Amnestie für tödliche Schüsse
Mit dem Brexit könnten die britischen Konservativen die Aufarbeitung des Nordirlandkonflikts loswerden
Von Dieter Reinisch
Ende Juni wird das Vereinigte Königreich wohl ein Gesetz bekommen, das britische Soldaten für Verbrechen während des Nordirlandkonflikts Straffreiheit gewähren wird. Die »Northern Ireland Troubles (Legacy and Reconciliation) Bill« befindet sich vor der dritten und finalen Lesung im britischen Oberhaus, House of Lords. Im Unterhaus in Westminster wurde sie bereits angenommen.
Die konservativen Tories wollen es noch vor dem Sommer durchpeitschen: »Das Gesetz wird vor dem Europäischen Gerichtshof (EGMR) für Menschenrechte nicht durchkommen, aber das ist ihnen egal. Die Tories wollen ein Zeichen setzen«, betont Paul O’Connor Ende Mai im Gespräch mit ak. Dadurch würden die Menschenrechtslage und die Kampagne der Familien der Opfer des Nordirlandkonflikts »auf beispiellose Schwierigkeiten, wie sonst nirgendwo anders in Europa« stoßen.
Das Gesetz führt eine bedingte Amnestie für Täter*innen von Straftaten im Zusammenhang mit dem Nordirlandkonflikt ein. Aber nur wenn sie mit einer neuen Stelle zur Wahrheitsfindung namens Independent Commission for Reconciliation and Information Recovery (ICRIR) zusammenarbeiten, die der britische Staat eingesetzt hat.
In der Praxis bedeutet es aber »den Schutz von Veteranen der britischen Armee in Nordirland vor strafrechtlicher Verfolgung«, so O’Connor. Er arbeitet im Pat Finucane Centre (PFC) in Derry. Das PFC unterstützt an drei Standorten in Nordirland 200 Familien, deren Angehörige Opfer des Nordirlandkonflikts wurden – darunter auch Opfer von Folter. »Viele Familien kämpfen seit Jahrzehnten um Gerechtigkeit und dem soll mit dem Gesetz ein Riegel vorgeschoben werden«, erklärt O’Connor.
Regierung will Schlussstrich
In den 1970er Jahren lebte O’Connor mit seinem Bruder für ein paar Jahre in Deutschland und war dort in der Irland-Solidaritätsbewegung aktiv. In Nordirland setzt er sich heute für die Opfer der geheimen Zusammenarbeit des britischen Staats und der Geheimdienste mit probritischen, loyalistischen Todesschwadronen ein, der sogenannten »Collusion« – Zusammenarbeit. Denn nicht nur die proirische Irish Republican Army (IRA) griff damals zu den Waffen, auch probritische Gruppen bewaffneten sich.
Das Gesetz käme einer Amnestie für britischen Soldaten gleich. Die konservative Regierung in London will so einen »Schlussstrich« ziehen, wie ein Sprecher betont. Vom Northern Ireland Veterans Movement wird es begrüßt, ein Zusammenschluss von britischen Soldaten, die während des Bürgerkriegs in Nordirland eingesetzt wurden.
Der Nordirlandkonflikt begann 1968, als probritische Loyalisten und die Polizei Royal Ulster Constabulary (RUC) die friedliche Bürgerrechtsbewegung begannen niederzuschlagen. Nach Vertreibungen der irisch-katholischen Bevölkerung und dem Niederbrennen ganzer katholischer Straßenzüge in Belfast und Derry wurde im Sommer 1969 die britische Armee in die Provinz entsandt. Vor 25 Jahren wurde mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens der Krieg in Nordirland beendet.
1969 kam die Armee nicht als neutraler Schlichter, sondern um das undemokratische, die katholische Minderheit diskriminierende System aufrechtzuerhalten und die politische und wirtschaftliche Macht in den Händen der unionistisch-protestantischen Mehrheit zu sichern. In den folgenden Jahren waren britische Soldaten für mehrere Massaker verantwortlich: Im August 1971 wurden zehn Zivilisten im Stadtteil Ballymurphy im Westen von Belfast ermordet. Dieselbe Einheit, die für das Ballymurphy-Massaker verantwortlich ist, war zuvor in den Kolonialkriegen in Aden, Kenia und Zypern eingesetzt worden. Am 30. Januar 1972 erschoss die Fallschirmjägereinheit 14 friedliche Demonstranten bei einer Bürgerrechtsdemonstration in Derry. Der Tag wurde weltweit als Bloody Sunday bekannt. Jahrzehnte später entschuldigte sich die britische Regierung zwar dafür, bis heute wurde aber kein Soldat zur Verantwortung gezogen.
Das Problem liegt im Justizsystem: »Soldaten müssen bei Untersuchungen nicht erscheinen«, beklagt O’Connor. Die Familien sitzen vor Gericht, um Gerechtigkeit für ihre Angehörigen zu bekommen und gegenüber oder über einen Videolink erzählt ein anonymer Soldat »irgendeine Lügengeschichte und kommt damit straflos davon«, beschreibt es O’Connor.
Unkontrollierter Staat
Mit dem neuen Gesetz werde sich diese Situation weiter verschlechtern, meint der Professor für Kriminologie, Colin Harvey, von der Queens University Belfast, bei einem Gespräch mit ak im Süden der nordirischen Hauptstadt. »Schockierend und abstoßend« sei das Vorhaben: »Die Regierung muss den Gesetzentwurf zurückziehen«, ansonsten würden demnächst »alle Mechanismen verschwinden, durch die der Staat für sein Fehlverhalten zur Rechenschaft gezogen werden kann«, so Harvey.
Die Opposition gegen den Gesetzesentwurf ist breit, doch Verteidigungsminister Ben Wallace findet in einer kleinen und einflussreichen Lobby Unterstützung, erklärt O’Connor: »Dahinter steht das Guards Regiment. Das sind junge Männer aus wohlhabenden Familien, die an die Militärakademie in Sandhurst geschickt werden, um in der Armee Karriere zu machen.« Gemeinsam mit Veteranenverbänden sind sie eine einflussreiche Gruppe. O’Connor nennt sie den »militärischen Flügel der Tories«.
Harvey und O’Connor haben für den Fall des Inkrafttretens Klagen angekündigt: »Großbritannien stellt sich mit dem Gesetz außerhalb des europäischen Rechts«, so O’Connor. Er glaubt nicht, dass das Gesetz vor dem EGMR Bestand haben wird.
In den folgenden Jahren waren britische Soldaten für mehrere Massaker verantwortlich.
Bereits mehrmals hat der EGMR das Vereinigte Königreich verurteilt, berichtet der Anwalt Niall Murphy ak. Die Wände seines Büros in der Belfaster Innenstadt sind von Titelseiten der katholisch-nationalistischen Tageszeitung Irish News geschmückt, die von seinen Fällen berichten. Mehrmals hat er die britische Regierung selbst vor den EGMR in Straßburg gebracht: »Bereits 2006 wurde in sechs Fällen geurteilt, dass der britische Staat gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen hat.« Dieser Artikel garantiert das Recht auf Leben und bedeutet: »Der Staat darf dich nicht töten«, so Murphy.
Auch gegen Artikel 3, Folter, und Artikel 5, Gefangenschaft, hätte der britische Staat verstoßen. Mit dem neuen Gesetz, das sieht auch Murphy so, würde es Familien von Opfern staatlicher Gewalt und der Zusammenarbeit der Geheimdienste mit loyalistischen Todesschwadronen »verunmöglicht werden, ihr Recht unter Artikel 2 auszuüben«. Durch diese »rechte Tories-Agenda« würde in Nordirland »internationales Recht vernichtet werden«, fügt er hinzu.
Murphy weist darauf hin, dass Nordirland nicht nur in der Vergangenheit Probleme mit den Menschenrechten hatte. Die gegenwärtige Praxis des Stop-and-Search, also das Anhalten, falls ein*e Polizist*in vermutet, dass die Person in kriminelle oder terroristische Handlungen involviert ist, ist in Nordirland verbreiteter, als in anderen Regionen des Vereinigten Königreiches: »Überproportional wird es gegen Jugendliche in katholisch-nationalistischen Wohngegenden angewendet.« Doch der Gesetzgeber hat eine dünne Grundlage geschaffen, die es der Polizei ermöglicht, dies ohne konkrete Anhaltspunkte durchzuziehen: »Nur weil es rechtens ist, bedeutet es aber nicht gleichzeitig, dass es richtig ist«, kritisiert Murphy diese diskriminierende Rechtsauslegung.
Menschenrechte ohne Bedeutung
Problem gebe es auch in der Länge von Gerichtsverfahren bei politisch-motivierten Verfahren. Diese würden oft bis zu zehn Jahre dauern, in denen die Angeklagten unter drakonischen Bewährungsauflagen leiden würden, darunter Hausarrest und tägliche Meldungen bei der lokalen Polizeistation. Ein Problem hierbei sei die Arbeit des Inlandsgeheimdienstes MI5, erzählt Murphy. Mehrere tausend MI5-Agent*innen arbeiten in einem neuen Hauptquartier außerhalb von Belfast: »Das Ziel des MI5 ist zumeist Entwicklungen zu beeinflussen und zu kontrollieren, aber nicht Beweise zu sammeln.« Dies verunmögliche faire Gerichtsverfahren, so Murphy.
Der Brexit hätte die rechtliche Lage in Nordirland weiter verschlechtert betonen alle Gesprächspartner. »Er hat alles geändert«, unterstreicht Murphy. Für Harvey hat er »den Friedensprozess destabilisiert«, denn »der Schutz durch den EGMR kann nicht mehr langfristig garantiert werden«. Die Aufarbeitung der loyalistischen Verbrechen in der Republik Irland, wie die Anschläge am 17. Mai 1974 in Dublin und Monaghan, als 33 Menschen durch drei loyalistische Autobomben starben, wurden durch den Brexit erschwert: »Seither gibt es zwischen Dublin und London kaum noch Zusammenarbeit in diesen Fragen«, zeigt sich O´Connor enttäuscht.
Er ist überzeugt, dass genau das ein Ziel der Tories war: Sie wollten die Europäische Konvention und die Artikel 2 und 3 loswerden: »Sie dachten, wenn sie aus der EU austreten, dann sind sie auch den EGMR los.« Doch das stimmt nicht: Die Europäische Konvention ist nicht an die EU-Mitgliedschaft gebunden. Es gäbe daher Bestrebungen in London, aus der Menschenrechtskonvention auszutreten: »Doch dann schließen sie sich einem Klub an, der bisher nur zwei Mitglieder hat: Russland und Belarus«, betont O’Connor.
Für Harvey ist die Menschenrechtsfrage eine der größten »ungelösten Aufgaben des Karfreitagsabkommens«. Doch statt das Erbe des Nordirlandkonflikts aufzuarbeiten und den Familien der Opfer staatlicher Gewalt Gerechtigkeit zu ermöglichen, plant London im Juni ein Gesetz zu verabschieden, das den Veteranen Amnestie für ihre Verbrechen gewährt.