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Im Würgegriff des Panturkismus

Im Konflikt um die Blockade Arzachs, der armenische Name für Bergkarabach, sortieren sich die in der Region engagierten Kräfte neu – auf Kosten der dort lebenden Armenier*innen

Von Hovhannes Gevorkian

Mehrere Frauen und Kinder sind im April 2023 auf einem Platz in Stepanakert versammelt, halten Transparente in die Höhe und demontrieren gegen die Blockade der Republik Arzach durch aserbaidschanische Truppen.
Im April demonstrierten Frauen in der Hauptstadt Stepanakert für die Aufhebung der Blockade der Republik Arzach. Foto: Vmakenas/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Im August sorgte eine Veranstaltung im russischen Jekaterinburg für kurze diplomatische Spannungen zwischen Russland und Aserbaidschan. Hintergrund war der 30. Jahrestag der Ausrufung der Autonomen Talysh-Mughan-Republik, die von der Exilgemeinde der Talyshen in Russland in relativ kleinem Kreis begangen wurde. Die Talyshen sind eine iranischsprachige Ethnie schiitischen Glaubens, die schätzungsweise bis zu zehn Prozent der Bevölkerung Aserbaidschans ausmachen. Ihre Heimat liegt im Süden des Landes am Rande des Kaspischen Meers, wobei südlich der Grenze im Iran weitere mehrere hunderttausende Talyshen leben.

Die aserbaidschanische Regierung unter Präsident Ilham Aliyev unterdrückt die Talyshen, die sich zu Türk*innen assimilieren sollen. So soll ihre Identität ausradiert werden. Ihre Sprache ist verboten, es gibt weder talyshische Schulen noch Kultureinrichtungen, und auch religiöse Feiern wie Ashura sind stark eingeschränkt, wenn sie denn überhaupt stattfinden dürfen – von nationalen Rechten wie etwa politischer Autonomie oder gar Unabhängigkeit kann gar keine Rede sein.

Signal zur Unterwerfung  

Es ist eben in diesem Kontext zu verstehen, dass auch die Talyshen im Sommer 1993 um ihre Unabhängigkeit kämpften und sich vom Regime in Baku loslösen wollten. Diese Bestrebungen fanden parallel zum nationalen Befreiungskampf in Arzach statt, wo die armenische Seite im Mai 1994 in einem Waffenstillstand als Sieger hervorging. Die Bewegung der Talyshen dagegen wurde seitens des Vaters des heutigen Diktators Ilham Aliyev gewaltsam zerschlagen.

Als in der Nacht zum 9. auf den 10. November 2020 das Baku-Regime das Waffenstillstandsabkommen mit Russland und Armenien unterzeichnete und als Sieger des 44-Tage-Krieges hervorging, beendete ein Schuss in einem Gefängnis nicht weit von Baku das Leben des Fakhraddin Abbasov. Abbasov war ein Historiker und Aktivist der Talyshen: Sein Mord sollte auch ein Signal an die unterdrückten Völker der Region, von den Armenier*innen über die Talyshen sein, dass das pantürkische Regime für sie nur zwei Optionen bereithält: Unterwerfung oder Vernichtung.

Heute konzentriert sich die Unterdrückung durch Baku auf das armenische Gebiet Arzach, wo etwa 120.000 Menschen leben. Der 44-Tage-Krieg im Herbst 2020 war eine Aggression des Alijev-Regimes, und führte zur Vertreibung von 40.000 Menschen und der Besetzung von mehr als der Hälfte des Gebietes der Republik Arzach. Mithilfe von syrischen IS-Terroristen und Soldaten der türkischen Armee wurde das Gebiet wahllos bombardiert und vor keinem Kriegsverbrechen Halt gemacht: Es existieren dutzende Videos von brutalen Morden gegenüber armenischen Soldaten und Zivilist*innen.

Die Tatsache, dass die Verbrechen in IS-Manier in der Gesellschaft des Aliyev-Regimes keine Verurteilung, sondern eher Zustimmung hervorriefen, zeigte einmal mehr, dass das Regime in der Tat das Ergebnis der anti-armenischen Pogrome von Sumgait 1988 bis Baku 1990 war, als tausende Aserbaidschaner*innen gezielt Jagd auf die damals in den beiden aserbaidschanischen Städten lebenden Armenier*innen machten. Der Spiegel zitierte im März 1992, als der erste Bergkarabach-Konflikt (1988 bis 1994) endgültig zum Krieg eskaliert war, aus damals in Umlauf gebrachten Flugblättern, in denen es hieß »Armenier, wenn ihr nicht binnen drei Tagen die Stadt verlasst, werden wir euch wie Hunde abschlachten« und »Tod den Armeniern! Wir werden euch ausrotten«. Viele Menschen wurden damals mit äußerster Brutalität verfolgt und ermordet. 

»Qarabag« ohne Armenier*innen

Es ist im Wesentlichen die Fortsetzung dieser genozidalen Politik, die wir heute in der Blockade Arzachs sehen. Zwar wurde im Waffenstillstandsabkommen der freie Zugang des Berdzor-Korridors geregelt, aber seit mehr als neun Monaten, seit dem 12. Dezember des letzten Jahres, sperrten azerisch-türkische Truppen (1) den Weg. Bis zum Juni dieses Jahres konnten wenigstens humanitäre Hilfsgüter etwa über das Rote Kreuz nach Arzach transportiert werden, bis auch diese Konvois geblockt wurden. Seitdem ist die Bevölkerung dort auf sich selbst gestellt: Nahrungsmittel und Medizin sind so knapp, dass sie streng rationiert werden müssen. Die Menschen stehen mehrere Stunden an, um überhaupt einen Laib Brot zu bekommen, während es sogar Schlangen für die Nummerierungen gibt.

Nichts kommt mehr in dieses Gebiet, während Baku regelmäßig sogar Strom und Gas abschaltet, sodass auch Energie ein rares Gut in Arzach ist. Es existiert der makabre Witz, dass die Armenier*innen im Falle einer Eingliederung tatsächlich die gleichen Rechte wie die anderen Staatsbürger*innen Aserbaidschans haben würden: gar keine. Doch diese Gleichsetzung ist nicht ganz richtig: Kaum jemandem werden die grundlegendsten Menschenrechte so umfassend verwehrt wie den Armenier*innen. Ilham Aliyev betont zwar, dass es diesen freistehe, über den Korridor Arzach zu verlassen, doch mehrere Fälle von Entführungen durch die dort stationierten azerisch-türkischen Truppen zeigen, dass die Menschen nicht einmal beim Verlassen des Gebietes sicher sind. Vagif Khatschtryan wurde etwa aus einem Fahrzeug des Roten Kreuzes heraus entführt und verhaftet. Der gesundheitlich angeschlagene 68-Jährige sollte mit Hilfe des IRK nach Jerewan transportiert werden, um eine bessere medizinische Behandlung zu bekommen. Dass selbst Transporte des IRK derart missachtet werden, ist ein beispielloser Vorgang.

Bakus Ziel ist es, dass es ein Arzach, ein »Qarabag«, ohne Armenier*innen gibt. Das primäre Mittel dazu ist die ethnische Vertreibung — sollte dies nicht funktionieren, zumal die Arzacher*innen überhaupt nicht gewillt sind, ihre Heimat zu verlassen, könnte Baku jederzeit mit einem Krieg versuchen, die armenische Präsenz in Arzach auszulöschen.

EU: Klinkenputzen in Baku

Dass die EU mit der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, an der Spitze in Baku die Klinken putzt, um nach der russischen Invasion in die Ukraine verstärkt Öl und Gas aus der Region zu bekommen, ist lange bekannt. Dass die EU-Grenzbeobachter*innen, die an der armenisch-azerischen Grenze zur Überwachung des Waffenstillstandes patrouillieren, sogar ihren eigenen Beschuss seitens der Azeris dementieren, lässt dann doch tief blicken. Die European Mission in Armenia (EUMA) agiert seit Februar 2023 entlang der Grenze und beobachtet die militärischen und sicherheitsrelevanten Entwicklungen zwischen den Ländern.

Ein ähnliches Modell existiert auch in Georgien entlang der Grenze zu Südossetien. Während aber dort die Lage seit 2008 weitestgehend ruhig ist, gehen die Provokationen entlang der armenisch-azerischen Grenze weiter: Fast täglich gibt es Schüsse auf armenische Grenzdörfer, so wie am 1. September in Sotk, als drei armenische Soldaten getötet wurden.

Auffällig ist dabei, dass mehrere Konsultationen zwischen Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan, Ilham Aliyev und dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, die Lage entlang der »international anerkannten« Grenze nicht beruhigt haben. Die EU ist gewillt, Stabilität in der Region zu schaffen, allerdings auf Kosten der Bevölkerung Arzachs, da sie hier das falsche türkische Narrativ aufnimmt, wonach die Arzach-Frage nicht auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, sondern nur mit Blick durch Anerkennung der territorialen Integrität, also durch Anerkennung des formalen Hoheitsgebiets Aserbaidschans, zu lösen sei: Das bedeutet, dass die Armenier*innen in Arzach unter azerischer Jurisdiktion leben sollen, obwohl gerade das Regime in Baku immer wieder zeigt, dass es kein anderes Volk als das türkische duldet.

Der Westen versucht, seinen Einfluss im Südkaukasus zu erweitern und Russland aus dieser Region rauszudrängen.

Der Westen versucht durch die EU, aber auch durch die USA, seinen Einfluss im Südkaukasus zu erweitern und Russland aus dieser Region rauszudrängen. Daher führt auch der US-amerikanische Außenminister Anthony Blinken regelmäßig persönlich und telefonisch Gespräche sowohl mit seinen beiden Amtskollegen sowie mit den Staatschefs Aserbaidschans und Armeniens. Es wäre für den Westen ein nicht zu unterschätzender Erfolg, wenn es einen wie auch immer gearteten Friedensvertrag zwischen Yerevan und Baku unter Vermittlung der USA oder der EU geben sollte. Freilich ist dabei klar, dass das Modell des Westens für Armenien die Aufgabe Arzachs bedeuten würde.

Die Regierung um Paschinyan bestätigte dies auch in einer Pressekonferenz, indem sie auf Nachfrage die territoriale Integrität Aserbaidschans anerkannte. Diese Anerkennung war der Bruch aller Tabus, wie es ein hohes Regierungsmitglied anonym in den Medien formulierte. Armenier*innen sehen Arzach als untrennbaren Teil ihrer Heimat an, der sowieso schon durch die vergangenen türkischen Massaker und den Genozid an den Armenier*innen 1915/16 regelrecht zerstückelt wurde.

Die Jerewaner Regierung versucht mehr oder weniger, die Frage von sich abzuwälzen und das zukünftige Schicksal der eigenen Landsleute in Arzach als Frage der »Rechte und Sicherheiten der Bevölkerung« darzustellen, Stepanakert und Baku verhandelt werden sollte. Dabei weiß sie genau, dass Baku Stepanakert, die Hauptstadt Arzachs, nicht einmal dem Namen nach als solche anerkannt, sondern die gesamte Regierung der formal unabhängigen Republik Arzach als Terrorist*innen ansieht.

Armenien guckt nach Westen

Das alles geschieht nicht ohne eine starke Annäherung Armeniens an den Westen und eine Abwendung von Russland: Paschinyan kritisierte die frühere Hinwendung zum Kreml als »strategischen Fehler« und setzte die armenisch-russischen Beziehungen auf einen Tiefpunkt, sodass Moskau den armenischen Botschafter einberief. Eine riskante Strategie, denn Armenien ist wirtschaftlich und energiepolitisch stärker von Russland abhängig als von jedem anderen Land. Gerade der Energiesektor ist vom Kreml dominiert. Von der gleichzeitigen Annährung an die USA erhofft sich Yerevan womöglich einen besseren Schutz vor türkischen Angriffen. Nicht zufällig erfolgte die politische Kehrtwende Paschinyans exakt vor einem Jahr, bei den Septemberangriffen auf armenisches Gebiet, als Moskau und das von Russland geführte Bündnis OVKS (Organisation des Vertrages über die kollektive Sicherheit) untätig blieben.

Für die Menschen in Arzach selbst, die seit Monaten unter der Blockade leiden, hat die armenische Regierung keine Strategie. So ist auf absehbare Zeit nicht ersichtlich, ob und wie die Blockade enden könnte. Eine Rückkehr zum Status quo ante, also der Zeit nach dem 44-Tage-Krieg und vor der Blockade, als täglich 400 Tonnen an Gütern über den Korridor transportiert wurden, scheint heute kaum denkbar. Ebenso wenig denkbar ist eine wie auch immer gestaltete »Reintegration« Arzachs in das aserbaidschanische Hoheitsgebiet, weil diese letztlich bedeuten würde, dass die Armenier*innen sich wieder auf die türkische Schlachtbank begeben würden.

Arzach ist die »Zitadelle Armeniens«. Bereits im 4. Jahrhundert entstanden hier die ersten Klöster, Kirchen und Schulen. Mesrop Mashtots lehrte im 5. Jahrhundert im Amaras-Kloster in Arzach das eigens von ihm entwickelte armenische Alphabet. Zahlreiche Kulturdenkmäler aus dieser und späterer Zeit sind bis heute das ewige Symbol dafür, dass ein Armenien ohne Arzach nicht existieren kann.

Hovhannes Gevorkian

ist Jurist und lebt in Berlin.

Anmerkung:

1) Azeri ist die Selbstbezeichnung von Aserbaidschaner*innen und umfasst auch die Menschen, die in der iranischen Provinz Aserbaidschan leben. In diesem Falle sind die Truppen des aserbaidschanischen Staates gemeint, die militärisch von der türkischen Armee unterstützt wurden.

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