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Bedrohte Vormachtstellung

Stabile Börsen und hohe Gewinne, aber woher kommt das Gerede von der deutschen Krise?

Von Stephan Kaufmann

Zwei Männer mit Krawatte, Jean-Claude Juncker und Donald Trump, sitzen nebeneinander an einem Verhandlungstisch, vor ihnen Schilder mit der European Commission und United States, hinter ihnen Männern mit Krawatte.
Geschäftspartner werden zu Rivalen. Foto: European Communities / Wikimedia Commons, CC BY 4.0

In Deutschland stockt das Wirtschaftswachstum, es schrumpft sogar leicht. In dieser Lage nutzen die Unternehmen ihre Macht über die gesellschaftliche Produktion: Sie kritisieren ihre Kosten als zu hoch, ihre Gewinne als zu gering und fordern bessere Verwertungsbedingungen für ihr Kapital. Dem folgt die Politik teilweise: Die Opposition übt Regierungskritik, die Regierung übt Selbstkritik, beide sind sich einig, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Landes und seiner Bevölkerung verbessert werden muss.

Doch in dieser Krise ist die Diagnose anders als sonst. Zum einen beklagt die Politik – nicht nur in Deutschland – keine vorübergehende Wachstumsschwäche, sondern sie malt ein Untergangsszenario. Die Deindustrialisierung Deutschlands sei »ein reales Risiko«, warnt der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI). Der Draghi-Report zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit sieht eine »existenzielle Herausforderung« für Europa: »Erstmals seit dem Kalten Krieg müssen wir um unseren Selbsterhalt fürchten.« Gleichzeitig allerdings ist von abstürzenden Börsenkursen oder explodierenden Arbeitslosenzahlen nichts zu sehen, die Gewinne zumindest der global agierenden Konzerne sind ordentlich. Damit stellt sich die Frage, worin die aktuelle Krise eigentlich besteht? Und zweitens: Warum fällt die Antwort der deutschen Politik auf diese »existenzielle Herausforderung« so lau aus?

Krise I: »Führungsposition«

Das Problem des Standortes Deutschland spiegelt sich in seiner wichtigsten Branche und seinem größten Konzern wider: Volkswagen. Von Krise und Verlusten ist zunächst nichts zu sehen. 2023 hat der Konzern 355 Milliarden US-Dollar Umsatz gemacht (im Jahr 2019, von dem es heute heißt, damals sei noch alles gut gewesen für die deutsche Industrie, lag der Umsatz 73 Milliarden niedriger). An Gewinn blieben 25 Milliarden US-Dollar Gewinn hängen – höher war der Profit das letzte Mal 2012. Für dieses Jahr werden rund 20 Milliarden angepeilt, weil die Autonachfrage weltweit schwach ist. So weit, so gut. Was das VW-Management aber dazu treibt, mit Jobabbau und Werksschließungen zu drohen, ist die mangelnde Kapitalrendite. Jeder investierte US-Dollar bringt zu wenig Ertrag. Und Ertrag braucht Volkswagen für die Umstellung seiner Autos und Produktion auf Elektromobilität und Fahrassistenzsysteme – ein Markt, auf dem insbesondere die chinesische Konkurrenz vorne liegt.

Der deutsche Autoweltmarktführer Volkswagen steht also vor neuen Konkurrenzbedingungen, durch den Technologiewechsel ist seine angestammte Führungsposition bedroht – und das ist die Krise. Nicht nur bei Volkswagen: Laut Draghi-Report ist die »traditionelle globale Führungsrolle der EU in der Automobilindustrie erodiert« – eine »Tradition«, die unbedingt fortgeführt werden muss, auch in den grünen Technologien. Schließlich ist das Geschäft mit CO2-sparender Technologie »unser neues Wachstumsmodell für eine blühende, verantwortungsvolle und resiliente Ökonomie«, so EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Und damit dieses Modell funktioniert, muss Europa »in Bereichen wie Klimadienstleistungen, Sicherung der Klimaverträglichkeit und naturbasierte Anpassungslösungen weltweit führend« sein.


Der Kampf der drei Standorte um den Weltmarkt wird dabei zusehends unversöhnlich.

Das ist das europäische Projekt, das durch die Erfolge der Konkurrenten in China und den USA gerade in der Krise ist: erstens die anderen Standorte weltweit abhängen, um selbst das Geschäft mit grüner Technologie zu machen, und zweitens bei anderen »Schlüsseltechnologien« wie Computerchips, KI, Daten oder Hochleistungsrechnern in die Führungsgruppe aufzusteigen – das ist ein anspruchsvolles und sehr offensives Programm. Es wird jedoch als Verteidigung der eigenen »Wettbewerbsfähigkeit« und »Heimatmärkte« gegen die Angriffe aus dem Ausland dargestellt.

Krise II: »Entkopplung«

Angegriffen sieht sich die EU ökonomisch von den beiden Parteien, die ökonomisch überhaupt in der Lage sind, in diesem Rennen mitzumachen: China und die USA. Der Kampf der drei Standorte um den Weltmarkt wird dabei zusehends unversöhnlich. »Europa muss aggressiver werden beim Verfolgen seiner strategischen Interessen«, fordert von der Leyen, und laut dem nächsten US-Präsidenten Donald Trump »nutzen unsere Verbündeten uns stärker aus als unsere Feinde«. Man errichtet Zollmauern gegeneinander oder droht damit, man erlässt Exportbeschränkungen und prüft Unternehmensinvestitionen darauf, ob sie den anderen nutzen.

Die Geschäftspartner werden darüber zunehmend als »Rivalen« betrachtet und die Geschäftsbeziehungen untereinander als beklagenswerte »Abhängigkeiten« thematisiert. Bei Computerchips »leidet die EU unter einer starken Abhängigkeit von US-amerikanischen und asiatischen Anbietern«, rügt der BDI, und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, warnt: »Wir haben gelernt, wie Abhängigkeiten zu einer Waffe werden können.« Sowohl die USA als auch China und Europa sind dazu übergegangen, ökonomische Fragen als Fragen der nationalen Sicherheit zu betrachten. Denn »wenn man eine geopolitische Macht sein will, ist Wirtschaftsmacht der Schlüsselfaktor«, erklärt Guntram Wolff von der Denkfabrik Bruegel in Brüssel.

Die Weltwirtschaft teilt sich damit in einzelne Einflusssphären, in die die drei Parteien per Industriepolitik versuchen, Produktionskapazitäten zu verlagern, um sich so vor den anderen zu schützen und die Rivalen in Abhängigkeitsverhältnisse zu bringen.

Zu beobachten sind dabei inzwischen Übergänge zum regelrechten Wirtschaftskrieg, in dem es nicht mehr darum geht, an den anderen zu verdienen, sondern ihnen Schaden zuzufügen. Dafür ist man bereit, die Kosten zu tragen: Statt kostengünstiger Auslandsware baut man mit Milliardensubventionen eigene Produktionskapazitäten für Chips, Batterien und E-Autos auf.

»Die Interventionen in den USA als auch in Europa sind weniger industriepolitisch motiviert, sondern nehmen bewusst Effizienzverluste als sicherheitspolitische Versicherungsprämie in Kauf«, so Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Den großen US-Computerchipherstellern, die sich über Exportbeschränkungen nach China beschweren, hält die US-Wirtschaftsministerin entgegen: »So ist das Leben. Der Schutz unserer nationalen Sicherheit ist wichtiger als kurzfristige Umsätze.« Und auch in Deutschland werden die Unternehmen aufgefordert, ihre profitablen Geschäftsbeziehungen zu China zu überdenken: »Die sicherheitspolitische Lage lässt eine rein betriebswirtschaftliche Betrachtung zentraler Größen in der unternehmerischen Beschaffung nicht mehr zu«, rät der BDI.

Bei ihrem Einsatz ökonomischer Beziehungen als Waffe gegeneinander geht es den drei Rivalen natürlich nicht darum, den Weltmarkt untereinander aufzuteilen. Denn alle drei brauchen den ganzen Weltmarkt als Absatzsphäre, als Quelle von Vorprodukten und als Produktionsstandort. Miteinander ringen sie daher um die Beherrschung des Weltmarktes und das bedeutet um die Position desjenigen, der die Regeln des globalen Geschäfts für alle verbindlich festlegen kann. Dieses Ziel verbirgt sich hinter der Klage, die »regelbasierte Weltordnung« sei bedroht wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. »Wir waren an eine internationale Ordnung gewöhnt, die auf der westlichen Hegemonie seit dem 18. Jahrhundert beruht hatte. Die Dinge ändern sich«, sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits 2020, lange vor der russischen Invasion der Ukraine.

Die Lösung: Aufrüstung und Wettbewerbsfähigkeit

Bei der anstehenden Bundestagswahl »geht es um verdammt viel«, sagt Olaf Scholz. Deutschland stehe »vor einer fundamentalen Entscheidung. Jetzt geht es um das Ganze.« Es sei nun die Zeit, die Erneuerung Deutschlands entschlossen fortzusetzen. Zu dem Ausmaß des dargestellten Problems allerdings scheinen die eher kleinteiligen Lösungen nicht zu passen. Von CDU über SPD und Grüne wirbt man mit kleineren Steuer- und Strompreissenkungen. Man will die Schuldenbremse reformieren und mehr Arbeitskraft verfügbar machen: Fachkräftemigration, Druck auf Arbeitslose, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und mehr Zuverdienstmöglichkeiten für Rentner*innen. Dazu kommt das neue Wundermittel Bürokratieabbau. Das klingt nicht nach »Erneuerung«.

Angesichts der proklamierten Krise hätte man damit rechnen können, dass die Politik einen neoliberalen Aufbruch startet inklusive breit angelegtem Angriff auf Umweltschutzauflagen und die sozialen Rechte der Bevölkerung. Doch den hat bislang nur die Kleinpartei FDP im Angebot. Dass die kommenden Regierungsparteien so zurückhaltend agieren, mag daran liegen, dass dieser Aufbruch mit einigen Widersprüchen konfrontiert wäre.

So sind Lohnsenkungen und Sozialabbau in Zeiten von Arbeitskräftemangel schwerer durchzusetzen – und riskant in Zeiten »gesellschaftlicher Polarisierung«, Stichwort Rechtstrend. Ebenso riskant sind groß angelegte Steuersenkungen angesichts knapper Kassen und der Notwendigkeit, den Standort per Staatsausgaben aufzumöbeln. Eine simple Rücknahme von Umweltauflagen zwecks Entlastung der Industrie wiederum passt nicht zu der Strategie, den Unternehmen Umweltkosten aufzuhalsen, wenn Europa zum Klimatechnologieweltmeister gemacht werden soll. Eine zu langsame Transformation in Richtung Klimaschutz sei das ungleich größere Risiko für Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Standortattraktivität, mahnt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.

Und schließlich wäre es für ein kleines Land wie Deutschland auch riskant, in den offenen Kampf zu treten gegen Supermächte wie die USA oder China, von denen man ökonomisch abhängig ist – und im Fall der USA auch militärisch. Die »große« politische Erneuerung, die »Zeitenwende«, scheint sich daher weniger auf der nationalen Ebene abzuspielen, als vielmehr im europäischen Kontext. Hier agieren nicht die Nationalstaaten, sondern hier handelt die EU als Ganzes, und zwar als Handelsmacht, die mit Zöllen gegen den Rest der Welt vorgeht. Gemeinsam legen die Mitgliedsstaaten Investitions- und Rüstungsprogramme auf und betreiben die Erweiterung der EU um neue Staaten. »Die Erweiterung ist eine geostrategische Investition, die das politische und wirtschaftliche Gewicht der EU auf der Weltbühne erhöht«, erklärte Maroš Šefčovič, Vizepräsident der EU-Kommission. Europa schließt sich zusammen, um an Größe zu gewinnen. Damit geht nicht nur der Weltwirtschaftskrieg in eine neue Runde, sondern auch der Kampf darum, wer in Europa das Sagen hat.

Stephan Kaufmann

ist Wirtschaftsredakteur und Buchautor.