Linke im Aufwind
In Belgien fährt die marxistische Partei der Arbeit seit Jahren Wahlerfolge ein – wie ist ihr das gelungen?
Der 31. Januar ist ein grauer Wintertag in der belgischen Hauptstadt Brüssel, der Wind pfeift durch die Häuserschluchten in der Nähe des Hauptbahnhofs. Gerade geht eine Streikdemonstration von Pflegekräften zu Ende, an der laut Gewerkschaftsangaben trotz der Kälte über 18.000 Arbeiter*innen teilgenommen haben. Sie protestierten für höhere Löhne und gegen die Arbeitsbelastung in der Branche. Auf ihren Transparenten waren Parolen wie »Applaus allein reicht nicht« zu lesen. Der Slogan verweist auf die Corona-Pandemie, als Pflegearbeiter*innen im Zuge der Pandemiebewältigung dem lebensbedrohlichen Virus ausgesetzt waren und als Held*innen gefeiert wurden.
An der großen Streikdemonstration nahm auch Sofie Merckx teil und sprach von einem Podium der Menge zu. Sie ist Fraktionsvorsitzende der linksradikalen Partij van de Arbeid oder Parti du Travail de Belgique (PTB), die es entgegen dem allgemeinen Trend linker Parteien in Europa überraschend geschafft hat, in den letzten Jahren Erfolge zu verbuchen. So konnte sie ihr Stimmergebnis bei den Parlamentswahlen 2019 im Vergleich zu fünf Jahren zuvor auf 8,62 Prozent der abgegebenen Stimmen verbessern. Seitdem stellt sie zwölf der insgesamt 150 Abgeordneten im Parlament. Vor 2019 waren es zwei.
Regionale Streitigkeiten
Um zu verstehen, wie sie sich diese Entwicklung erklärt, treffe ich mich mit Merckx in ihrem Abgeordnetenbüro. Das Büro ist klein und karg eingerichtet. Es befindet sich im repräsentativen Brüsseler Parlamentsgebäude, das aber wie vieles in der Stadt, mit Ausnahme der EU-Institutionen, etwas heruntergekommen ist. Hier und da blättert die Farbe ab, die Sicherheitsvorkehrungen erinnern an Flughäfen der 1990er Jahre. Man sieht dem Gebäude an, dass die Politik Belgiens chaotisch, teils dysfunktional ist. So dauerte etwa die Koalitionsbildung für die aktuelle Regierung über anderthalb Jahre.
Das politische System des Landes ist tief zerklüftet. Insbesondere die regionalen Streitigkeiten zwischen der Wallonie, dem französischsprachigen Teil Belgiens und Flandern, dem niederländischsprachigen Teil, prägen das Land. Die meisten Parteien haben jeweils eine flämische und eine wallonische Parteistruktur, die unabhängig voneinander gewählt werden. Die flämisch-nationalistische Partei N‑VA und extrem rechte Vlaams Belang wiederum sind zwar flämische Parteien, kommen aber mit ihrem separatistischen Kurs laut aktuellen Umfragen landesweit auf knapp 28 Prozent der Stimmen.
Allein aufgrund dieser Kluft ist die Parteistruktur der PTB für das politische System Belgiens besonders: Sie tritt mit einer antiseparatistischen bilingualen Wahlliste an. Obwohl die Partei ihren Ursprung im flämischen Teil der marxistischen Studierendenbewegung der 1960er Jahre hat, schaffte sie es in Flandern bei den regionalen Parlamentswahlen 2019 auf gerade einmal 5,3 Prozent. Ihre Erfolge erzielt die linksradikale Partei vor allem in Wallonien, wo linke Arbeiter*innenparteien historisch stark sind. Sie kam dort bei den regionalen Wahlen auf 13,68 Prozent der abgegebenen Stimmen. In der ehemaligen Industriestadt Charleroi, eine Stunde von der Hauptstadt Brüssel entfernt, avancierte die PTB gar zur zweitstärksten Kraft.
Medizin für das Volk
Dort liegt auch der Wahlkreis der 48-jährigen Fraktionsvorsitzenden Sofie Merckx. Wer sie auf der Streikdemonstration reden hört, hat nicht den Eindruck, dass sich die Linke in Europa in einem desolaten Zustand befindet. Merckx ist rhetorisch versiert, kämpferisch, spricht die Arbeiter*innen direkt an. Dahinter stecken Jahrzehnte an politischer Erfahrung, die ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt wurden, wie sie erzählt. Sie verweist auf die Schlüsselrolle ihres Vaters in der sozialistischen Bewegung Belgiens ab den 1970er Jahren.
Der »rote Arzt« Kris Merckx hatte 1971 in Antwerpen die Initiative »Geneeskunde voor het Volk« (Medizin für das Volk) gegründet. Ziel der damals noch maoistisch geprägten Organisation war es, Arbeiter*innen einen kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem und zu Medikamenten zu ermöglichen. Zugleich diente sie als Vorfeldorganisation für die aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen Kaderorganisation »Alle Macht Aan De Arbeiders« (Alle Macht den Arbeitern), aus der 1979 schließlich die PTB hervorging. Die inzwischen zu einer landesweiten Organisation angewachsene Initiative betreibt elf Polikliniken in Arbeiter*innenvierteln in Belgien, und laut eigenen Angaben soll sie jährlich etwa 25.000 Patient*innen versorgen.
Für Merckx ist die Bedeutung der Initiative klar: »Ohne Medizin für das Volk hätte die Partei wahrscheinlich nicht überlebt«, betont sie. Denn nach der Parteigründung fristete die PTB über Jahrzehnte ein Nischendasein, war allenfalls kommunal in der flämischen Hafenstadt Antwerpen vertreten. Dass sie heute landesweit Wahlerfolge einfahren kann, hat auch mit einem politischen Öffnungsprozess der letzten 15 Jahre zu tun. 2008 verabschiedete sich die Partei vom Maoismus ihrer Anfangsjahre, bezeichnet sich heute als marxistisch. »Wir wollen weiterhin den Kapitalismus abschaffen«, sagt Merckx. Aber von einer Kaderpartei habe sie sich zu einer Mitgliederpartei mit über 24.000 zahlenden Mitgliedern entwickelt.
Sofie Merckx nennt die Strategie der PTB »Straße, Parlament, Straße«.
»Wir haben eine Doppelstruktur aus zahlenden Mitgliedern und Aktiven«, erklärt Merckx. Nur Letztere können für die Partei Ämter bekleiden. Wer aber ein Amt hat, muss einen Teil der daraus erwachsenden Einnahmen der Bewegung spenden. Abgeordnete sollen monatlich nicht mehr als 2.400 Euro verdienen. So will die Partei Karrierist*innen fernhalten. Dies sei Teil des Erfolgs, erklärt die Politikerin im Gespräch. »Wir legen großen Wert darauf, nicht abzuheben und uns nicht in der Brüsseler Blase zu verschanzen. Wir gehen raus.« Sie nennt die Strategie »Straat, Raad, Straat«, übersetzt: »Straße, Parlament, Straße«. Das soll heißen, dass die Partei die Forderungen der sozialen Kämpfe in das Parlament tragen will und die Arbeit im Parlament in den Protesten wieder zur Debatte stellt. Dabei agiert die Partei nach dem Ansatz, dass »es keine kleinen Probleme« gebe.
Geölte Politikmaschine
Die Partei und ihre Abgeordneten wirken nach außen wie eine gut geölte Politikmaschine. Die Reden von Sofie Merckx und dem Parteivorsitzenden Raoul Hedebouw auf der Streikdemonstration der Pflegekräfte sind geschickt inszeniert. An beiden Seiten der Demoroute stehen Stände der Partei. Im Schritttempo wird die Demonstration am Podium der PTB wie durch ein Nadelöhr geführt. Sie ist auch die einzige Partei, die in dieser Form auf der Demonstration anwesend ist. Es wirkt, als hätte sie ein politisches Monopol auf den Protest der Pflegearbeiter*innen. Für die marxistische Partei ist dieser Eindruck, dass sie in besonderem Maße in Gewerkschaftskämpfe eingebunden ist, von besonderer Bedeutung.
Der Inszenierung der PTB widerspricht Gina Heyrman. Sie ist seit elf Jahren Pressesprecherin der sozialistischen Gewerkschaft Algemeen Belgisch Vakverbond (Allgemeiner Belgischer Gewerkschaftsbund). Für unser Gespräch treffen wir uns in der Brasserie de la Madeleine. Sie liegt am Hauptbahnhof und fußläufig knapp sieben Minuten von der Gewerkschaftszentrale der ABVV entfernt. Es ist eine unscheinbare, holzvertäfelte Kneipe, von denen es in Brüssel so viele gibt. Nach Tarifverhandlungen trinkt man hier noch ein Bier, sagt sie. Auch nach der großen Streikdemonstration ist die Kneipe gut gefüllt mit Menschen, die die roten Jacken ihrer Gewerkschaft tragen.
Die ABVV ist mit 1,5 Mllionen Mitgliedern knapp hinter der christlichen Gewerkschaft ACV die zweitgrößte Arbeiter*innenorganisation Belgiens. Zwischen den großen Gewerkschaften gebe es kaum Konkurrenz, sagt Heyrman. »Bei vielen Themen bilden wir eine Einheitsfront, die etwas mehr als 3,5 Millionen Arbeiter*innen umfasst. Das sind fast die Hälfte aller Arbeiter*innen in Belgien. Daraus erwächst eine starke Kraft«, erzählt sie mir. Dennoch haben die Gewerkschaften in Belgien unter den letzten konservativen und neoliberalen Regierungen herbe Rückschläge erlitten. Zwar werden, anders als etwa in Deutschland, die Löhne über eine sogenannte Indexierung automatisch an die Inflationsrate angepasst. »Aber darüber hinaus sind die Löhne aufgrund eines Gesetzes von 2017 praktisch eingefroren. Dieses Gesetz rückgängig zu machen und freie Tarifverhandlungen zu ermöglichen, ist aktuell eines unserer Hauptthemen«, sagt Heyrman.
Zur Frage, wie das Verhältnis der Gewerkschaft zur Parti du Travail de Belgique ist und ob sie wirklich so stark in der Arbeiter*innenbewegung verankert ist, sagt Heyrman: »Das meiste ist Rhetorik. Parteivertreter sind immer schnell dabei, an den Werkstoren mit ihren Fahnen zu stehen und so zu tun, als handle es sich um ihren Protest«, sagt sie. Sie empfindet das vereinnahmende Auftreten der Partei offenbar als lästig. »Sicherlich gibt es einige Mitglieder, die auch bei der PTB sind. Aber in der Führungsebene spielt sie keine Rolle«, unterstreicht sie. Außerdem habe sie bislang keine politische Macht entfaltet und mache nicht den Anschein, dass sie an Regierungsverantwortung interessiert sei. Für Tarifverhandlungen und Gesetzesvorhaben brauchen die Gewerkschaften sie bislang nicht.
Der Erfolg der PTB lässt sich nicht aus ihrer Verankerung in der organisierten Arbeiter*innenbewegung erklären.
Von der Brasserie de la Madeleine liegt auch die Brüsseler Parteizentrale der sozialdemokratischen Partei Vooruit oder Parti Socialiste (PS) nur 5 Minuten Fußweg entfernt. Die ABVV hat starke historische Verbindungen in die sozialdemokratische Partei. Viele Sozialdemokrat*innen sind Gewerkschaftsmitglieder, und die Partei greife auch immer wieder Gewerkschaftspositionen auf. Doch formell gebe es keine Zusammenarbeit mit der PS, betont Heyrman. »Wir sind eine gesellschaftliche Gegenmacht und lassen uns politisch nicht vereinnahmen«, sagt sie. Doch auf Nachfrage wird klar, dass das informell durchaus anders aussehe. Es gebe einen intensiven Austausch zwischen Partei- und Gewerkschaftsspitze. Man kenne sich und treffe sich nach Verhandlungen auch gerne in der Brasserie auf ein Bier. Der Erfolg der PTB lässt sich nicht in erster Linie aus ihrer Verankerung in der organisierten Arbeiter*innenbewegung erklären. Die ist noch zu großen Teilen sozialdemokratisch geprägt.
Das sieht auch die Parteienforscherin Emilie van Haute so. Sie ist Professorin für Politikwissenschaft an der Université libre de Bruxelles und hat sich auf das Parteiensystem Belgiens spezialisiert. Aus ihrer Sicht ist die PTB eindeutig eine populistische Partei. Ihre Rhetorik gegen »die Eliten« und der positive Bezug auf »das Volk« seien klare Indizien für diese »dünne Ideologie, die bei der PTB mit linksradikalen sozioökonomischen Forderungen unterfüttert werde«, erklärt sie auf Anfrage. Dadurch, dass die nationalistische N-VA und extrem rechte Vlaams Belang in Flandern die populistischen Stimmen auf sich vereinen würden, sei es für die linksradikale Partei schwerer, in der Region Fuß zu fassen; auch weil die Wähler*innen in Flandern deutlich weiter rechts stehen als in Wallonien, teilt van Haute mit.
Gute Aussichten
Das weiß auch die PTB. Doch aus ihrer Sicht gibt es ein linkes Potenzial in Flandern, das von den nationalistischen und extrem rechten Kräften bislang nicht mobilisiert werden kann. Zwar würde Vlaams Belang im Sinne ihrer faschistischen Ideologie auch soziale Probleme ansprechen. In letzter Konsequenz mache sie aber Politik gegen die Arbeiter*innen, erklärt Sofie Merckx in ihrem Abgeordnetenbüro. »Und die meisten Arbeiter*innen auf der heutigen Streikdemonstration kamen aus Flandern.« Die PTB will sich darum im kommenden Jahr verstärkt auf Flandern konzentrieren. Dann finden in Belgien die nächsten Parlamentswahlen statt. Dabei seien die eingefrorenen Löhne, die aktuelle Energiekrise und Kämpfe um eine gute Gesundheitsversorgung für die Partei wichtige Wahlkampfthemen. Die Schwerpunktsetzung teilt sie mit den Gewerkschaften.
Die Aussichten der PTB für die kommenden Wahlen sind nicht schlecht. Laut Emilie van Haute seien viele enttäuschte Sozialdemokrat*innen unter den Wähler*innen der PTB. Wie auch in anderen Ländern befinden sich die sozialdemokratischen Parteien Vooruit und PS in einer strukturellen Krise. Aktuell sind sie aufgrund der EU-Korruptionsaffaire zusätzlich in die Schlagzeilen geraten. Einer ihrer EU-Parlamentarier steht laut belgischer Staatsanwaltschaft im Verdacht, Teil des korrupten Netzwerkes zu sein. Es wurden Parteiausschlussverfahren eingeleitet. Noch wirkt sich das jedoch nicht negativ auf ihre Popularität aus. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat Conner Rousseau liegt aktuellen Umfragen zufolge deutlich vorne. Er gilt als Gegenkandidat zur Macht der extremen Rechten. Ob die PTB der Sozialdemokratie also weiter einen Teil ihrer Stimmen wird streitig machen können, ist unklar. Wahrscheinlich ist aber, dass sie ihr Wahlergebnis von 2019 halten und vielleicht sogar etwas verbessern kann.