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Hitlergrüße und andere Lappalien

Antisemitismus hat Tradition in Deutschland – die Union versucht, ihn als »importiert« darzustellen

Von Dietrich Schulze-Marmeling

Das Bild ist eine Aufnahme aus dem Jahr 1977 und ist in schwarz weiß fotografiert. An einem Stammtisch sitzen recht amüsierte Männer. Es liegen CDU-Materialien und ein Schild auf dem Tisch. Auf dem Schild steht CDU Schleswig-Holstein.
Bei einem zünftigen CDU-Stammtisch wird deutsche Tradition gepflegt, heute wie gestern. Foto: Stadtarchiv Kiel/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 DE

Auf dem Wahlparteitag der CDU kritisierte Kanzlerkandidat Friedrich Merz Anfang Februar die Großdemonstrationen gegen die gemeinsame Abstimmung der Unionsparteien mit der AfD: »Ich sage denen, die hier unterwegs waren: Ihr habt euch im Datum und ihr habt euch im Thema geirrt. Ihr hättet zu einem ganz anderen Zeitpunkt in Deutschland auf den Straßen in dieser großen Zahl unterwegs sein müssen.« Merz bezog sich damit auf Pro-Palästina-Demos, bei denen antisemitische Parolen skandiert worden waren.

Auch CDU-Schatzmeisterin Julia Klöckner beklagte mangelndes Engagement gegen Antisemitismus: »Es wäre besser, eine Demo gegen Gewalt in diesem Land zu veranstalten, besser eine Demo gegen Judenhass in diesem Land zu veranstalten, als gegen eine verdiente Volkspartei zu demonstrieren.« Nur wenige Wochen zuvor hatte Klöckner in den sozialen Medien ihre inhaltliche Übereinstimmung mit der AfD-Wählerschaft erklärt: »Für das, was ihr wollt, müsst ihr nicht die AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU.« Was die AfD-Wählerschaft will, ist hinlänglich bekannt: Antisemit*innen gibt es in der Wähler*innenschaft aller Parteien – aber den mit Abstand höchsten Anteil verzeichnet die AfD, wie die Mitte-Studie 2024 erneut gezeigt hat.

Gegen den parlamentarischen Schulterschluss der Unionsparteien mit den Rechtsradikalen hatten auch einige der letzten Holocaust-Überlebenden protestiert, was die CDU-Spitze jedoch völlig kalt ließ – kein Wort der Erklärung, geschweige denn der Entschuldigung in ihre Richtung. Auch Michel Friedman verließ die CDU wegen der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD. Auch hier hielt es die CDU-Spitze nicht für nötig, mit Friedman, ehemals 2. Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Präsidiumsmitglied der CDU, das Gespräch zu suchen. Der nordrhein-westfälische CDU-Landtagsabgeordnete Bodo Löttgen setzte stattdessen lieber diesen inzwischen gelöschten Tweet ab: »Gestern in Berlin Mordaufrufe zumeist arabischstämmiger Demonstranten gegen Juden. Kein Wort von Michel Friedman oder Luisa Neubauer. Heute Friedman und Neubauer beim sogenannten ›Aufstand der Anständigen‹ vor der CDU-Zentrale. Mehr muss man zum ›Anstand‹ der beiden nicht wissen.«

Ganz abgesehen davon, dass Friedman am Marsch zur CDU-Zentrale nicht teilgenommen hatte – er hatte diesen explizit abgelehnt – wie kam MdL Löttgen dazu, ausgerechnet Michel Friedman Versäumnisse beim Kampf gegen Antisemitismus vorzuwerfen? Der Verdacht liegt nahe, dass Löttgen laute Stimme gegen Antisemitismus – im Übrigen gegen Antisemitismus aus allen Richtungen –, aber auch gegen antimuslimischen Rassismus schon seit längerer Zeit nervten. Und dass der CDU-Politiker nun die Chance sah, die Glaubwürdigkeit des ewigen Mahners zu attackieren: Wer zum arabischen/islamistischen Antisemitismus schweigt, der möge auch zum hausgemachten schweigen!

Relativierung und Wahlgewinne

Am 25. August 2023 berichtete die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel »Das Auschwitz-Pamphlet«, Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler (FW) in Bayern und stellvertretender Ministerpräsident des Landes, habe im Schuljahr 1987/88 als Schüler der elften Klasse eines Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg ein zutiefst antisemitisches Flugblatt verfasst, das dann auf der Schultoilette zirkuliert sei.

Die CSU und die Freien Wähler wussten spätestens 2008 von diesen Vorwürfen, hatten es aber vorgezogen, über diese den Mantel des Schweigens auszubreiten. Vier Tage nach der Enthüllung der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte das TV-Magazin report München des Bayerischen Rundfunks (BR) ein Interview mit einem ehemaligen Mitschüler Aiwangers. Dieser erzählte, dass Aiwanger beim »Betreten des voll besetzten Klassenzimmers« gelegentlich den Hitlergruß gezeigt und »Witze über Juden und das KZ Auschwitz« erzählt habe. Aiwangers politische Haltung sei »von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt« gewesen.

Aiwanger stilisierte sich nun als Opfer einer Kampagne. Bei den bayerischen Landtagswahlen am 8. Oktober 2023 wurden seine radikal-antisemitischen Umtriebe mit einem Stimmenzuwachs von 3,9 Prozent honoriert. Aiwanger gewann ein Direktmandat und wurde in der Regierung von Markus Söder stellvertretender bayerischer Ministerpräsident sowie Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie.

Von wegen »Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland«, wie Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober 2023 bei einem Besuch in Israel versicherte. Dies gilt schon gar nicht für Bayern, wo es erst 1994, also 48 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, ein CSU-Ministerpräsident gewagt hatte, das ehemalige KZ Dachau aufzusuchen. Denn Solidarität mit den Opfern des NS-Regimes konnte auch noch in den 1990ern beim CSU-Wahlvolk Stimmen kosten.

Antisemitismus als Importware

Aber dank des von arabischstämmigen Migrant*innen gefeierten antisemitischen Massakers vom 7. Oktober 2023 waren die Deutschen ohne migrantischen Hintergrund wenige Wochen nach der Landtagswahl in Bayern vom Verdacht des Antisemitismus befreit. 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland den Antisemitismus nur noch als Importware.

CDU-Chef Friedrich Merz instrumentalisierte das Massaker für Stimmungsmache gegen Migrant*innen. Er sprach sich für neue Einbürgerungsregeln aus, die eine Anerkennung Israels zur Bedingung erklären. Ging es Merz hier tatsächlich um die Bekämpfung von Antisemitismus?

Anfang Dezember 2023 nahm Sachsen-Anhalt als erstes Bundesland den Ball von Friedrich Merz auf. Nach einem Erlass des Innenministeriums winkt Migrant*innen eine Einbürgerung nur noch dann, wenn sie sich zum Existenzrecht des Staates Israel bekennen. Die Träger*innen und Akteure des ostdeutschen Antisemitismus sind allerdings keine Migrant*innen, sondern »Traditionsdeutsche«. Auch steht der Erlass des CDU-geführten Innenministeriums von Sachsen-Anhalt einer Koalition der CDU mit der AfD nicht im Wege. Er bildet keine Brandmauer gegen eine Kooperation der Konservativen mit den Rechtsextremisten. Der Antisemit ohne migrantischen Hintergrund ist nicht betroffen, er wird ja gar nicht gefragt.

Im Januar 2024 tagte die CSU im Kloster Seeon. Im Beschlusspapier ihrer Winterklausur schlug die Partei härtere Strafen in Sachen Antisemitismus vor. Zwecks Verkündung des Beschlusses traten Ministerpräsident Markus Söder und Alexander Dobrindt vor die Presse. Dobrindts Aufmerksamkeit galt in erster Linie dem »importierten« Antisemitismus, also jenem Antisemitismus, der die CSU von der Aiwanger-Affäre befreit hatte.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass die CSU von einer Orbánisierung Deutschlands und Europas träumte und sich dabei mit einer Regierung solidarisierte, die aus Rechtspopulist*innen und extremen Rechten besteht. 2018 war Orbán noch Stargast der Partei gewesen. Dobrindt interpretierte Orbáns Wahlsiege als Erfolg einer klassisch »bürgerlich-konservativen« Politik. Diese basierte wesentlich auf einer antisemitischen Kampagne gegen die angeblich von dem Juden und Shoah-Überlebenden George Soros angeführten »liberalen Eliten«. Soros avancierte zum Staatsfeind Nr. 1. Für Orbán war der Milliardär und Philanthrop der Drahtzieher der »Flüchtlingskrise«: Soros wolle mit dem sogenannten Soros-Plan Europa mit Flüchtlingen »überschwemmen«. »Soros‘ angebliche finstere Umtriebe sind dabei, das zu werden, was die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ für viele Jahrzehnte waren: die antisemitische Verschwörungstheorie für alle Zwecke«, schrieb Jonas Schaible in Capital. Für die CSU war das aber kein Problem.

Können sich die deutschen Jüdinnen und Juden auf einen »Anti-Antisemitismus« verlassen, der Antisemitismus primär als importiertes Problem betrachtet und ihn für die hiesige Migrations- und Asyldebatte instrumentalisiert, Ausflüge in den Rassismus eingeschlossen? Wie ehrlich und nachhaltig ist dieser »Anti-Antisemitismus«? Handelt es sich hierbei vielleicht mehr um einen »Erlösungs-Anti-Antisemitismus«? 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus sind Antisemit*innen nur noch die anderen. Für Jens Christian Wagner, Historiker und Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora für die ehemaligen KZ Buchenwald und KZ Mittelbau-Dora, ist nicht nur die »Erinnerungspolitik« der AfD ein Problem – Stichwort »Vogelschiss«.

Fast noch erschreckender sind für den Historiker die erinnerungspolitischen Passagen im Wahlprogramm von CDU und CSU: »Da werden die NS-Verbrechen nicht einmal explizit erwähnt. Es ist nur undifferenziert von den ›beiden totalitären Regimen in Deutschland‹ die Rede. Diese terminologische Gleichsetzung des Nationalsozialismus mit der SED-Diktatur fällt hinter alles zurück, was wir seit den 1990er-Jahren diskutieren. Das Erinnern an Auschwitz kommt im Wahlprogramm der CDU nicht vor, dafür gibt es ausführliche Ausführungen zu Flucht und Vertreibung von Deutschen nach 1945. Das ist ein geschichtspolitisches Rollback in die 1950er-Jahre und liest sich, als seien in den Augen der CDU die Deutschen die Hauptopfer des Zweiten Weltkriegs. Offenbar reichen solche geschichtspolitischen Vorstellungen, wie wir sie von der autoritären Rechten kennen, inzwischen bis in die CDU.«

Und schließlich: Wer am Tag des Holocaust-Gedenkens kein Problem damit hat, im Bundestag gemeinsam mit extremen Rechten und Antisemit*innen zu stimmen, der sollte beim Thema Antisemitismus nicht mit dem Finger auf andere zeigen.

Dietrich Schulze-Marmeling

ist Autor von »Antisemitismus reloaded – Die Linke, der Staat und der 7. Oktober« (edition einwurf, 2024).