Aserbaidschanisches Erdgas für armenisches Blut
Arm, umgeben von Feinden, ohne Bündnispartner: Armenien befindet sich in einer verzweifelten geopolitischen Lage, wie der abermalige Angriff Aserbaidschans zeigt
Von Tomasz Konicz
Das Timing des in den Abendstunden des 12. Septembers gestarteten Großangriffs war perfekt. Zur selben Zeit, als Russlands Armee in der östlichen Ukraine ihre größte Niederlage seit der Implosion der Sowjetunion hinnehmen musste, startete Aserbaidschan massive Angriffe auf das Territorium Armeniens. Ortschaften, Infrastruktur und Militäreinrichtungen in der südlichen armenischen Grenzregion wurden mit schwerer Artillerie und Drohnen attackiert. Jerewan musste binnen weniger Stunden dutzende tote Zivilist*innen und Armeeangehörige melden.
Die Intensität der Angriffe soll am 14. September, nach Appellen des Westens und Russlands, etwas nachgelassen haben, doch wurden weiterhin Artillerieangriffe auf armenische Städte und Dörfer gemeldet. Laut inoffiziellen aserbaidschanischen Angaben ist es Bakus Armee zugleich gelungen, etliche strategische Anhöhen im armenischen Grenzgebiet zu erobern, wodurch aserbaidschanische Artillerie nun die Feuerkontrolle über weite Teile des Südostens Armeniens ausüben kann.
Die Angriffe Aserbaidschans, das sich der vollen Unterstützung der eng verbündeten Türkei sicher ist, finden nur knapp zwei Jahre nach der Invasion der armenischen Region Bergkarabach statt, die sich in den 1990ern im Verlauf eines blutigen Krieges nach dem Kollaps der Sowjetunion von Aserbaidschan abgespalten hatte. Im Herbst 2020 konnte Baku, das Bergkarabach als Teil Aserbaidschans betrachtet, durch eine erfolgreiche, mit der Türkei koordinierte Invasion einen großen Teil dieses armenischen Siedlungsgebiets erobern und dessen Bevölkerung vertreiben.
Seit dieser Niederlage – die in Armenien das Trauma des türkischen Genozids von 1915 wieder aufbrechen ließ – ist Jerewans Armee faktisch nicht in der Lage, sich militärisch gegen die erdrückende türkisch-aserbaidschanische Allianz zu behaupten. Armenien ist arm, es verfügt über keine Bodenschätze oder Energieträger. Aserbaidschan wiederum kann aufgrund reicher Erdgas- und Ölvorkommen nicht nur ein Militärbudget unterhalten, das größer als der gesamte Staatshaushalt Armeniens ist, sondern die »Gaswaffe« auch als diplomatischen Hebel nutzen, um Armenien zu isolieren.
Dies war nicht nur beim aserbaidschanisch-türkischen Angriff 2020 evident, als weder der Westen noch Russland dazu zu bewegen waren, Armenien substanziell zu unterstützen, auch derzeit zeichnet sich eine ähnliche geopolitische Konstellation ab. Armenien ist Mitglied in der russisch geführten postsowjetischen Militärallianz OVKS, die der Kreml zu einem eurasischen Gegenstück zur Nato aufbauen wollte. Kurz nach den ersten Angriffen Aserbaidschans, die sich vornehmlich gegen international anerkanntes armenisches Territorium richteten, wandte sich Jerewan in einer Videokonferenz mit einem Beistandsersuchen an das Bündnis, in dem sechs ehemalige Sowjetrepubliken vertreten sind. Doch Moskau, dessen archaische Militärmaschine derzeit in der Ostukraine an seine Belastungsgrenzen stößt, reagierte ausweichend. Putin stimmte nur der Entsendung eines OVKS-Beobachter*innenteams zu.
Von Putin und der EU im Stich gelassen
Es ist dabei nicht nur die militärische Katastrophe der letzten Tage in der Ostukraine, die Moskau, das seine Truppenpräsenz in Armenien und Bergkarabach reduzieren musste, zur militärischen Zurückhaltung zwingt. Das in Devisen schwimmende Aserbaidschan ist einer der wichtigsten Kunden der russischen Waffenindustrie, und der aserbaidschanische Diktator Alijew unterhält beste Beziehungen zu Putin. Noch am Vorabend des russischen Überfalls auf die Ukraine, am 22. Februar, unterzeichneten beide autokratische Staatschefs ein umfassendes Kooperationsabkommen.
Armenien hingegen erlebte 2018 eine bürgerliche »samtene Revolution«, in deren Verlauf die korrupte, Putin-treue Clique entmachtet wurde und liberale, eher westlich orientierte Kräfte um Präsident Paschinjan an die Macht kamen, die eine vorsichtige Demokratisierung und Annäherung an den Westen wagten – was Moskau mit Untätigkeit beim Krieg 2020 bestrafte.
Der größte Fehler Armeniens bestand wohl darin, die demokratische Rhetorik des Westens ernst genommen zu haben, da insbesondere die EU Aserbaidschan zu einem zentralen Gaslieferanten ausbauen will.
Der größte Fehler Paschinjans bestand aber wohl darin, die demokratische Rhetorik des Westens ernst genommen zu haben, da insbesondere die EU inzwischen – gerade vor dem Hintergrund des Krieges um die Ukraine – Aserbaidschan zu einem zentralen Gaslieferanten ausbauen will. Im Juli konnte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, mit dem aserbaidschanischen Autokraten Aliyew den »Ausbau« des südlichen, über Georgien und die Türkei führenden Gaskorridors, vereinbaren, der künftig die doppelte Gasmenge in die EU befördern soll. Am Tag des Angriffs auf Armenien bekräftigte der aserbaidschanische Energieminister, dass sein hochgerüstetes Land allein in diesem Jahr die Gaslieferungen an die EU um 30 Prozent zu erhöhen gedenke. Aserbaidschan betreibt somit im Kleinen eine ähnliche geopolitische »Schaukelpolitik« zwischen Moskau und dem Westen wie die Türkei, um von beiden Machtblöcken maximale Konzessionen zu erhalten.
Baku hat überdies jahrelang den Berliner und Brüssler Politbetrieb mit Millionenbeträgen schlicht geschmiert, um seinen Standpunkt Geltung zu verschaffen. In ersten Stellungnahmen riefen EU-Vertreter*innen folglich beide Seiten zur Deeskalation des Konflikts auf, womit der eindeutige Angriff Bakus vernebelt wird.
Brüssel und Berlin scheinen gewillt zu sein, das aserbaidschanische Erdgas mit armenischen Blut und Territorium zu bezahlen, damit dem Verwertungsprozess in der EU – dem materiellen Fundament aller luftigen europäischen Werte – nicht die energetische Basis abhandenkommt. Denn die aktuelle Angriffswelle deutet darauf hin, dass Baku und Ankara die günstige Gelegenheit nutzen wollen, um zwei strategischen Zielen nahezukommen: der Nötigung Armeniens zum Verzicht auf die armenischen Siedlungsgebiete in Bergkarabach und der Eroberung einer Landverbindung zwischen Türkei und Aserbaidschan, die über südarmenisches Territorium führen würde.