Auch die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien
Linke Vorschläge für eine Deeskalation im Donbas
Von Taras Bilous
Als in US-Medien Anfang 2021 erneut Berichte über die Gefahr einer russischen Militärinvasion in der Ukraine auftauchten, war die erste Reaktion vieler Ukrainer*innen zunächst Überraschung. Bis Mitte Dezember schienen viele westliche Medien das Problem ernster zu nehmen als die ukrainischen. Nicht zuletzt, weil der Generalstab der ukrainischen Armee Meldungen über eine neuerliche Konzentration russischer Truppen nahe der ukrainischen Grenze anfänglich dementiert hatte. Und als dann in Deutschland die Bild-Zeitung eine Karte von »Putins Plänen« veröffentlichte, die aussah, als hätte ein Oberschüler sie gezeichnet, löste das nicht nur Empörung, sondern auch Gelächter unter vielen ukrainischen Autor*innen aus. Etliche Ukrainer*innen hofften, die Maßnahmen Russlands blieben am Ende ohne schlimmere Konsequenzen und seien nichts weiter als das Säbelrasseln, das sie bereits aus dem vergangenen Frühjahr kannten.
Doch allmählich haben die ultimativen Forderungen der russischen Führung viele dazu gebracht, ihre Einschätzung zu ändern. Es ist leicht nachvollziehbar, warum die russische Führung den jetzigen Zeitpunkt für günstig hält, den Druck zu erhöhen: Die russische Opposition ist zerschlagen, in Europa herrscht Unruhe wegen der Energiekrise, während die US-Truppen gedemütigt aus Afghanistan abziehen mussten und die Beziehungen zwischen den USA und China auf einem neuen Tiefpunkt angelangt sind. Allerdings ist die Gefahr weniger ein groß angelegter Angriff russischer Truppen und die Besetzung eines bedeutenden Teils der Ukraine. Das wäre teuer, riskant und bei der russischen Bevölkerung unpopulär. Wahrscheinlicher ist eine Eskalation im Donbas, also eine begrenzte Invasion und die Ausweitung der Gebiete der vom Kreml kontrollierten Volksrepubliken Donezk und Luhansk.
Besonders beunruhigend in dieser Hinsicht ist die Aussage des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu, private US-Militärunternehmen würden im Donbas einen Einsatz mit chemischen Waffen vorbereiten. Es steht zu befürchten, dass die russischen Truppen diesmal nicht wie im Georgien-Krieg 2008 auf den Angriff des Gegners warten werden, sondern wie die Amerikaner im Jahr 2003 vorgehen könnten, die damals eine Rechtfertigung für ihre Aggression gegen den Irak benötigten.
Eine ukrainische Offensive?
Im Frühjahr 2021 mögen die Behauptungen des Kremls, die ukrainische Führung plane eine Offensive im Donbas, für einige noch glaubwürdig geklungen haben, obwohl es auch zu diesem Zeitpunkt keine wirklichen Hinweise auf die Vorbereitung eines Angriffs auf den Donbas gab. Derzeit aber klingen solche Anschuldigungen gegenüber Kiew noch dubioser.
Am 26. Oktober, kurz bevor die ersten Veröffentlichungen über den erneuten Zusammenzug russischer Truppen erschienen, setzte die ukrainische Armee im Donbas zum ersten Mal türkische Bayraktar-Drohnen ein, was eine scharfe Reaktion Russlands hervorrief und Deutschland und Frankreich veranlasste, öffentlich Bedenken zu äußern. Aufschlussreich ist, wie sich der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj in dieser Situation verhielt. Der erste Hinweis auf den Einsatz von Bayraktar-Drohnen war nicht aus einer offiziellen Quelle gekommen, sondern stammte vom Chefredakteur des Onlineportals censor.net, Jurij Butusov, einem Sprachrohr der Anhänger*innen einer militärischen Lösung des Konflikts. Selenskyj beklagte sich einen Monat nach dem Vorfall darüber, dass die USA und die EU verlangt hätten, derartige Einsätze nicht zu wiederholen. Überdies machte er Butusov für den Tod von Menschen verantwortlich, weil seine Weitergabe von Informationen zu Vergeltungsschlägen geführt hätte. Bei der jährlichen Aussprache zur Lage der Nation im Parlament einige Tage später erklärte Selenskyj: »Wir werden den Krieg nicht beenden können, ohne direkt mit Russland zu verhandeln.«
Selenskyjs Rhetorik ist weniger kriegerisch, und er setzt mehr auf eine diplomatische Konfliktlösung als der ehemalige Präsident Petro Poroschenko in den letzten Jahren seiner Amtszeit. Vielmehr wirkt es so, als habe man alle Pläne aufgegeben, an der Situation im Donbas grundsätzlich etwas zu verändern.
Anstatt Frieden zu schaffen, versucht Selenskyj nun, die Sympathien der ukrainischen Wähler*innen mit einer offensiven Kampagne gegen die Oligarchen im Land zu gewinnen. Dies hat ihm einen Konflikt mit dem reichsten ukrainischen Oligarchen, Rinat Achmetov, beschert, der sich im Oktober und November zeitgleich zur Konzentration russischer Truppen nahe der ukrainischen Grenze entfaltete. Im Sommer war es nach dem Rücktritt von Innenminister Arsen Avakov zur Verhaftung einiger Mitglieder der Partei Nationales Korps gekommen, was das Verhältnis zwischen Selenskyj und den Rechtsradikalen weiter getrübt hat. In der zweiten Dezemberhälfte dann erklärte die Staatsanwaltschaft plötzlich, der ehemalige Präsident Poroschenko werde des Hochverrats verdächtigt. Hätte die ukrainische Führung tatsächlich eine Offensive im Donbas geplant, wären all diese Schritte unzweckmäßig und eher gefährlich für sie gewesen. Ein militärisches Abenteuer mit einer Niederlage würde Selenskyjs Ansehen erheblich schaden. Warum sollte er also unter den derzeitigen Umständen ein derartiges Risiko eingehen?
Selenskyj hat während seiner bisherigen Amtszeit gezeigt, dass er im Vergleich mit früheren ukrainischen Präsidenten ein weitaus besseres Gespür für die Stimmung der Wähler*innen hat. Er hat sicherlich einige sehr unpopuläre Schritte wie die Bodenreform unternommen. Die Öffnung des Bodenmarktes erfolgte aber unter dem Druck der Verhältnisse und des Internationalen Währungsfonds, während eine Offensive im Donbas von den USA und der EU nicht gutgeheißen würde. Für Selenskyj wäre es eine Lose-Lose-Situation, weil sowohl der Westen als auch die Mehrheit der Wähler*innen ein derartiges Handeln verurteilen würden. Eine militärische Lösung des Konflikts ist in der ukrainischen Bevölkerung unpopulär. Nur etwa 20 Prozent sind dafür.
Die Ost-Erweiterung der Nato
Der russische Präsident Wladimir Putin behauptet, es sei ein »legitimes Sicherheitsanliegen Russlands«, gegen die Osterweiterung der Nato vorzugehen, und viele linke Autor*innen stimmen ihm in diesem Punkt zu. Kann es dann auch ein »legitimes Sicherheitsanliegen der Ukraine« geben? Die von Russland vorgelegten Entwürfe für Verträge mit den USA und der Nato beinhalten keine Sicherheitsgarantien für die Ukraine, sondern nur für die Nato. Einige westliche Autor*innen haben dagegen eine sehr einfache Lösung vorgeschlagen. Der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs etwa schrieb im Dezember: »Die Nato sollte die Option einer Mitgliedschaft der Ukraine vom Tisch nehmen, und Russland sollte auf jeglichen Einmarsch verzichten.«
Das Problem: Russland ist bereits 2014 einmarschiert. Infolgedessen gibt es im Donbas nach wie vor einen militärischen Konflikt niedriger Intensität, während Moskau die Krim seit der Annexion in einen riesigen Militärstützpunkt verwandelt hat. Ein stabiler Frieden erfordert daher viel mehr als das Versprechen Russlands, von einer weiteren Invasion abzusehen.
Putin sagt die Wahrheit, wenn er darauf beharrt, dass die USA Gorbatschow und Jelzin versprochen haben, die Nato nicht weiter gen Osten zu erweitern, und dieses Versprechen gebrochen haben. Aber gibt das ihm das Recht auf eine bewaffnete Aggression gegen die Ukraine, auf eine Besetzung und Annexion der Krim, ganz zu schweigen von einem neuen Krieg? Putin rechtfertigt die eigene Verletzung des Budapester Memorandums mit dem Bruch des mündlichen Versprechens durch die Amerikaner. Nach Abschluss dieser internationalen Vereinbarung hatte die Ukraine ihr Atomwaffenarsenal aufgegeben, das nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu dem drittgrößten der Welt gehört hatte. Russland, die Vereinigten Staaten und Großbritannien verpflichteten sich damals, »die Unabhängigkeit, Souveränität und die legitimen Grenzen der Ukraine zu respektieren«, »auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit der Ukraine zu verzichten« und dafür zu sorgen, »dass niemals Waffen jeglicher Art gegen die Ukraine eingesetzt werden«. Mit dem Bruch dieser Vereinbarung hat Putin nicht nur dem ukrainischen Volk, sondern auch dem Kampf gegen das Wettrüsten in der Welt einen Schlag versetzt. Nach diesen Ereignissen wird es wohl schwierig werden, noch ein Land davon zu überzeugen, freiwillig auf Atomwaffen zu verzichten.
Die Linke sollte nicht die Perspektive von Staaten einnehmen, sondern von den Interessen der Menschen ausgehen, insbesondere jener Menschen, die auf beiden Seiten am meisten unter dem Konflikt zu leiden haben.
Die Diskussionen der Linken über die Osterweiterung der Nato beschränken sich oft auf die Frage, wie sich diese auf das Verhältnis zwischen den USA und Russland auswirkt. Das Problem kann jedoch nicht gelöst werden, ohne die Positionen der kleinen osteuropäischen Staaten einzubeziehen. Die Entscheidung zur Nato-Erweiterung wurde von Clinton in den 1990er Jahren getroffen, nicht nur aufgrund der Wahlerfolge der Republikaner, sondern auch infolge des Drucks der osteuropäischen Länder, die damals unter dem Eindruck von Jelzins antiparlamentarischem Putsch 1993 und dem Tschetschenien-Krieg standen. Ja, die Expansionspolitik der Nato war falsch. Hätten die USA einer umfassenden »Partnerschaft für den Frieden« den Vorzug gegeben, wären die Interessen sowohl Russlands als auch der Ukraine berücksichtigt worden. Doch selbst wenn wir all dies anerkennen, haben wir noch keine Antwort auf die Frage, was jetzt zu tun ist.
In seinem Artikel »Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern« beklagte sich Putin darüber, dass die Ukraine in ein »Anti-Russland-Projekt« umgewandelt wird. Aber die Hauptschuld daran trägt Putin selbst. Laut Umfragen schwankte die Unterstützung für den Nato-Beitritt in der ukrainischen Bevölkerung vor 2014 zwischen 20 und 30 Prozent. Es gab genauso viele Menschen, die einen EU-Beitritt befürworteten, wie Menschen, die für eine Annäherung an Russland waren. Dieses Gleichgewicht blieb auch nach dem Machtwechsel in Folge des Maidans erhalten.
Nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges im Donbas kam es zu einem massiven Stimmungsumschwung, der noch dadurch an Dynamik gewann, dass die Regionen, in denen die prorussische Stimmung am stärksten war, auf der anderen Seite der Grenze und der Frontlinie verblieben waren. Seither ergibt jede Umfrage eine deutliche oder sogar absolute Mehrheit in der ukrainischen Bevölkerung für einen Nato-Beitritt. Ohne die russische Intervention im Jahr 2014 hätte die antirussische Stimmung in der Ukraine niemals solche Ausmaße erreicht. Mit einer weiteren Invasion würde diese noch zunehmen.
Was kann die Linke tun?
Zu Beginn dieses Beitrages habe ich behauptet, die wirkliche Bedrohung bestünde nicht in einem Großangriff Russlands, sondern in einer begrenzten Invasion im Donbas. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Dinge danach entwickeln werden. Der Kreml mag einen »begrenzten Krieg mit einem leichten Sieg« im Auge haben, aber die ukrainische Armee ist nicht mehr die aus dem Jahr 2014. Gelingt es dem Kreml nicht, seine Ziele zu erreichen, so könnte ein »kleiner« Krieg schnell eskalieren und sich zu einem viel größeren auswachsen.
Die Linke sollte nicht die Perspektive von Staaten einnehmen (auch wenn es wichtig ist, diese bei der Analyse der Konflikte zu berücksichtigen), sondern einen Standpunkt, der die Interessen der Menschen vertritt, insbesondere jener Menschen, die auf beiden Seiten der Frontlinie am meisten unter dem Konflikt zu leiden haben.
Es darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass die Mehrheit der Bewohner*innen der Regionen, die am meisten unter dem Krieg leiden oder im Falle einer neuen Intervention am meisten zu leiden hätten, viel eher zu Kompromissen mit Russland bereit und insbesondere gegen einen Beitritt zur Nato ist. Die Stimmen dieser Menschen werden in der Ukraine meist ignoriert, was nicht sein darf, denn Konflikte müssen unter Einbeziehung jener Menschen gelöst werden, die direkt davon betroffen sind.
Die ukrainischen Linke vertritt radikal voneinander abweichende Haltungen zum Krieg. Ich habe nur eine davon vorgestellt. Von absolut vorrangiger Bedeutung ist aber ein Punkt: Alle Provokationen im Donbas müssen verhindert werden! Dafür gibt es eine einfache, aber konkrete Forderung, die Menschen guten Willens auf beiden Seiten der Barrikaden, Grenzen und Frontlinien vereinen kann: die Stationierung von UN-Friedenstruppen im Donbas. Ein derartiger Schritt steht im Widerspruch zu den Interessen derjenigen, die sich die Möglichkeit der Anwendung von Gewalt offenhalten wollen. Genau hier sollten wir also ansetzen.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Susanne Macht. Die deutsche Übersetzung erschien im Januar bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Für diese Ausgabe wurde der Text gekürzt und leicht redaktionell bearbeitet.