Viel mehr als Freihandel
Das asiatisch-pazifische RCEP-Abkommen wird soziale und geopolitische Auswirkungen haben
Von Jenny Simon
Im November unterzeichneten 15 asiatisch-pazifische Staaten, darunter China, Japan und Australien, das größte Freihandelsabkommen der Welt – und das trotz des globalen Trends weg von multilateralen Freihandelsabkommen, des Handelskriegs zwischen den USA und China sowie der Auseinandersetzungen zwischen regionalen Mächten innerhalb Asiens. In den beteiligten Ländern leben etwa 2,2 Milliarden Menschen; auf sie entfiel vor der Pandemie knapp ein Drittel des Welthandels – Tendenz steigend. Die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP, regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft) schafft damit einen neuen Wirtschaftsraum mit einheitlichen handelspolitischen Regeln und wird eine Verlagerung von Investitionen und Wertschöpfungsketten begünstigen. Das RCEP wird auch hinsichtlich geopolitischer Auseinandersetzungen um Einfluss innerhalb Asiens und die Rolle Asiens in der Welt von Bedeutung sein.
Unterzeichnet wurde das RCEP von den Mitgliedern im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) – Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam -, den ASEAN+3-Mitgliedern China, Japan und Südkorea sowie Australien und Neuseeland. Allerdings muss dem Abkommen nach den internationalen Verhandlungen nun noch innerhalb der Mitgliedsstaaten zugestimmt werden. Indien war 2019 aufgrund von Konflikten um die Reichweite der Liberalisierungsmaßnahmen mit China ausgeschert.
2012 war die Initiative zum Freihandelsabkommen von den ASEAN-Staaten ausgegangen. Der Anfang verlief schleppend. Mehrfach wurden selbst gesetzte Fristen nicht eingehalten, und Konflikte um wirtschaftspolitische Fragen sowie machtpolitische Konkurrenz zwischen Regionalmächten wie China und Japan beeinflussten die Verhandlungen.
Die sogenannte T-Strategie der USA führte dann dazu, dass die chinesische Regierung dem RCEP eine zentrale Bedeutung zumaß. Mit der T-Strategie wollten die USA Chinas wachsenden Einfluss in Asien durch eine Ausweitung der militärischen Präsenz und durch eine wirtschaftspolitische Ausgrenzung – insbesondere aus den Verhandlungen zur Transpazifischen Partnerschaft (TPP) – eindämmen. Das RCEP ermöglichte die Schaffung einer bedeutenden Freihandelszone unter Ausschluss der USA – und damit eines geoökonomischen Gegengewichts zur TPP. Und es erlaubt China, bestehende Abhängigkeiten von den USA und der EU zu reduzieren. Mit dem Rückzug der USA aus den TPP-Verhandlungen unter der Regierung Trump 2017 und einem zunehmenden Bedeutungsgewinn protektionistischer Maßnahmen in der globalen Handelspolitik stieg auch das Interesse anderer Verhandlungspartner an einem erfolgreichen Abschluss des RCEP. Die Verhandlungen nahmen Fahrt auf.
Das Ausklammern von umwelt- und arbeitsbezogener Standards lässt eine Verschärfung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für Millionen Menschen erwarten.
Dabei konnte vor allem die chinesische Regierung von der unter der Regierung Trump zunehmend unklaren Rolle der USA im asiatischen Raum profitieren. Die Einbindung von Chinas regionalem Konkurrenten Japan in das Freihandelsabkommen kann als wichtiger Erfolg verbucht werden. Und die Position Chinas als stärkste Ökonomie unter den RCEP-Mitgliedern ist Garant für eine einflussreiche Position. Das Abkommen allerdings als einen China-geführten Deal zu bewerten übersieht das Interesse der asiatisch-pazifischen Regierungen. Sie wollen sich im schärfer werdenden globalen Konkurrenzkampf durch eine Reduzierung der Abhängigkeiten von den USA und Europa, einer Diversifizierung der Handelspartner und durch regionale Integration behaupten – und von Chinas ökonomischer Entwicklung profitieren.
Beseitigung von Handelshemmnissen
Inhaltlich zielt das RCEP auf die weitgehende Beseitigung von Handelshemmnissen zwischen den beteiligten Ökonomien. Das Abkommen senkt Zölle, fasst einige bestehende Verträge zwischen den Mitgliedsstaaten zusammen und schafft einheitliche Handelsregeln für den asiatisch-pazifischen Raum. Der Handel mit Gütern und Dienstleistungen wird ebenso reguliert wie Investitionen, E-Kommerz, Telekommunikation Urheberrechte oder temporäre Arbeitsmigration.
Allerdings ist das Abkommen nicht auf eine weitgehende Liberalisierung der beteiligten Volkswirtschaften ausgerichtet – anders als etwa das stärker marktliberal geprägte CETA zwischen der EU und Kanada. Im Handel mit Agrarprodukten und Dienstleistungen oder bei der Vergabe staatlich ausgeschriebener Projekte wird sich wenig ändern. Zudem sind den Mitgliedsstaaten diverse Ausnahmen für besonders sensible Produktgruppen gestattet. Auch wird es keine Investitionsschiedsgerichte geben, mit denen Unternehmen gegenüber nationalen Regierungen ihre Interessen geltend machen können – ein Punkt, der beim auf Eis gelegten Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU und bei CETA zu heftiger Kritik geführt hatte.
Allerdings heißt das nicht, dass das RCEP weniger massive sozialpolitische Konsequenzen hat. Das Ausklammern von umwelt- und arbeitsbezogenen Standards und der verstärkte Wettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten des Freihandelsabkommens lassen eine Verschärfung der Lebens- und Arbeitsbedingungen für Millionen Menschen erwarten. Auch wird das RCEP bereits als Argument genutzt, um neue Liberalisierungspolitiken in Europa und den USA anzuschieben.
In der Berichterstattung über das RCEP stand meist der Zollabbau im Fokus. Doch die Zölle zwischen den beteiligten Staaten liegen im Durchschnitt bereits auf einem sehr niedrigen Niveau. Zudem sollen die weiteren Zollsenkungen erst über einen Zeitraum von 20 Jahren erfolgen. Eine zentrale Rolle kommt demgegenüber voraussichtlich der Erleichterung von Investitionen zwischen den RCEP-Staaten zu. Sämtliche Bereiche, die nicht auf einer Negativliste stehen, werden dadurch für Investitionen geöffnet – eine weitgehende Liberalisierung, von der wirtschaftsstarke Staaten wie China und im asiatisch-pazifischen Raum angesiedelte transnationale Konzerne profitieren dürften.
China als stärkster Akteur
Zum anderen sind es vor allem handelspolitische Vereinbarungen und Vereinfachungen des grenzüberschreitenden Handels jenseits der Zölle, denen eine besondere Tragweite zukommen dürfte. Bestimmte Vereinbarungen wie die sogenannten Rules of Origin erleichtern den Aufbau und das Nutzen von transnationalen Wertschöpfungs- und Lieferketten erheblich. Gemeinsam mit der Liberalisierung grenzüberschreitender Investitionen werden so hohe Anreize für regionale Player und für transnationale Unternehmen geschaffen, Wertschöpfungsketten in dem asiatisch-pazifischen Raum anzusiedeln oder in diese zu investieren. Die wachsende wirtschaftliche Verflechtung der beteiligten Staaten wird zudem die Bedeutung der chinesischen Währung Renminbi international stärken.
Insgesamt ist damit eine zunehmende wirtschaftliche Integration der RCEP-Mitgliedsstaaten zu erwarten, die künftig eine Verlagerung in den globalen Handels- und Produktionsbeziehungen nach Asien nach sich ziehen könnte – zuungunsten europäischer und US-amerikanischer Akteure. Bereits heute ist klar, dass das RCEP zu einer Festigung des asiatisch-pazifischen Wirtschaftsblocks führt – mit China als einflussreichstem Einzelakteur.
Eben diese Dynamik macht das RCEP international so relevant. In den USA und Europa werden nicht nur in ökonomischer Hinsicht Befürchtungen laut, gegenüber dem sich stark entwickelnden asiatischen Wirtschaftsraum und insbesondere China weiter an Boden zu verlieren. Auch geopolitisch stärkt das RCEP die Rolle Chinas und des asiatisch-pazifischen Raums weiter. Ob dies von einem anhaltenden Bedeutungsverlust der USA in den Auseinandersetzungen um Einfluss in Asien begleitet sein wird, wird nicht zuletzt von der Strategie der neuen US-Regierung unter Joe Biden abhängen. Auch wenn das RCEP so als Moment der Auseinandersetzungen um die künftige Gestalt der Globalisierung und geopolitischen Landkarte zu verstehen ist, zeigt sich in ihm das einigende Interesse der geoökonomischen Konkurrenten: die Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals.