wie Blut durch den gesellschaftlichen Organismus. Viele Produktionsbereiche, angefangen mit der Rüstungsindustrie und weiten Teilen der Automobilindustrie sind runterzufahren. Jene kleinen Teile der Automobilindustrie, die noch nützlich sind, wie beispielsweise die Busproduktion und die Herstellung gewerblicher und gemeinschaftlicher Autos, sind unter demokratischer Kontrolle mit dem Eisenbahnsektor zu einer nachhaltigen Mobilitätsindustrie zu verschmelzen. Der Finanzsektor ist auf das zu reduzieren, was für die Finanzierung des Umbaus und einer angemessenen gesellschaftlichen und industriellen Infrastruktur nötig ist. Der Finanz-Fossil-Staats-Komplex ist zu zerschlagen.
In dieser sich abrupt wendenden und verdichteten Zeit brauchen wir gesellschaftliche und politische Strategien, die den Wendungen und Brüchen entsprechen. Eine revolutionäre Perspektive des gesellschaftlichen Bruchs ist den Kipppunkten und Brüchen im Erdsystem angemessen.
Nehmen wir an, es würden Regierungen mit einem radikalen sozial-ökologischen Reformprogramm und gestützt auf umfassende gesellschaftliche Mobilisierungen gewählt. Diese Regierungen stünden vor der Herausforderung, sofort entscheidend in die Produktionsabläufe der Schlüsselindustrien einzugreifen und die Konzerne der demokratischen Kontrolle der Gesellschaft zu übergeben. Das wäre gewissermaßen bereits ein revolutionärer Akt – und etwas komplett anderes als eine SPD-Grüne-Linkspartei-Koalition.
Das beste Szenario des IPCC-Berichts
• Auch mit dem radikalsten, politisch aber ausgeschlossenen Szenario des IPCC einer sofortigen und umfassenden Reduktion der Treibhausgasemissionen befände sich die Welt auf einem katastrophalen Pfad.
• Die globale durchschnittliche Oberflächentemperatur wird zwischen 2041 und 2060 im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter wahrscheinlich um 1,6°C auf den Landflächen und in vielen Regionen jedoch deutlich stärker ansteigen.
• Die Gletscher in den Gebirgen, auf Grönland und in der Antarktis werden noch jahrzehntelang weiter schmelzen. Die zusätzliche Erwärmung wird den Permafrost weiter auftauen und damit noch mehr Methan freisetzen. Die Hitzewellen treten wesentlich häufiger auf. Eine nur geringe weitere Erwärmung wird die extremen Niederschlagsereignisse verstärken und ihre Häufigkeit erhöhen. Auch die tropischen Wirbelstürme werden intensiver und häufiger auftreten, ebenso Überschwemmungen und Dürren. Der Meeresspiegel wird sich weiter erhöhen. Sturmfluten und Überschwemmungen werden zunehmen. Viele Menschen in Küstengebieten werden ihre Heimat verlassen. Auch die großen Mega Cities an den Küsten sind gefährdet.
• Selbst bei diesem 1,6°C-Szenario sind abrupte Reaktionen und Kipppunkte nicht auszuschließen. Gemäß jüngsten Studien ist eine Abschwächung oder gar ein Zusammenbruch der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation und des Golfstroms möglich. Ein Zusammenbruch würde höchstwahrscheinlich zu plötzlichen Veränderungen des kontinentalen Klimas und des Wasserkreislaufs mit unermesslichen gesellschaftlichen Konsequenzen führen.
Folgt die Welt anderen und wesentlich wahrscheinlicheren Szenarien des IPCC-Berichts, wird das Erdsystem Kippunkte überschreiten und damit eine verhängnisvolle unkontrollierbare Eigendynamik mit weiteren Temperatursteigerungen und einer Kaskade gesellschaftlicher Katastrophen auslösen.
Welche Regierungskonstellationen sich auch immer ergeben, erforderlich und entscheidend ist eine Strategie, die auf den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht zielt. Vordringlich ist, dass die Klimabewegung, soziale Bewegungen und ökologisch bewusste und betrieblich kämpferische Gewerkschafter*innen sich gesellschaftlich verankern und Strukturen in Stadtteilen, an Bildungseinrichtungen und in den Betrieben aufbauen. Auf dieser Grundlage kann das Kräfteverhältnis so verändert werden, dass sich konkrete Umbaumaßnahmen durchsetzen lassen. Verallgemeinern sich derartige Prozesse und gewinnen die Organe der Gegenmacht umfassende gesellschaftliche Legitimität, können Situationen der Doppelmacht entstehen. Ob es dann den Kräften einer ökosozialistischen Umgestaltung gelingt sich durchzusetzen, hängt von ihrer Organisation und dem internationalen Kräfteverhältnis ab. Offensichtlich ist, dass ein ökosozialistischer Umbruch sich bei einer Zuspitzung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen umgehend internationalisieren muss, um Erfolg zu haben.
Wir brauchen jetzt eine Debatte über die Strategie zu einem umfassenden gesellschaftlichen Umbruch hin zu einer Gesellschaft, die gemeinsam entscheidet, mehr teilt und weniger produziert: eine ökosozialistische Gesellschaft. Drei unmittelbare Fragen zum Einstieg in die Diskussion:
Wie lässt sich eine derart breite transnationale soziale Bewegung organisieren, die wirklich die Kräfteverhältnisse substanziell verändert? Wie kann es gelingen, die große Masse der Lohnabhängigen und der Arbeitenden in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit für eine solche Perspektive zu gewinnen?
Sind die Gewerkschaften, die sich bislang mehr um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen als um die Gesundheit der Beschäftigten und die natürlichen Lebensgrundlagen kümmern, hierzu ein Hindernis, ein Instrument oder eine zu überwindende Hürde?
Wie kann es gelingen, die globale Verantwortung und beispielsweise die Solidarität mit kleinen Bäuer*innen und Landlosen in den in Abhängigkeit gehaltenen Ländern gegen den Landraub mit einer konkreten Strategie auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene in den imperialistischen Ländern zu verbinden?