Erinnern an Utøya
Vor zehn Jahren tötete ein Rechtsterrorist 69 Menschen auf der norwegischen Insel – das Gedenken ist umstritten
Von Jana Herrmann
Am 22. Juli 2021 jähren sich die Anschläge eines rechten Attentäters auf ein Regierungsgebäude in Oslo und ein Zeltlager der sozialdemokratischen Parteijugend AUF auf der Insel Utøya zum zehnten Mal. In Oslo starben dabei 2011 infolge einer Autobombendetonation acht Menschen. Die Bombe war gezielt unter das Büro des damaligen norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg platziert worden, der sich jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht dort aufhielt. Der Täter fuhr anschließend zu einem etwa eine Autostunde von Oslo entfernten Fähranleger im Tyrifjord, von welchem aus man sich in wenigen Minuten auf die Insel Utøya bringen lassen kann. Uniformiert gab er sich als Polizist aus. Er tat so, als sei er gekommen, um die über 500 Jugendlichen, die auf der Insel an einem politischen Sommerzeltlager teilnahmen, über den Bombenanschlag in Oslo aufzuklären.
In den darauffolgenden 72 Minuten erschoss er 69 Menschen und verletzte und traumatisierte viele Weitere schwer. Der Großteil der Opfer war minderjährig. Die grausamen Details der kaltblütigen Vorbereitung und Durchführung des Anschlags sowie die psychische Verfassung des Täters und dessen Einbindung in rechte Netzwerke wurden bis zu dessen Gerichtsprozess im Jahr 2012 in der Öffentlichkeit ausführlich debattiert. Mittlerweile sind mehrere Bücher und vor kurzem auch zwei Filme über den Anschlag erschienen.
Für die internationale sozialistische und sozialdemokratische Bewegung stellten diese Anschläge eine Zäsur dar. Der Täter gab in seinem Manifest und auch in der Gerichtsverhandlung offen zu, dass er die sozialdemokratische Regierungspartei für deren Migrationspolitik hasste und mit dem Anschlag auf die Jugendorganisation beabsichtigte, die auf Utøya versammelte Zukunft der Partei auszulöschen. Der über viele Monate perfide entwickelte Plan, den »Kulturmarxismus« durch rechten Terror zu anzugreifen, der sich gezielt gegen Kinder und Jugendliche richtet, ist so grausam, dass man sich kaum vorstellen kann, dass ein so einfältiger Mensch ihn alleine erdacht haben soll. Zudem habe er geplant, die frühere Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die an diesem Tag dort einen Vortrag hielt, öffentlich zu enthaupten, jedoch war Brundtland bereits abgereist.
Drohbriefe und Schmähungen
Ihr Nachfolger Stoltenberg sprach zwei Tage nach dem Amoklauf bei einer Trauerfeier Worte, die um die Welt gingen: »Unsere Antwort lautet: Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.« Bei den kurz darauffolgenden Kommunalwahlen wurde die Arbeiderpartiet (deutsch Arbeiterpartei) wie gewohnt stärkste Kraft, viele junge Norweger*innen entschieden sich zudem aus Solidarität, Mitglied in der Jugendorganisation Arbeidernes Ungdomsfylking (AUF) zu werden. Bilder von Blumen- und Fahnenmeeren und das kraftvolle Symbol des Verbandes, die rote Flamme, wurden in das internationale Gedächtnis eingebrannt. Der Eindruck entstand, Norwegens Demokratie sei gestärkt aus diesem Angriff hervorgegangen, man sei näher zusammengerückt, habe sie erfolgreich gegen Feinde von außen verteidigt und dadurch verfestigt.
Die Vermutung, dass die AUF durch ihr Schicksal und den Aufarbeitungsprozess letztlich vor allem an Kraft und gesellschaftlichem Zuspruch gewonnen hätte, täuscht jedoch ebenso sehr wie die falsche Hoffnung, dass die Norweger*innen durch den rechten Anschlag zu einem Volk von Antifaschist*innen zusammengewachsen wären. Die Überlebenden des 22. Juli 2011 sind trotz oder gerade wegen ihrer erfolgreichen Flucht seit Jahren massiven gesellschaftlichen Schmähungen, insbesondere von rechter und konservativer Seite ausgesetzt. Viele von ihnen erhalten regelmäßig Drohbriefe, in denen man ihnen wünscht, sie wären bei dem Massaker ebenfalls ums Leben gekommen.
Auch der Täter selbst schrieb einigen von ihnen aus dem Gefängnis Briefe. Gerade diejenigen, die ein politisches Amt bekleiden und namentlich der Öffentlichkeit bekannt sind, haben darunter zu leiden. Viele von ihnen, die ohnehin mit den psychischen Folgen der Tat zu kämpfen hatten, hielten dem Druck, der auf sie ausgeübt wurde, nicht stand und zogen sich aus der politischen Arbeit zurück. Im Wahlkampf oder im Parlament wird jeder Hinweis der Arbeiderpartiet auf die Gefahren von rechtem Terror aggressiv abgebügelt mit dem Vorwurf, nun schon wieder »die Utøya-Karte zu spielen«. Dies führte im Laufe der Zeit dazu, dass sich das nationale Gedenken des norwegischen Staates immer weiter entpolitisierte, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, es im Sinne der Arbeiderpartiet politisch zu instrumentalisieren.
Bis heute ist es zudem nicht gelungen, ein staatliches Denkmal für die Ermordeten zu errichten. Zwar gab es bereits Pläne für eine Gedenkstätte am Ufer des Tyrifjord, denn die Insel selbst ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Diese Pläne wurden aber von denselben Anwohner*innen sabotiert, die im Jahr 2011 mit ihren Booten flüchtende Jugendliche aus dem eiskalten Wasser retteten. Zu Gedenkveranstaltungen auf der Insel liehen sie Presslufthämmer aus, um das Andenken durch Lärm zu stören, gegen das Aufstellen des Denkmals reichten sie Klage ein, mit der Begründung, dessen Anblick würde sie »retraumatisieren«. Nachdem nun gerichtlich zu ihren Ungunsten entschieden wourden war, wollen sie vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.
Schwieriges Gedenken
Auf Utøya selbst gibt es schon seit geraumer Zeit einen Gedenkort. Die AUF hat sich mit der Frage, was nach dem Attentat mit der Insel geschehen soll, die seit 1950 im Privatbesitz der Jugendorganisation ist, bereits früh und intensiv auseinandergesetzt. Die Camps dort stellen damals wie heute einen wichtigen Teil der politischen Sozialisation für Mitglieder des Verbandes dar und auch befreundete Organisationen, wie der sozialistische Kinderverband Framfylkingen, verbringen dort regelmäßig den Sommer mit ihren Mitgliedern.
Die Entscheidung, die Insel als Ganzes zu einer Gedenkstätte zu erklären, hätte also bedeutet, sie dem politischen Nachwuchs als Ort der Autonomie und Selbstentfaltung zu entziehen. Die Debatten darum waren sehr intensiv. Einige Überlebende vertraten die Ansicht, man solle den großen Speise- und Versammlungssaal, in dem viele Jugendliche am 22. Juli 2011 ermordet wurden, einfach abreißen, denn es sei ihnen bei diesem Anblick nicht möglich, die Insel je wieder zu betreten. Utøya ist nicht sehr groß, man kann den Saal nicht einfach umgehen. Andere jedoch hatten sich dort vor dem Täter verstecken können. Für sie und einige Angehörige war es wichtig die Möglichkeit zu haben, an diesen Ort zum Erinnern und Trauern zurückkehren zu können. Sie wünschten sich, dass alles möglichst unverändert bleibt. Das Argument, dass Utøya auch weiterhin ein Ort sein soll, an dem Jugendliche Spaß haben können und nicht ständig mit der Geschichte des Platzes konfrontiert sein sollen, wog schwer.
Schließlich entschied man sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Der Saal wurde nicht abgerissen. Jedoch wurde über das alte Gebäude ein Museum mit Bildungsstätte gebaut, in dessen Zentrum alles unverändert blieb. Die Außenseite des Museums ist verspiegelt, sodass der darunter stehende Saal nicht im Vorbeigehen sichtbar ist. Es ist ein modernes und hohes Gebäude. 69 Säulen, die an die 69 Genoss*innen erinnern, die dort ihr Leben verloren, stützen das Konstrukt, sie sind geschützt durch 495 Bretter, ebenso viele, wie Menschen, die das Massaker überlebten.
Im Inneren haben Freund*innen und Verwandte der Verstorbenen Bilder und Blumen abgelegt, direkt an den Einschusslöchern im Fußboden.
Ein Gang durch das Museum macht betroffen. Es gibt wenig Distanz zu den Geschehnissen − vielleicht liegt es daran, dass all das noch nicht lange her ist. Schon im Eingangsbereich hängen Tafeln, auf denen die Nachrichten und Chatverläufe derjenigen dokumentiert sind, die zum Zeitpunkt des Anschlags auf der Insel waren. Ihre verzweifelten Versuche, Hilfe zu holen, sind hier nachzulesen, aber auch ihre letzten Worte an ihre Lieben, in dem Wissen verfasst, diese vermutlich nie wiederzusehen. Im Inneren haben Freund*innen und Verwandte der Verstorbenen Bilder und Blumen abgelegt, direkt an den Einschusslöchern im Fußboden. Das klingt hart, aber das Besondere an diesem Ort ist, dass diejenigen, die damit verbunden sind, über die Gestaltung mitentscheiden konnten und es sich genau so gewünscht haben.
Das Denkmal für die Überlebenden ist daher auch an einer anderen, abgeschiedeneren Stelle von Utøya angebracht, ein ruhiger Ort, an dem niemand ums Leben kam, um hier keine Gewichtungen vorzunehmen. Es ist ein großer, goldener Ring, der zwischen den Bäumen hängt und in den die Namen und das Alter der Opfer zum Zeitpunkt ihres Todes eingelassen sind.
Trotzdem kam es auch innerhalb der AUF immer wieder zu Kontroversen darüber, wie die eigene Gedenkpolitik aussehen und vor allem, wie fortan die politische und pädagogische Arbeit gestaltet sein soll. Die Zeltlager der AUF sind seit ihrer Wiederaufnahme im Jahr 2015 durch Polizeischutz gesichert. Dies soll ein Signal für Eltern und auch für die an der AUF interessierten Jugendlichen selbst sein: Hier ist es sicher. Für einige der Überlebenden ist die Präsenz von Polizeiuniformen auf der Insel jedoch unerträglich, ihr Vertrauen in die Polizei schwer erschüttert. Sie entschieden sich daraufhin, nicht mehr nach Utøya zurückzukehren.
Keine Einzelfälle
Im zehnten Jahr nach dem rechten Terroranschlag in Oslo und auf Utøya wird auch Berlin ein Denkmal in Erinnerung an die Opfer des 22. Juli bekommen. Die beiden deutschen Schwesterorganisationen der AUF, die SJD – Die Falken und die Jusos, die jährlich bei ihren Sommermaßnahmen und vor den nordischen Botschaften an das Attentat erinnern, haben einen Gedenkort geschaffen. Vor dem Jugendzentrum Anton-Schmaus-Haus in Berlin-Neukölln wird eine Bronzetafel errichtet. Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Auch in Neukölln hat es eine Serie rechter Terroranschläge gegeben, diese konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Das Schmaus-Haus brannte dabei zweimal ab. Mit Kindern und Jugendlichen, die selbst jedes Jahr in Sommercamps fahre,n über diese Thematik zu sprechen, ohne sie zu verängstigen, ist eine pädagogische Herausforderung. Das Denkmal soll daher mit einem QR-Code versehen werden, der auf eine Homepage mit Bildungsmaterial verweist.
Rechter Terror steht nicht für sich. Die Täter*innen vernetzen sich, sie radikalisieren sich im Internet, für ihre Hass-Manifeste schreiben sie voneinander ab, sie bewundern diejenigen, die es »durchgezogen« haben, wie den Täter aus Norwegen, für ihre Konsequenz. Eine wirkungsvolle Arbeit gegen rechten Terror bedeutet daher, auch vermeintliche Einzelfälle konsequent zu untersuchen und zu verfolgen. Staatliche Gedenkarbeit bedeutet für die Betroffenen und Überlebenden zwar die öffentliche Anerkennung ihres Leides und ist daher wichtig. Die Gestaltung der Trauerarbeit muss dabei jedoch diejenigen eng einbeziehen, die selbst betroffen sind oder die täglich mit der Angst leben müssen, vielleicht die nächsten zu sein.