Auf dünnem Arktiseis
Trumps aggressiv bekundetes Interesse an Grönland unterstreicht erneut die geopolitische Bedeutung der Insel – was heißt das für die grönländisch-dänischen Beziehungen?
Von Ebbe Volquardsen
1918 schrieb der dänische Historiker Louis Bobé eine schwülstige Liebeserklärung an Grönland. In »Tamalât: Das Land hinter dem Meer« bezeichnete er die Insel als »die letzte Feder an Dänemarks Hut« und warnte, Gott möge sie vor arroganten Engländern, geschäftstüchtigen Amerikanern und engstirnigen Deutschen beschützen. Der Text entstand nach dem Verkauf der letzten dänischen Kolonie im Süden. 1917 wurden aus dem ehemaligen Dänisch-Westindien die Amerikanischen Jungferninseln. Gleichzeitig erkannten die USA die dänische Souveränität über Grönland an.
Früher steckten sich Adelige und Militärs Federn an den Hut, um Status und Macht zu demonstrieren. Wenn Bobé Grönland metaphorisch zum letzten Juwel dieser Art erklärt, erscheint es als letztes Statussymbol Dänemarks nach einer Reihe von Verlusten: 1814 Norwegen, fünfzig Jahre später Schleswig-Holstein, Mitte des 19. Jahrhunderts die Kolonien in Afrika und Südasien, zuletzt die Karibikinseln. Bobés Worte sind ein frühes Beispiel für das, was der Soziologe Paul Gilroy später postkoloniale Melancholie nannte: die nostalgische Sehnsucht nach konfliktärmeren Zeiten und ein Gefühl der Trauer über den Verlust von Status und Macht in postimperialen Gesellschaften.
In Bobés Warnung vor vermeintlich böswilligen Großmächten offenbart sich zudem eine Ideologie, die einem respektvollen Verhältnis zwischen Dänemark und seiner ehemaligen Kolonie bis heute im Wege steht: der koloniale Exzeptionalismus. Das kleine Dänemark sah sich stets als »gute Kolonialmacht«. Kritik und Forderungen der Grönländer*innen, von denen sich rund 90 Prozent als indigene Inuit identifizieren, gelten oft als Ausdruck von Querulanz und Undankbarkeit. »Wir haben immer gelernt, dass wir eine der besten Kolonien der Welt waren: keine Sklaverei, keine Morde«, schrieb die Anthropologin Aviâja Egede Lynge Jahre bevor Begriffe wie Dekolonisierung in Grönland en vogue wurden.
Ein unbeabsichtigter Gefallen
Seit Wochen wackelt auch »die letzte Feder an Dänemarks Hut«. Kurz vor Weihnachten wiederholte Donald Trump, ein geschäftstüchtiger Amerikaner wie aus Bobés Buch, seinen Plan von 2019 (ak 652), Grönland zu amerikanischem Territorium zu machen. War vor fünf Jahren von einem Kauf die Rede, schloss Trump nun sogar militärische Mittel nicht aus. Am 7. Januar landete sein Sohn, Donald Trump Junior, überraschend mit einer großen Entourage in Nuuk, um Videos von angeblich Trump-begeisterten Grönländer*innen für seine Social-Media-Kanäle aufzunehmen. Er schreckte nicht davor zurück, sozial Benachteiligte vorm Einkaufszentrum der Stadt einzusammeln, ihnen MAGA-Mützen aufzusetzen, und sie im Gegenzug für ein paar Bilder zum Lunch in ein Restaurant einzuladen, dessen Essen sie sich sonst nicht leisten können.
Der alte Trump, der sich für die militärstrategische Lage Grönlands, seine Seltenen Erden und die sich wegen des Klimawandels öffnenden Schifffahrtsrouten interessiert, hatte den Grönländer*innen 2019 nolens volens einen Gefallen getan. Sein Interesse an der Insel unterstrich deren geopolitische Bedeutung und widerlegte die verbreitete dänische Ansicht, Zahlungen an Grönland seien reine Wohltätigkeit. Indem er den Pauschalbetrag, den Dänemark jährlich in den grönländischen Haushalt einzahlt, als Marktwert der militärischen und kommerziellen Präsenz in Grönland erscheinen ließ, stärkte er die Verhandlungsposition der Grönländer*innen, die von Dänemark mehr Autonomie und die Anerkennung historischen Unrechts fordern. Doch die Aggressivität der jüngsten Drohungen hat in Grönland angesichts der ohnehin wachsenden Spannungen zwischen den um die Arktis buhlenden Großmächten Unbehagen ausgelöst. »Auf dünnem Eis muss man vorsichtig seinen Weg suchen, und wir befinden uns jetzt auf dünnem Eis«, schrieb Aqqaluk Lynge, Nestor der links-grünen Regierungspartei Inuit Ataqatigiit (IA).
Und die Dän*innen? »Ich werde den 7. Januar als den Tag in Erinnerung behalten, an dem wir erstmals das wahre Gesicht der dänischen Angst vor dem Verlust Grönlands sahen«, kommentierte die grönländische Autorin Aká Hansen treffend. Die dänische Reaktion war geprägt von Entsetzen, Schockstarre und postkolonialer Melancholie. In den sozialen Medien warnten viele Dän*innen die Grönländer*innen reflexartig in Bobéscher Manier vor den USA, verbunden mit Aufzählungen amerikanischer Verbrechen an Indigenen und Minderheiten. Dass die dänisch-grönländische Geschichte von ganz ähnlichen Übergriffen durchsetzt ist, blieb – Exzeptionalismus lässt grüßen – dabei unerwähnt.
Noch im Dezember demonstrierten Inuit und Unterstützer*innen in dänischen und grönländischen Städten. Die Proteste richteten sich gegen die Praxis dänischer Kommunen, Müttern grönländischer Herkunft das Sorgerecht für ihre Kinder aufgrund von Eignungstests zu entziehen, die nicht an die grönländische Kultur angepasst sind. Ihre kulturell bedingte Art, mit dem Neugeborenen zu kommunizieren, verhindere eine erfolgreiche Sozialisierung, hieß es in einem geleakten Gutachten – ein Beispiel für systemischen Rassismus und die Verletzung der Menschenrechte der Grönländer*innen, deren indigene Kultur durch die von Dänemark ratifizierte ILO-Konvention 169 besonderen Schutz genießt. Inuit haben in Dänemark ein siebenmal höheres Risiko, zwangsadoptiert zu werden, und viele grönländische Mütter verbinden z.B. einen ausbildungsbedingten Aufenthalt in Dänemark mit der Angst vor behördlicher Willkür.
Kontinuitäten der dänischen Assimilationspolitik
Besonders heikel für die dänische Regierung: Die jüngsten Fälle von Kindesentzug erinnern an die Assimilationspolitik der 1960er und 1970er Jahre, von der man sich erst in jüngster Zeit zu distanzieren beginnt. Nach der Eingliederung der Kolonie in den dänischen Staat als offiziell gleichberechtigte Provinz im Jahr 1953 zielte die dänische Politik darauf ab, die Inuit zu »Norddän*innen« zu machen.
Dies geschah nicht nur, um den Vereinten Nationen zu suggerieren, dass Dän*innen und Grönländer*innen ein und dasselbe Volk seien. Die Maßnahmen entsprachen auch dem dänischen Selbstverständnis als ethnisch homogene und sozial fortschrittliche Kulturnation. Ethnische Konflikte und Unabhängigkeitskämpfe, so glaubte man, könnten anderswo ausgetragen werden – die Grönländer*innen würden bald begreifen, welches Privileg es sei, Bürger*innen in einem der besten Länder der Welt zu sein. Diese Annahme hat sich als Irrtum erwiesen. Seit einigen Jahren wird der systematische Charakter der staatlichen Übergriffe bei der Assimilationspolitik immer deutlicher.
Wir wollen weder Amerikaner noch Dänen sein, wir wollen Grönländer sein.
Múte B. Egede
Noch 2013 weigerte sich Dänemark, an einer Versöhnungskommission teilzunehmen. Erst 2022 entschuldigte sich Ministerpräsidentin Mette Frederiksen in Nuuk bei den Überlebenden des »Experiments von 1951«, bei dem Inuit-Kinder zwangsweise nach Dänemark geschickt und dauerhaft von ihren Familien getrennt wurden, um eine dänischsprachige Elite heranzuziehen. Dies galt bis vor kurzem als bedauerlicher Fehler einer ansonsten erfolgreichen Modernisierungspolitik. Heute erscheint die Maßnahme als eines von vielen Beispielen für ein System, das die meisten Grönländer*innen in den 1950er bis 1970er Jahren Entmündigung, Umsiedlung und staatliche Übergriffe erleben ließ.
Inzwischen hat sich in Grönland ein identitätspolitisches Bewusstsein entwickelt, Bedingung um kollektive Diskriminierungserfahrungen überhaupt artikulieren und kritisieren zu können. Betroffene staatlicher Übergriffe wie die »rechtlich Vaterlosen« und Opfer fragwürdiger Adoptionspraktiken mussten erst erkennen, dass ihre Erfahrungen Teil einer systematischen Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit waren.
Unehelich geborene Kinder hatten bis in die 1970er Jahre oft nicht das Recht, ihre leiblichen, meist dänischen Väter ausfindig zu machen und ihr Erbe anzutreten. Hunderte Kinder wurden nach Dänemark adoptiert, ohne dass ihre Eltern über die Tragweite dieses Schrittes aufgeklärt wurden. Denn die Praxis der Adoption war in Grönland weniger definitiv und freiwillig: Familien konnten ihren Nachwuchs vorübergehend in die Obhut von Verwandten oder kinderlosen Bekannten geben, das schloss eine spätere Wiedervereinigung allerdings nicht aus.
Dass in dieser Zeit viele Ehen kinderlos blieben, ist Resultat eines weiteren Skandals, dessen wahres Ausmaß erst allmählich ans Licht kommt. In den 1960er Jahren setzten dänische Ärzt*innen bei Inuit-Mädchen und Frauen – insgesamt der Hälfte aller Frauen im gebärfähigen Alter – Verhütungsspiralen ein, ohne dass die Betroffenen oder ihre Eltern eingewilligt hatten. Das Programm führte nicht nur zu traumatisierten Frauen und einer verlorenen Generation von Grönländer*innen, die heute nicht nur angesichts des Arbeitskräftemangels fehlt, sondern auch zu einer weit verbreiteten und potenziell tödlichen Skepsis gegenüber dem Gesundheitssystem. Der amtierende grönländische Regierungschef Múte B. Egede (IA) sprach von Genozid.
Eigener Staat oder freier Staatenbund?
Will Dänemark Grönland im Königreich halten – es liegt in seinem geopolitischen Interesse –, kommt es um die Aufarbeitung der Übergriffe und die Entwicklung einer inklusiveren Staatsidentität nicht herum. Das scheint man auch in Kopenhagen begriffen zu haben. Expert*innenkommissionen haben ihre Arbeit bereits aufgenommen. Grönland wiederum hatte zuletzt konkrete Schritte in Richtung Selbstständigkeit gemacht, zu der es laut Selbstverwaltungsgesetz berechtigt ist. 2023 wurde ein Verfassungsentwurf vorgelegt, 2024 beschlossen, Schritte in Richtung Staatsgründung vorzubereiten. Auch um den Druck zu erhöhen, spielte man mit dem Gedanken, nach dem Vorbild einiger Inselstaaten im Pazifik ein freies Assoziierungsabkommen mit den USA oder Kanada auszuhandeln.
In Dänemark stößt die Hinwendung zu unbequemeren und widersprüchlicheren Geschichtsbildern aber auch auf Widerstand. Die dänisch-grönländischen Beziehungen seien an einem Tiefpunkt, hieß es schon vor den jüngsten Entwicklungen fast unisono in der dänischen Presse. Überlegungen des Soziologen Aladin El-Mafaalani lassen jedoch auch andere Schlüsse zu. Zeiten, in denen Minderheiten mehr Gleichberechtigung erlangen, sind – so seine These – von mehr und nicht von weniger Konflikten geprägt. Wenn die Minderheit erkennt, dass beharrliches Fordern zum Erfolg führt, beginnt sie Diskriminierungserfahrungen zu benennen, die anzusprechen sie zuvor für aussichtslos hielt. Dadurch entsteht der Eindruck einer Konfliktverschärfung, obwohl in Wirklichkeit mehr Partizipation erreicht wurde.
In der Tat gibt es Fortschritte. Auf Drängen Grönlands hat sich Dänemark in jüngster Zeit immer öfter von exzeptionalistischen und assimilatorischen Vorstellungen verabschiedet und präsentiert sich – im Widerspruch zur Idee des homogenen Nationalstaates – als die multiethnische Föderation, die es de facto längst ist. Nach zähem Ringen wurde Grönländisch als Arbeitssprache im dänischen Parlament zugelassen, Dänemark unterstützte Grönlands Wunsch nach Vollmitgliedschaft im Nordischen Rat, einem Forum nordeuropäischer Staaten und autonomer Gebiete; der Posten des dänischen Arktis-Botschafters wird künftig von Grönland besetzt. 2024 vertrat mit Inuuteq Storch erstmals ein Inuit-Künstler Dänemark auf der Biennale in Venedig, und einer der neuen dänischen Geldscheine soll das Konterfei der von der Geschichtsschreibung marginalisierten Expeditionsteilnehmerin Arnarulunnguaq aus Nordgrönland zeigen. Selbst eine Lösung für das Ende der kulturunsensiblen Elterntests wurde überraschend schnell nur wenige Tage nach Trumps erneutem Vorstoß in Aussicht gestellt.
»Wir wollen weder Amerikaner noch Dänen sein, wir wollen Grönländer sein«, bringt Múte B. Egede die Haltung seiner Landsleute auf den Punkt. Der Wunsch nach einem grönländischen Staat ist ungebrochen. Doch in Nuuk weiß man, dass man auch in Zukunft auf starke Partner angewiesen sein wird. Ob Trumps Drohungen zu einem neuen dänischen Exzeptionalismus führen oder sich ein bisher versperrter Weg hin zu einer wirklich gleichberechtigten Föderation auftun wird, ist derzeit offen. Sollte sich die Tendenz verfestigen, dass Dänemark zu Letzterem bereit ist, ist nicht auszuschließen, dass ganz neue Modelle entstehen. Selbst die Möglichkeit eines freien Staatenbundes – nicht zwischen einem grönländischen und einem amerikanischen Staat, sondern mit Dänemark – ist wahrscheinlicher geworden. Die Entscheidung, ob das, was Dänemark Nuuk bald anbieten könnte, attraktiv genug ist, um die Mehrheit der Grönländer*innen zu überzeugen, liegt allein bei ihnen.