Assad, Nach-Assad und die vollendete Ewigkeit
Gedanken über das Erbe des syrischen Langzeitdiktators und Fragen an die Zukunft
Mehr als ein halbes Jahrhundert Folter- und Überwachungsdiktatur in Syrien ist vorüber. Viele Menschen im Land feiern, andere fürchten sich und blicken unsicher in die Zukunft, ohne zu wissen, was als Nächstes auf sie zukommt. Viele trauern zugleich. Eines ist jedoch klar: Dies ist nicht das Ende der syrischen Sache.
Das Assad-Regime setzte jahrzehntelang auf Unterdrückung, Erniedrigung und Entmenschlichung. Hört das nun auf, nur weil Assad weg ist? Welche Zukunft kann es in der Region geben, wenn gleichzeitig Rojava angegriffen wird und Israel den Nahen Osten nach eigenen Interessen umgestaltet? All diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund eines Konfliktes, in dem rivalisierende Gruppen schon seit geraumer Zeit auf intervenierende Partner setzen, darunter Russland, Iran, die Türkei und die USA, die dabei auch ihre eigenen Interessen verfolgen.
Die Rebellen sind jetzt an der Macht
Wenige Tage nach dem Sturz Assads gibt es zunächst einiges an Hoffnung auf Veränderung, Chaos, aber auch eine neu erstarkte islamistische Macht. Es wird berichtet, dass das islamistische Rebellenbündnis Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) die meisten Provinzen, Großstädte sowie die Hauptstadt Damaskus nahezu kampflos und innerhalb weniger Tage übernehmen konnte. Derzeit kontrolliert HTS die Mehrheit dieser Gebiete, die zuvor unter der Kontrolle von Assad standen. Die Rebellengruppen sind verschieden und haben in der Vergangenheit sowohl miteinander als auch gegeneinander gekämpft. Ihre Ursprünge und Anbindungen reichen von Al-Qaida, über den Islamischen Staat (IS) bis zur Türkei. Das gilt auch für den HTS-Anführer Ahmad al-Shaar’a (bekannt als Abu Muhammad al-Dschaulani), der auf westlichen Terrorlisten steht und gegen den früher in diesem Jahr Menschen in Idlib, wo HTS seit Jahren bereits herrscht, protestiert haben.
HTS hat mittlerweile den Chef einer nationalen Übergangsregierung ernannt, deren Mandat bis zum 1. März gelten soll. Berichten zufolge herrscht in den von HTS kontrollierten Städten Ruhe, und es heißt, dass die Gruppe mit den lokalen Vertretungen der ethnischen und religiösen Gruppen vor Ort kooperiere. Es häufen sich derzeit Nachrichten über Einschränkungen von Frauenrechten oder Angriffe seitens der HTS. Allerdings sind darunter auch Falschmeldungen, die nicht der aktuellen Realität entsprechen. Die HTS behauptet im Moment, eine neue Politik zu verfolgen und verspricht, sich für alle zu öffnen, was sowohl Zustimmung als auch Ablehnung hervorruft. Über die Front der Syrischen Nationalarmee (SNA) wird indes kaum berichtet, obwohl dort das Leben vieler Minderheiten, wie Kurd*innen und Assyrer*innen, akut bedroht ist. Die SNA-Rebellen, die von der Türkei kontrolliert werden, richten ihren Kampf gegen kurdische Kräfte und die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Dies geschieht, da die Türkei die Selbstverwaltung von Rojava (AANES) in Nordost-Syrien zerschlagen möchte. Infolgedessen müssen Menschen, die bereits vor islamistischem Terror geflohen waren, erneut fliehen.
Der Nachlass des Regimes
Bilder und Videos zirkulieren im Internet: Zivilist*innen stehen auf den Straßen und an Orten, an denen man zuvor kaum hätte stehen dürfen. Sie stürmen die Häuser Assads und seiner Regimefiguren, ihre Privatbilder werden zu Memes, ihre Folterkeller zu Zeugnissen. Menschen stürzen die Statuen von den Assads und zerreißen die Propagandabilder von ihm und seinen Verbündeten Iran, Russland und Hisbollah. Die Straßen sind voller Menschen, die Angst haben und trauern. Doch viele tragen auch einen Funken Hoffnung in sich. Vielleicht feiern sie sogar, dass sie nun offen trauern können, während Foltergefängnisse wie Sednaya, das »Schlachthaus« von Assad, befreit werden.
Das Erbe der Assads wiegt schwer: Mehr als 620.000 Zivilist*innen kamen innerhalb von weniger als 14 Jahren ums Leben. Das Syrian Network for Human Rights schätzt, dass viele der Verschwundenen in Assads Gefängnissen und Haftzentren getötet wurden. Nach wie vor warten zahlreiche Familien auf Informationen über ihre Vermissten oder auf konkrete Hinweise zu deren Schicksal. Rund 14 Millionen Menschen wurden im Zuge des Krieges vertrieben, mehr als die Hälfte davon innerhalb des Landes. Die Infrastruktur ist zerstört, internationale Sanktionen bestimmen die Wirtschaft, und der Westen reagiert eher mit Abschiebeplänen anstatt mit Unterstützungsmaßnahmen für die nächste Zeit.
Assad manipulierte Minderheiten und spielte sie gegeneinander aus. Manche erhielten bestimmte Rechte, die er gleichzeitig anderen entzog.
Viele Menschen aus Syrien haben damit begonnen, in den Medien und online offen über ihre Geschichten, ihren Alltag, ihre Gefängniserfahrungen und unzählige zuvor stets unterdrückte Realitäten zu sprechen. Heute kann man diese Dinge zumindest laut aussprechen, ohne sofort Angst haben zu müssen. Fast niemand hätte geglaubt, dass Assad je gestürzt werden würde. Gleichzeitig fürchten viele die islamistischen Rebellen, auch wenn einige zunächst ein gemäßigtes Gesicht zeigen, was zumindest für etwas Erleichterung sorgt. Syrer*innenn kennen die Revolution, den Krieg, die Luftangriffe, die Geheimdienste und die fremden Kämpfer, die ihr Land zu ihrem Schlachtfeld gemacht haben. Die Reaktionen und Erwartungen unter der Bevölkerung lassen sich kaum in Worte fassen, da die Menschen in Syrien nun ihr Land, sich selbst und einander erst neu kennenlernen müssen.
Zwei Generationen Assad
Seit den 1970er Jahren herrschte die Familie Assad über Syrien und etablierte eine der blutigsten Diktaturen unserer Zeit. Viele Menschen aus Syrien sprechen bewusst von der ganzen Familie und nicht nur von Baschar al-Assad und seinem Vater Hafiz al-Assad, da Hafiz al-Assad das Land schrittweise an sich riss und es in ein Familienerbe verwandelte. Dies zeigte sich in der Ressourcenverteilung, den Terrorstrategien und der Marginalisierung, unter denen die syrische Bevölkerung insgesamt litt. Die Führung nutzte die Belange der Arbeiter*innen, antiimperialistische Parolen sowie den vermeintlichen Schutz einiger Minderheiten, um ihre eigene Existenz und die fortwährende Ausgrenzung politischer und sozialer Gruppen zu rechtfertigen. Angst, Folter, Überwachung und die systematische Unterdrückung jeglichen Aufbegehrens bildeten den Kern ihrer Herrschaft: Wer widersprach, zahlte mit dem Leben.
Diese Gewalt richtete sich gegen alle, oft insbesondere gegen Minderheiten wie Kurd*nnen, aber auch gegen Kommunist*innen, generell politische Oppositionelle oder Menschen, die einfach nicht in das gewünschte Bild passten. Auch Mitglieder der Muslimbruderschaft und andere, die in Deutschland häufig als Islamisten bezeichnet werden, waren von systematischer Verfolgung und Massakern betroffen, wie etwa in Hama, wo 1982 innerhalb von weniger als einem Monat bis zu 40.000 Menschen, darunter ganze Familien, vom Regime getötet wurden.
Assad manipulierte Minderheiten und spielte sie gegeneinander aus. Manche erhielten bestimmte Rechte, die er gleichzeitig anderen entzog. Nach außen gab er sich säkular, während er im Inneren einen völlig anderen Kurs verfolgte. Sein vorgeblicher Antiimperialismus kriminalisierte nahezu alle und alles und stärkte so seinen eigenen, nach innen gerichteten Imperialismus. Er homogenisierte arabische und muslimische Identitäten und erhob dieses vereinheitlichte Bild zum Standard in einem Land, das in Wirklichkeit eine reiche ethnische und religiöse Vielfalt aufweist – darunter Araber*innen, Kurd*innen, Assyrer*innen, Turkmen*innen, Kaukasier*innen, Armenier*innen sowie Sunnit*innen, Christ*innen, Alawit*innen, Drus*innen, Ismailit*innen, Schiit*innen ebenso wie Atheist*innen und andere. Gleichzeitig holte er nach dem Aufstand gegen seine Herrschaft 2011 imperiale Mächte ins Land, um gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen, die in den Folgejahren mit chemischen Waffen, Fassbomben und Massenverhaftungen bekämpft wurde. Sein Erbe: Hunderttausende Tote, Millionen Geflüchtete und eine fragmentierte Gesellschaft, die zwischen den Machtansprüchen verschiedenster lokaler, internationaler und externer Akteure zerrieben wurde.
Der Sturz ist historisch – was nun?
Der mediale Diskurs über Syrien und Rojava ignoriert die komplexe Realität vor Ort und zieht immer wieder fragwürdige Schlüsse, die der tatsächlichen Lage nicht gerecht werden. Plötzlich wird Assad in den Medien rückwirkend als Garant für Sicherheit, Minderheitenschutz und Gerechtigkeit dargestellt? Die Assad-Diktatur selbst und nicht ausschließlich ihr Ende haben diesen komplexen Kontext geschaffen, in dem Frieden verunmöglicht wird und eine Herausforderung für die Zukunft bleibt.
In der Vergangenheit wurde das Leid stets das Leid der einen oder anderen Menschengruppe als Kollateralschaden porträtiert. Dies ist keine Wahrheit, die wir akzeptieren dürfen. Syrische Menschen sind nicht naiv, sie repräsentieren nicht den Terror, den sie selbst am eigenen Leib erfahren haben, und sie verdienen es, als Teil eines komplexen Bildes gesehen zu werden, wie alle anderen Menschen auch. In den letzten Jahren und Monaten war Syrien keine »catchy Schlagzeile«, selbst wenn Idlib und viele andere Orte bombardiert wurden und obwohl diese Luftangriffe des Assad-Regimes viele zivile Opfer bedeuteten. Doch als Assad gestürzt wurde, stieß ich hier und dort auf Kommentare, die diese Zivilbevölkerung pauschal als Islamisten oder naive Islamismusverhamloser*innen verunglimpften. Syrer*innen sind mehr als Opfer oder gefährliche Islamisten. Viele gehen jetzt auf die Straße, weil sie es jetzt einfach dürfen.
Dass Assad nach all den Jahren gefallen ist, ist ein Katalysator für neue politische Auseinandersetzungen und Machtkämpfe. Für viele Syrer*innen ist die plötzliche Freiheit vom Regime nicht gleichbedeutend mit Sicherheit, Stabilität oder Gerechtigkeit. Sie müssen sich mit ethnischen und religiösen Spannungen auseinandersetzen, die in den letzten Jahren noch vertieft wurden. Minderheiten wie die Alawit*innen, die bisher als Vorwand zur Machterhaltung des Regimes instrumentalisiert wurden, stehen nun vor der Herausforderung, sich in einem neuen politischen Umfeld zu positionieren, ohne wieder als Spielfiguren fremder Mächte missbraucht zu werden. Ohne strukturelle Aufarbeitung der Verbrechen, zwanglose Rückkehrmöglichkeiten für Geflüchtete und den Wiederaufbau von Infrastruktur bleibt das Land anfällig für neue Gewalt und Krieg.
Die syrische politische Opposition müsste sich zusammenschließen und prüfen, was sie aus der UN-Resolution 2254 (1) von 2015 ableiten und umsetzen kann, um Syrien nicht fallen zu lassen. Dafür braucht es auch internationale Unterstützung; es braucht, dass wir die Diktatur als solche begreifen und die diversen Erfahrungen der syrischen Bevölkerung respektieren. Ich lese überall, es sei ein historischer Moment. Aus einem historischen Moment erwächst eine historische Verantwortung, eine nachhaltige und gerechte Zukunft für Syrien zu ermöglichen. Daher, während wir unmittelbar die Augen auf Rojava richten müssen, sollten wir Damaskus nicht ignorieren, denn wenn Rojava den Schlüssel zum Frieden bietet, ist Damaskus das Schloss.
Anmerkung:
1) Die UN-Resolution 2254 wurde am 18. Dezember 2015 beschlossen; sie fordert einen Waffenstillstand und eine politische Lösung sowie territoriale Unversehrtheit für Syrien.