Asylrecht, nein danke
Das einzige, worauf sich die EU-Mitgliedsstaaten einigen können, ist die weitere Entrechtung Schutzsuchender
Von Bernd Kasparek und Carolin Wiedemann
Der »Sommer der Migration« liegt mehr als ein halbes Jahrzehnt zurück, und dass nun die Situation an den Außengrenzen zum ersten Mal seit langem wieder ein großes Thema ist, liegt an den materialistischen Bildern, die Polen und Belarus von der Grenze zwischen beiden Ländern produzieren. Davor war Europas Migrations- und Asypolitik fast aus den Nachrichten verschwunden. Im bundesdeutschen Wahlkampf hörte man kaum ein Wort zur Situation von Asylsuchenden. Aus Sicht der EU, könnte man meinen, wäre es also eigentlich der richtige Zeitpunkt, endlich jenen politischen Kompromiss für eine europäische Migrationspolitik zwischen den Mitgliedsstaaten auszuhandeln, um den sie seit Jahren ringt.
Ideen für einen solchen EU-Migrationspakt kursieren seit Langem. Im September vergangenen Jahres legte die Kommission sogar einen Entwurf vor: das »Neue Asyl- und Migrationspaket«. Ein Entwurf, der bei Weitem nicht für eine »Willkommenskultur« steht, der lediglich versucht, bestehendes Recht, das Recht auf Asyl, zu dem die Genfer Konvention verpflichtet, auf Minimalniveau einzuhalten. Doch selbst das geht den meisten Mitgliedsstaaten zu weit.
Die meisten Mitgliedsstaaten haben kein Interesse, auch nur die geringsten Standards des Asylrechts einzuhalten. Sie heucheln es nicht einmal mehr.
Die Nationalist*innen in den einzelnen Ländern haben längst die Haltung der jeweiligen Regierungen nach rechts verschoben – an ein gemeinsames europäisches Asylsystem ist nicht mehr zu denken. Die meisten Mitgliedsstaaten haben zudem überhaupt kein Interesse mehr an einer Einigung. Sie haben kein Interesse mehr, auch nur die geringsten Standards des Asylrechts einzuhalten. Sie heucheln es nicht einmal mehr.
Der Vorschlag der Kommission war mit Unterstützung der damaligen deutschen Ratspräsidentschaft ausgearbeitet worden, er sah ein System von Lagern und abgekürzten Asylverfahren an den Grenzen Europas vor. Eine Vorprüfung sollte nach diesem Vorschlag dafür sorgen, dass nur Personen, die wirklich schutzbedürftig seien, überhaupt ein Asylverfahren kriegen sollten. Allen anderen sollte die sofortige Abschiebung drohen. Die zuständige EU-Innenkommissarin Ylva Johansson ließ hierzu verlauten, dass 70 Prozent der Ankommenden sicherlich nicht asylberechtigt wären. Außerdem sah der Plan eine neue Arbeitsteilung unter den Mitgliedstaaten vor, die künftig die Wahl haben sollten zwischen der Aufnahme von Schutzsuchenden und der Rückführung abgelehnter Asylbewerber*innen. Die menschenrechtlichen Risiken solcher Neuerungen wären immens, warnte etwa die Stiftung Wissenschaft und Politik. Doch vielen EU-Mitgliedstaaten war selbst dieser Vorschlag zu differenziert, zu freundlich gegenüber Asylsuchenden.
Pushbacks und neue Zäune
Mittlerweile, also über ein Jahr später, ist klar, dass das neue Paket nicht umgesetzt werden wird. Zwar ist die Kommission dort vorgeprescht, wo sie im Bereich der Migrationsaußenpolitik nach eigenem Gutdünken handeln darf. Doch angesichts der Frage, wie mit all den Schutzsuchenden umzugehen sei, die es eigenständig an die Grenzen Europas schaffen, besteht weiter Uneinigkeit. Die Staaten im Süden der EU wollen keine Lager auf ihrem Gebiet bauen, und die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) verweigern sowieso jegliche Aufnahme.
Wie wollen sie dann in Zukunft Asylrecht gewähren? Gar nicht. Sie setzen stattdessen immer offensiver auf die gewaltsame Zurückweisung von Schutzsuchenden an ihren Grenzen: auf Pushbacks. Obwohl nach europäischem Recht auch Personen, die eine Grenze unerlaubt überquert haben, das Recht auf ein Asylverfahren haben, werden sie vermehrt von nationalen Grenzschutzeinheiten unter Gewaltanwendung zurückgedrängt. Pushbacks sind nicht nur nach europäischem Recht illegal, tatsächlich stellen sie den Grundpfeiler der Genfer Flüchtlingskonvention – das Zurückweisungsverbot – fundamental in Frage.
Trotzdem sind sie mittlerweile an vielen Abschnitten der europäischen Außengrenze Alltag – etwa auf dem Mittelmeer, wo auch die europäische Grenzagentur Frontex mitwirkt, und an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien. Das dokumentieren seit Jahren Journalist*innen, Aktivist*innen, NGOs und selbst das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Belege, die die Mitgliedsstaaten wie auch die Kommission jedes Mal anzweifelten. Man sehe keinen Anlass einzuschreiten, hieß es immer wieder. Anfang Oktober aber war die Beweislast zu den brutalen Pushbacks dank einer internationalen Recherchekooperation so erdrückend, dass die EU sich nicht mehr herausreden konnte. Innenkommissarin Ylva Johansson gab sich schockiert über die Dokumente. Das müsse aufgeklärt werden. Ändern wird sich nichts.
Bereits im März 2020 konnte die EU die Gewalt gegen Schutzsuchende an der griechisch-türkischen Landgrenze entlang des Flusses Evros nicht mehr leugnen. Die türkische Regierung hatte Geflüchtete an die griechische Grenze gezwungen und so einen Ausnahmezustand provoziert. Griechenland schickte daraufhin Polizei und Armee in die Region, erstmals wurde auf Schutzsuchende geschossen, mehrere Menschen starben. Die konservative griechische Regierung suspendierte das Recht auf Asyl – dennoch sicherte ihr die Kommission weiterhin volle Unterstützung beim »Grenzschutz« zu. Hinter den Kulissen wurde dafür gesorgt, dass das Asylsystem nach wenigen Wochen stillschweigend wieder aktiviert wurde. Die EU versäumte es, zu Gunsten des Rechts auf Asyl zu intervenieren, obwohl es offen wie nie zuvor in Frage gestellt worden war.
Die EU-Randstaaten rüsten auf
Und so findet das Vorgehen der griechischen Regierung Nachahmer. Als nun auch das belarussische Regime begann, gezielt Schutzsuchende aus der ganzen Welt an die polnische Grenze zu bringen, rief die polnische Regierung den Ausnahmezustand aus, mobilisierte die Armee und errichtete eine Sperrzone, zu der weder Journalist*innen noch Parlamentarier*innen oder humanitäre Organisationen Zugang haben. Klar ist nur, dass jegliche Schutz suchende Person, die von Armee oder Polizei angetroffen wird, unverzüglich und unter Anwendung von Gewalt über die Grenze nach Belarus zurückgeschoben wird. Auch hier kam es mittlerweile zu mehreren Todesfällen. Johansson spricht von bedauernswerten Einzelfällen, die von der nationalen Justiz zu untersuchen und gegebenenfalls zu ahnden wären.
Während sich nun einzelne EU-Politiker*innen bemühen, Untersuchungen zu den Rechtsbrüchen in die Wege zu leiten, rufen andere nach einem gegensätzlichen Weg: Jetzt, da die Pushbacks nicht mehr von der Hand zu weisen sind, sollen sie legalisiert werden.
Am 7. Oktober schrieben zwölf Innen- und Migrationsminister*innen europäischer Staaten einen gemeinsamen Brief an die EU-Kommission. Darin fordern die Minister*innen Österreichs, Bulgariens, Zyperns, Tschechiens, Dänemarks, Estlands, Griechenlands, Ungarns, Litauens, Lettlands, Polens sowie der Slowakei die Reform des Schengener Grenzkodex – des europäischen Gesetzes, welches Grenzkontrollen und -überwachung regelt.
Die einzelnen Länder an den Außengrenzen bräuchten erstens sofort erweiterte Befugnisse. Die Minister*innen formulieren hier zwar nicht im Detail, wie diese Befugnisse aussehen sollten. Dass es um die Legalisierung von Pushbacks geht, wird jedoch klar, wenn es dort heißt: Überwachung und Kontrolle allein seien nicht ausreichend, um Asylsuchende vom Grenzübertritt abzuhalten. Zweitens bräuchte es präventive Maßnahmen. Es sei nicht mehr zeitgemäß, dass der Schengener Grenzkodex keine physischen Barrieren vorsähe. Die Möglichkeit von Zäunen und Mauern an den europäischen Außengrenzen müsse juristisch verankert werden. Die Minister*innen scheuen sich nicht, diesen Brief mit den Worten zu beenden: Man müsse über Lösungen nachdenken, die europäischen Werten entsprechen.