Zwischen Borkum und Sylt ein deutsches Jahrhundert
Von Moritz Assall
Vor 20 Jahren erschien das Buch »Unser Hotel ist judenfrei« des Historikers Frank Bajohr. Er schildert darin, wie seit den 1870er Jahren die Anzahl der Kur- und Badeorte wuchs, in denen jüdische Gäste nicht willkommen waren. Kurorte versandten Prospekte mit dem Hinweis, die Angebote seien »für jüdische Empfänger ungültig«, der Zutritt zu ihren Etablissements für »Juden und Lungenkranke« verboten. In Zeitungsartikeln wurden »die vielen Juden« beklagt, welche die »Sommerfrischen verschandeln« würden, den jüdischen Badegästen wurden empfohlen, »sich in Palästina zu erholen und gleich dort zu bleiben«.
Und so weiter, die Liste der Hetzartikel einerseits und Werbungen der »judenfreien« Hotels andererseits war erdrückend, der Antisemitismus immer vordergründiger, das Nahen der Katastrophe immer deutlicher. Bajohr schreibt: »Der politische Antisemitismus mit seiner charakteristischen Symbolik drückte nun auch dem Badeleben seinen Stempel auf: Antijüdische Kundgebungen und Aufmärsche, gewalttätige Übergriffe auf jüdische Gäste, Hakenkreuze auf Sandburgen, schwarz-weiß-rote Schleifen an der Kleidung der Kurgäste, Werbeanzeigen der Hotel- und Pensionsinhaber, die mit Hakenkreuzen versehen waren, Kurverwaltungen, die ihre Prospekte ›mit deutschem Gruß‹ versandten.«
Den wenigsten Jurist*innen dürfte der »Bäderantisemitismus« der Jahrhundertwende bekannt sein, dabei wurde damals ein Urteil gesprochen, das bis heute einen wichtigen Platz in der Entwicklung des deutschen Polizeirechts hat, nämlich das »Borkum-Urteil« vom 14. Mai 1925. Eine Kurkapelle hatte immer wieder ein bestimmtes Lied angespielt, das für sich genommen eine völlig unpolitische Marschmelodie war, zu der aber die anwesenden Badegäste regelmäßig das »Borkumlied« anstimmten, in dem es von antisemitischen Beleidigungen nur so wimmelte.
Die Frage vor Gericht war nun, ob polizeilich unterbunden werden kann, dass die Kurkapelle das Lied spielt. Das war daher umstritten, weil die Polizei damit gegen sogenannte »Zweckveranlasser« hätte vorgehen dürfen. Also gegen Menschen, die erstmal selbst keine Gefahr im polizeirechtlichen Sinn darstellten, weil sie zum Beispiel ein für sich genommen völlig unproblematisches und ungefährliches Lied spielten – das aber eben absehbar zu antisemitischen Grölereien der anderen Anwesenden führt. Das Preußische Landgericht verneinte dies, im Wesentlichen mit dem Argument, dass die Badegäste das Lied auch ohne die Vorgabe der Melodie sängen, Antisemitismus mit und ohne Kapelle also, vielleicht zu Erholungszwecken oder der Kur wegen, wer weiß.
Mittlerweile ist die Figur des »Zweckveranlassers« rechtlich anerkannt. Und so wird rund hundert Jahre nach dem »Borkum-Urteil« die fast identische Frage diskutiert: Kann durch die Polizei das Abspielen des Songs »L‘amour toujours« von Gigi d‘Agostino bei öffentlichen Veranstaltungen untersagt werden, weil absehbar rassistische Texte dazu gegrölt werden – oder wie es juristisch korrekt heißt, »es beim Abspielen des Lieds absehbar ist, dass infolgedessen bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit die öffentliche Sicherheit oder Ordnung geschädigt werden wird«?
Und die rechtliche Einschätzung lautet, wie so oft: Das kommt darauf an. Darauf nämlich, wie zwangsläufig es nach dem Abspielen des Lieds zu den Gesängen kommt, wie also das konkrete Publikum einzuschätzen ist. Je größer die rassistische Sättigung des Dancefloors, je deutschtümelnder das Dorffest, je remigrationswilliger die Kleingartenparty, desto eher könnte die Polizei das Abspielen wohl verhindern, wenn sie es denn will. Und so stellt sich, rund hundert Jahre nach dem Borkum-Fall, vor Gericht vielleicht bald wieder fast genau dieselbe Frage: Wann grölt absehbar der Mob? Ein Jahrhundert deutscher Geschichte, eingerahmt durch diese Frage. Nach Borkum wie nach Sylt.