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Am anderen Ende der Lieferketten

Produktionsstopps infolge der Corona-Krise treffen diejenigen am härtesten, die von ihrer Arbeit zuvor schon kaum leben konnten – darunter Tausende Näher*innen in Süd- und Südostasien

Von Helene Buchholz

Eine Frau hält ein Schild hoch auf dem steht: "Mango: The pandemic is NOT an excuse to attack workers!
Eine Näherin in Myanmar protestiert gegen die Ignoranz und Härte eines großen westlichen Modeunternehmens. Etliche Arbeiter*innen wurden von einem Tag auf den anderen entlassen. Foto: Myan Mode Factory Union

»Wenn alles nichts hilft, bleibt uns nur noch der Hungerstreik«, sagt Mg Moe, Generalsekretär der Myan Mode Fabrik-Gewerkschaft in Yangon, Myanmar. Seit Ende März kämpfen hier Arbeiter*innen gegen die Massenentlassungen von Gewerkschafter*innen. Die Fabrik produziert im Wesentlichen für Mango und Zara.

Noch während Gewerkschaftsmitglieder im März mit der Fabrikleitung darüber verhandelt haben, wie für den Infektionsschutz bessere Arbeitsbedingungen umgesetzt werden können, seien von einem Tag auf den nächsten knapp 600 Arbeiter*innen gekündigt worden – fast alle von ihnen Gewerkschafter*innen. So berichtet es der Generalsekretär. Insgesamt haben in der Myan Mode Fabrik laut Moe rund 1.200 Menschen gearbeitet, nun sind noch knapp 700 übrig geblieben. Der offizielle Grund: Corona. Die Aufträge bleiben aus.

Die Betroffenen kämpfen für ihre Rechte: Sie haben gestreikt und eine Zeltstadt vor der Fabrik errichtet.

Gesetzlich hätte die Fabrik die Arbeiter*innen eigentlich einen Monat im Voraus informieren und den Lohn für März zahlen müssen, heißt es vom Solidarity Center, einer US-amerikanisch/kanadischen Organisation, die Gewerkschaften in Myanmar unterstützt. In diesem Fall seien sie aber einfach von heute auf morgen auf die Straße gesetzt worden. Seitdem kämpfen die Betroffenen für ihre Rechte: Sie haben gestreikt und eine Zeltstadt vor der Fabrik errichtet. Als ihnen eine Abfindung angeboten wurde, haben die meisten sie nach und nach angenommen. Zu groß war der Druck. Viele haben keine Rücklagen, und Proteste sind – gerade während Corona – von staatlichen Repressionen bedroht.

Im Notfall bis zum Hungerstreik

29 der 500 gekündigten Arbeiter*innen sind dennoch übriggeblieben und wollen weiter um ihre Arbeitsplätze, für Gerechtigkeit und gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik der Unternehmen kämpfen. Bis zum Schluss, wie Moe sagt, und das heißt für ihn, im Notfall auch mit Hungerstreik. Im Augenblick versuchen er und seine Mitstreiter*innen, Öffentlichkeit zu erzeugen, um so den Druck auf die Fabrikbetreiber zu erhöhen.

Textilarbeiter*innen protestieren gegen ihre Entlassung. Es traf vor allem Gewerkschaftsmitglieder
Fast 600 Arbeiter*innen wurden wergen ausbleibender Aufträge der Fabriken gekündigt – fast alle von ihnen Gewerkschafter*innen. Foto: Myan Mode Factory Union

Das spanische Textilunternehmen Inditex, zu dem die Marke Zara gehört, hat inzwischen reagiert und mit dem südkoreanischen Fabrikbetreiber verhandelt. Der hat nun angeboten, die 29 Streikenden wieder einzustellen. Die Gewerkschaft hat das Angebot nicht akzeptiert: 29 Gewerkschaftsmitglieder von mehr als 500 entlassenen wieder einzustellen, reiche nicht. Die Verhandlungen gehen also weiter.

Die Textilindustrie wächst rasend schnell in Myanmar, immer mehr Nähfabriken sprießen aus dem Boden. Aber nicht nur hier gehören sie zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Landes – in Bangladesch ist es sogar der größte Wirtschaftsfaktor. Und auch in Sri Lanka sind die Fabriken große Arbeitgeber. So ist die Corona-Krise nicht nur in Myanmar für Textilarbeiter*innen eine gesundheitliche und ökonomisch-existenzielle Bedrohung: Auch in anderen Produktionsländern stehen viele Arbeiter*innen vor dem Nichts. Die meisten Textilarbeiter*innen in Süd- und Südostasien verdienen so wenig, dass sie von Gehalt zu Gehalt leben und keine Ersparnisse haben. Die geltenden Verträge erlauben es den großen Konzernen, von heute auf morgen ihre Aufträge zu stornieren. Gehälter werden von einem Monat auf den nächsten nicht mehr bezahlt.

Textilarbeiter*innen protestieren gegen ihre Entlassung
Das spanische Textilunternehmen Inditex, zu dem die Marken Mango und Zara gehören, hat inzwischen reagiert. 29 Gewerkschafter*innen sollen wieder einzustellt werden. Die Streikenden lehnten ab. Foto: Myan Mode Factory Union

In Sri Lanka sitzen viele Arbeiter*innen nun in den Unterkünften fest, in denen sie von den Fabrikbetreibern untergebracht werden. Züge und Busse fahren größtenteils nicht mehr, und wegen der Ausgangssperre können sie inzwischen nicht mehr zurück zu ihren Familien auf den Dörfern. Schätzungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen besagen, dass allein in dem Industriegebiet nördlich von Colombo rund 15.000 Arbeiter*innen festsitzen. Und inzwischen fordern die Besitzer der Unterkünfte weitere Mieten ein. Dabei können die Betroffenen nicht einmal Lebensmittel kaufen, berichtet Chamila Thushari vom Dabindu Collective. Das Dabindu Collective ist eine kleine Basisgewerkschaft, die sich seit über 35 Jahren für die Rechte von Textilarbeiterinnen einsetzt. (ak 658) Inzwischen verteilt Thushari Essenspakete oder schlichtet Familienstreits, sagt sie. Jeden Tag telefoniere sie mit Frauen, die nicht weiter wissen. Thushari hat eine Ausnahmegenehmigung und darf rausgehen, um andere zu unterstützen. Ansonsten gilt eine mehr oder weniger strenge Ausgangssperre in Sri Lanka. Einige Städte sind von der Regierung als Hochrisikogebiete eingestuft worden; so auch Colombo, die inoffizielle Hauptstadt des Inselstaates und der Vorort Katunayake, wo viele Textilfabriken ansässig sind. Und Jaffna, das Zentrum der Nordprovinz.

Forderungen an die Politik

In Gebieten wie diesen dürfen die Menschen ihre Häuser und Wohnungen nicht verlassen, außer im Notfall. Supermärkte haben nur eingeschränkt geöffnet. Um die Bevölkerung zu versorgen, gibt es Food-Trucks, aber auch hier muss das Essen bezahlt werden – mit Geld, das viele nicht haben. Thushari sagt, die Regierung habe einen Hilfsfonds für Bedürftige eingerichtet, die meisten von denen haben bisher aber kein Geld gesehen. Und so bleiben ihnen nur die Lebensmittelpakete, die einige NGOs verteilen, so wie das Dabindu Collective. Einige von ihnen haben sich zu einer Initiative zusammengeschlossen und wenden sich mit verschiedenen Forderungen an die Politik. Unter anderem verlangen sie schnelle Hilfen für die Armen, dass die Textilfirmen ihre Arbeit wieder aufnehmen und sich mit den Produkten der aktuellen Nachfrage anpassen – indem sie zum Beispiel Masken produzieren – und dass gleichzeitig Infektionsschutzmaßnahmen am Arbeitsplatz umgesetzt werden. Regierungsvertreter haben sich schriftlich zu einem Treffen mit der Initiative bereit erklärt – ein Datum dafür gibt es noch nicht.

Noch im März waren die Straßen in Dhaka voll und wuselig. Straßenhändler haben Obst und Gemüse verkauft, Tee- und Essenstände haben sich aneinandergereiht.

Bisher gibt es in Sri Lanka nur rund 900 offiziell Infizierte, in Bangladesch dagegen sind es jetzt schon rund 16.000. (1) Laut der Gewerkschaft der Näher*innen GWTUC könnte die Dunkelziffer weit höher sein. Denn die Testkapazitäten seien schlecht, so Monzur Moin, Sekretär für Internationale Beziehungen der GWTUC. Beatmungsgeräte gebe es ohnehin so gut wie keine im Land.

Noch im März waren die Straßen in Dhaka voll und wuselig. Straßenhändler haben Obst und Gemüse verkauft, Tee- und Essenstände haben sich aneinandergereiht. Durch den dichten und unübersichtlichen Verkehr haben sich Busse und Rikschas gedrängt. Nun seien die Straßen leer, so Moin. Fast leer. Denn das öffentliche Leben ist auch hier zum größten Teil eingefroren worden, es herrscht Ausgangssperre. Polizei und Militär kontrollieren die Einhaltung der Maßnahmen.

Übriggeblieben sind die Menschen, die in Dhaka auf der Straße leben. Obdachlose reihen sich aneinander und betteln um Hilfe, so beschreibt es Moin. Denn sie können nicht zu Hause bleiben, um sich vor dem Virus zu schützen, sie können sich nicht die Hände waschen, weil sie keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, und sie können nicht einmal mehr Passant*innen anbetteln, denn die sind nicht mehr auf der Straße. Viele von ihnen betteln normalerweise nicht: Dhaka ist eine riesige Großstadt. Laut Wikipedia leben hier neun Millionen Menschen. Moin sagt, dass es zwischen 10 und 15 Millionen sind. Viele kommen vom Land in die Stadt, um zu arbeiten, Rikscha fahren zum Beispiel. Sie haben hier aber keine Wohnungen, sie schlafen auf der Straße, wenn sie nicht arbeiten. Nun können sie nicht zu ihren Familien zurück in die Dörfer, denn der öffentliche Nahverkehr steht still.

Einen Rettungsschirm, den gebe es nur für Unternehmen, sagt der Gewerkschaftssekretär. Für die Armen gibt es nichts. Deshalb werden auch hier – wie in Sri Lanka – Initiativen aktiv, die normalerweise politische Arbeit machen, Proteste organisieren und Bildungsarbeit leisten. Jetzt stellen sie ein Desinfektionsmittel her, das sie an die Armen verteilen, sowie Lebensmittel und Medikamente.

Das gleiche System, überall

Die Arbeiter*innen in der Textilwirtschaft wussten lange nicht, woran sie sind: Laut GWTUC wurden zu Beginn des Covid-19-Ausbruchs Mitte März die Fabriken geschlossen, dann aber schnell wieder geöffnet. Nur um dann doch wieder geschlossen zu werden. Als die Pendler*innen zu ihren Familien zurück wollten, seien die Busse und Züge überfüllt gewesen – keine Spur von Infektionsschutz. Die, die es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft haben, sind in der Stadt gestrandet.

Eine Näherin in Myanmar protestiert gegen das Modeunternehmen Zara
Auch diese Frau wurde entlassen. Der Grund: die Lieferketten wurden infolge der Corona-Pandemie unterbrochen und die Aufträge blieben aus. Foto: Myan Mode Factory Union

Einige Fabriken arbeiten laut GWTUC illegal weiter, geben vor, sie würden Schutzkleidung produzieren. Andere haben ihre Arbeiter*innen von heute auf morgen auf die Straße gesetzt, ohne ihnen auch nur den März-Lohn auszuzahlen. Die Pandemie zeige nun das wahre Gesicht der Gesellschaft, so Moin: Den Wohlhabenden geht es gut, sie müssen nicht raus, können sich schützen und trotzdem versorgen. Die Armen gehören meist zur Risikogruppe, haben kaum Zugang zur Gesundheitsversorgung und haben nun nicht einmal mehr Geld für ihr tägliches Überleben. Deshalb fordert die GWTUC, dass Löhne sofort ausgezahlt werden und die Arbeiter*innen nicht gezwungen werden, unter schlechten hygienischen Bedingungen weiter zu produzieren. Und wenn die Fabriken wieder geöffnet werden, sollten entsprechende Infektionsschutzmaßnahmen getroffen werden. Ähnlich also wie in Sri Lanka oder Myanmar. Die Kämpfe der Textilarbeiter*innen gleichen sich – nicht nur in Asien. Denn das System ist überall das gleiche.

Langsam machen die Fabriken wieder auf. Ob sich die Betreiber dabei wirklich an grundlegende hygienische Standards halten, wird sich zeigen. Und dann wird man auch sehen, ob die Pandemie in Myanmar erst richtig losgeht und dann vor allem die Arbeiter*innen in den Fabriken trifft. Bisher gibt es in Myanmar nur knapp 200 bestätigte Infektionen. Damit das so bleibt, müssen die Gewerkschaften weiter gestärkt werden.

Helene Buchholz

arbeitet eigentlich beim Radio. In ihrer Freizeit reist sie gerne und ist politisch aktiv. Hin und wieder schreibt sie Texte für kleine linke Zeitungen.

Anmerkung:
1) Offizielle Zahlen der Johns Hopkins University