Milei hat keinen Plan B
Der argentinische Präsident ist mit seinem Gesetzespaket zum Umbau der Wirtschaft gescheitert – was daraus folgt, ist unklar
Von Lisa Pausch
Die neue argentinische Regierung hat ihre erste große Niederlage eingefahren. Das 300-seitige Gesetzespaket mit dem Titel »Grundlagengesetz und Ansatzpunkte für die Freiheit der Argentinier« sollte in 664 Artikeln die argentinische Wirtschaft liberalisieren und staatliche Regulierungen aufheben. Maßnahmen, die laut Präsident Javier Milei ein Grundstein sein würden, um die seit über zehn Jahren stagnierende Wirtschaft wiederzubeleben, für Wachstum zu sorgen und gegen die Inflation anzukämpfen.
Das wegen seines Umfangs sogenannte Omnibus-Gesetz hätte Auswirkungen gehabt auf das Wahlsystem, die öffentliche Sicherheit, die Kultur- und die Wissenschaftspolitik, die Umwelt und sogar auf Scheidungen. Die erste Version des Textes sah mit dem öffentlichen Notstand Sonderrechte für den Präsidenten vor, für die Dauer von mindestens zwei Jahren sollte er am Kongress vorbei Gesetze erlassen können – und all das in Fragen, die nicht nur die Wirtschaft betreffen, sondern auch Steuern, die Verwaltung und das Wahlrecht, Fragen der Gesundheits-, Energie-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Krise »biblischen Ausmaßes«
Dass Milei am liebsten ohne demokratische Kontrolle regieren würde, zeigt auch das Notstandsdekret mit über 80 Seiten, das er als eine seiner ersten Amtshandlungen verhängte und das die Justiz teilweise gestoppt hat. Es zeigt sich aber auch in seiner Drohung, eine Volksabstimmung abzuhalten, sollten seine geplanten Reformen nicht durch den Kongress kommen. Und es haben auch schon die ersten Minuten seiner Amtszeit gezeigt, als er seine erste Rede nicht vor den Abgeordneten, sondern vor »dem Volk« hielt, vor dem Parlamentsgebäude. Die Abgeordneten, die seine Reformen nicht unterstützen, sind für Milei die politische »Kaste«, die sich auf Kosten der »guten Argentinier« am Staat bereichert und »an ihren Privilegien festhalten will«. Argentinien werde auf eine Krise »biblischen Ausmaßes« zusteuern, drohte er zu seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023, sollte der Kongress seinen Reformen, der »Schocktherapie«, nicht zustimmen.
Im Februar war nach wochenlangen Verhandlungen klar: Der Kongress stimmt Mileis Reform nicht zu. Doch mit gerade einmal 38 Abgeordneten und damit 15 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer ist Mileis Regierungskoalition »La Libertad Avanza« (LLA) auf jede Stimme aus der Opposition angewiesen. Nach sechs Wochen Hin und Her blieben von den über 600 Artikeln des Omnibus-Gesetzes noch etwa 300 übrig, auf der Suche nach einem Kompromiss wurde eine Steuerreform und damit das vorübergehende Einfrieren der Renten zurückgenommen, ebenso wie die Privatisierung des staatlichen Ölkonzerns. Der Kongress hatte Mileis Sonderrechten zunächst zugestimmt, sie jedoch auf ein Jahr beschränkt sowie auf die Bereiche Sicherheit, Wirtschaft und Energie.
Trotzdem scheiterte das Omnibus-Gesetz – aus mehreren Gründen. Ein wichtiger Faktor war der Protest der Provinzen. Diese weigerten sich, zusätzlich zu einem massiven Sparprogramm dem Präsident auch noch die Verfügungsgewalt über ihre Treuhandfonds zu geben. Einfach ausgedrückt sind das Töpfe, die der Staat füllt, damit etwa der Häuserbau in prekären Vierteln finanziert werden kann. Weil Geldflüsse nicht rigoros geprüft werden, gab es an diesem Verfahren immer wieder Kritik.
Milei verfolgte die Abstimmung aus Israel, wo er, neben Regierungschef Benjamin Netanjahu, auch einflussreiche Rabbiner traf. Die Zeitungen druckten Bilder von Milei mit Kippa an der Klagemauer. Als die Abstimmung scheiterte, erklärte der Präsident das Gesetz für komplett gescheitert, anstatt es erneut zur Überarbeitung in die Kommission zu geben. »Lieber gar kein Gesetz, als ein schlechtes Gesetz«, sagte er später in einem Interview. Und er bemühte – nicht zum ersten Mal – einen biblischen Vergleich. Auf Instagram postete er einen hebräischen Auszug aus dem Exodus-Buch des Alten Testaments: Moses, der auf dem Berg Sinai die Gesetze Gottes empfangen hat, kehrt ins Tal zurück und sieht, wie das jüdische Volk um ein goldenes Kalb tanzt. Er wird wütend, weil die Menschen in ihrer Ungeduld nicht mehr Gott, sondern das Kalb anbeten und zerschmettert die Tafeln. Die Anspielung liegt nahe – so wie Moses das jüdische Volk aus Ägypten befreit hat, will Milei die Argentinier aus der Krise führen. Die Provinzen kommen ihm dabei in die Quere.
Messias im Linienflieger
Immer wieder bemüht Milei Vergleiche mit Moses oder dem Messias, sowohl für sich selbst als auch für die Generalsekretärin der Regierung, seine Schwester Karina Milei. Die Niederlage im Kongress kommunizierte er zudem als eine Verschwörung der politischen »Kaste« gegen einen Wandel, »für den sich die Argentinier an den Urnen entschieden« hätten. Der offizielle Account des Präsidenten veröffentlichte auf der Plattform X eine Liste mit den Namen von 60 Abgeordneten, die gegen das Gesetz gestimmt hatten, und bezeichnete sie als »Feinde eines besseren Argentiniens«. Seitdem steigt die Spannung zwischen Präsident und Gouverneur*innen. Nicht nur will Milei die Sondertöpfe nun per Dekret abschaffen – die Ankündigung, den Provinzen auch noch die Gelder für Transport und Bildung zu streichen, lesen diese als eine Strafe für ihr Abstimmungsverhalten. Sie wollen gegen die Entscheidung klagen.
Mileis Regierungskoalition LLA verfügt über kein stabiles politisches oder soziales Netzwerk im Sinne einflussreicher sozialer Akteur*innen, die ihn im Inland aktiv stützen würden, wie etwa die evangelikalen Gruppen Jair Bolsonaro in Brasilien. In keiner der 23 Provinzen stellt die Regierungspartei LLA die Regierung und die größten Gewerkschaften sind mit der peronistischen Opposition verbunden – sie stehen mit Milei auf Kriegsfuß. Die CGT (Confederación General del Trabajo) kündigte 18 Tage nach seinem Amtsantritt einen Generalstreik an – in den vier Jahren zuvor erlebte der peronistische Ex-Präsident Alberto Fernández trotz steigender Inflation keinen einzigen. Mileis politische Macht baut neben seinem Amt auf die Ausstrahlungskraft seiner eigenen Überzeugung von sich und seiner »Mission« sowie auf seine Beliebtheit auf den Straßen. Den Rückflug aus Israel trat Milei im Linienflieger an, sein Regierungssprecher teilte ein Video jubelnder Passagiere in Social Media.
In der Bevölkerung ist die Unterstützung für Milei mit knapp 50 Prozent zwar weiterhin stabil, aber die Zustimmung für seinen radikalen Staatsumbau ist brüchig. Nach einer Erhebung des Umfrageinstituts Zubán Córdoba waren Ende Januar nur 34 Prozent der Menschen ohne Einschränkungen für das Omnibus-Gesetz, 17 Prozent forderten Änderungen, knapp die Hälfte ist komplett dagegen. Die argentinische Gesellschaft ist in ihrer Mehrheit, anders als der selbsterklärte Anarchokapitalist Milei, nicht per se gegen den Staat und seine Institutionen und daher auch nicht für einen radikalen Staatsumbau. Bei einer Inflation von weit über 200 Prozent sind viele seiner Wähler*innen aber durchaus bereit, Milei mehr Zügel als in seinem Amt üblich in die Hand zu geben – solange er Ergebnisse vorweisen kann. Viele wären schon zufrieden, wenn die Inflation sinkt und sie zumindest einen Teil ihrer Kaufkraft zurückgewinnen. Je länger die Ergebnisse aber auf sich warten lassen, desto schneller dürften Mileis Umfragewerte sinken. Nach der Niederlage seines Gesetzespakets im Kongress büßte er knapp fünf Prozent an Zustimmung gegenüber eine Umfrage im Januar ein.
»Das Regierungsprogramm haben 56 Prozent der Argentinier gewählt, daher sind wir nicht bereit zu verhandeln«, gab sich Milei nach seiner Niederlage auf der Plattform X dennoch selbstbewusst. Tatsächlich ist statistisch gesehen höchstens eine*r von drei Argentinier*innen ein*e loyale*r Milei-Anhänger*in. Es sind die 30 Prozent, insbesondere junge Menschen, die bei den Vorwahlen und in der ersten Wahlrunde für Milei gestimmt haben. Viele von ihnen arbeiten jetzt schon für Hungerlöhne auf dem informellen Arbeitsmarkt, die harte Hand des freien Marktes kennen sie längst und fordern sie jetzt auch für alle anderen. Weitere 26 Prozent haben Milei zwar gewählt, haben aber eine begrenzte Geduld.
Dennoch: Viele glauben (noch) daran, dass es ihnen, so wie Milei es versprochen hat, nach »sechs harten Monaten« besser gehen wird. Klar ist aber schon jetzt, dass Massenentlassungen im Bausektor nach einem Stopp für öffentliche Bauprojekte nun insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sowie informelle Arbeiter*innen treffen. Milei hatte die Haushaltsmittel dafür um 70 Prozent gekürzt und erklärt, Straßen und Gasleitungen sollten zukünftig private Unternehmen finanzieren. Tausende prekarisierte Lieferfahrer*innen ächzen unter einer Verdoppelung der Benzinpreise. Dazu kommt eine sinkende Binnennachfrage: Der Internationale Währungsfond sagt eine Rezession von 2,8 Prozent voraus.
Eine Zusammenarbeit mit sozialen Organisationen, die teilweise eng mit dem peronistischen Lager verbunden sind, vermeidet Milei.
Um die Ärmsten zu erreichen, erhöhte die Regierung zwar die Lebensmittelkarte und das Kindergeld, strich aber Mittel für Sozialprogramme um 40 Prozent. Lebensmittel kosten derzeit teilweise so viel wie in Westeuropa, bei Löhnen, die zehnmal niedriger liegen. Sogar der Papst hatte Milei bei dessen Besuch in Rom auf die prekäre Lage in seinem Heimatland hingewiesen, fast die Hälfte der Menschen in Argentinien gilt als arm. Nach dem Treffen sagte die Regierung der katholischen Hilfsorganisation Caritas Gelder zu. Eine Zusammenarbeit mit sozialen Organisationen, die teilweise eng mit dem nun in der Opposition weilenden peronistischen Lager verbunden sind, vermeidet Milei aber.
Milei hat recht damit, dass er die hohe Inflation »geerbt« hat von den Vorgängerregierungen. Die Preise steigen jeden Monat an, seit Jahren. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte er den offiziellen Kurs der Währung abgewertet, neun von 18 Ministerin abgeschafft, öffentlich Angestellte entlassen sowie Subventionen für Transport und Energie gekürzt und Preisregulierungen aufgehoben. Das befeuerte die Inflation im Dezember zusätzlich, und sie stieg auf monatlich über 20 Prozent. Eher ungewöhnlich sind die Preisanstiege in Relation zum US-Dollar, also eine Inflation in der Währung, in der viele Argentinier*innen sparen.
Regieren am Kongress vorbei?
Unklar ist, wie die neue Regierung ihr Programm ohne die Unterstützung des Kongresses durchsetzen will. Im Interview mit dem Wall Street Journal sagte Milei, er habe keinen Plan B. Nach der Absage an das Omnibus-Gesetz wurde in Social Media die Möglichkeit einer Volksabstimmung debattiert, nachdem Milei Beiträge dazu geliked hatte. Doch könnte eine Abstimmung, die nicht das erhoffte Ergebnis bringt, Milei das Amt kosten.
Wahrscheinlicher ist, dass die Regierung ihre Reformen nun in kleineren Paketen in den Kongress schickt – teilweise als Gesetzesvorschlag, teilweise als Notstandsdekret – und dann darauf hofft, dass das Parlament sie durchwinkt.
Angesichts der Ungewissheit, ob Milei sich an die demokratischen Regeln halten wird, und angesichts seines messianischen Selbstbewusstseins, das Demokratie mit dem Willen des Meistgewählten verwechselt, werden Vergleiche mit Alberto Fujimori wach. Ein Mann, der in den 1990er Jahren in Peru als erster politischer Outsider Lateinamerikas an die Macht kam, den Kongress dichtmachte und fortan als Diktator herrschte, weil er mit seinen Gesetzesprojekten nicht durchkam. Die demokratischen Institutionen arbeiten in Argentinien, das ist die gute Nachricht. Am 1. März wird Milei das Legislaturjahr mit einer Rede eröffnen. Wird er sie – nach dem Streit mit den Abgeordneten – erneut mit dem Rücken zum Kongress halten?