Zurück zur Theorie
Vor 100 Jahren trafen sich Linksintellektuelle in Thüringen und veränderten den Marxismus
Von Sebastian Klauke
In vielerlei Hinsicht war 1923 in Deutschland politisch wie gesellschaftlich ein Katastrophenjahr: Hyperinflation ließ weite Teile der Bevölkerung verarmen. Mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen eskaliert der Streit um Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg und die radikale Rechte wird mit dem Hitlerputsch im ganzen Land wahrnehmbar. Das Jahr war aber auch ein linker Neubeginn. Georg Lukács und Karl Korsch legten mit »Geschichte und Klassenbewusstsein« und »Marxismus und Philosophie« wegweisende marxistische Arbeiten vor, die als wesentliche Werke des westlichen Marxismus gelten, der vor allem durch die zunehmende Trennung der marxistischen Theorie von der praktischen Politik der realen Arbeiter*innenbewegung gekennzeichnet war. Die beiden nahmen auch an der am achttägigen ersten Marxistischen Arbeitswoche (EMA) teil, die am 20. Mai 1923 begann, und übernahmen den Programmpunkt »Zur Methodenfrage«. Dieses erste Theorieseminar des im Februar 1923 gegründeten Instituts für Sozialforschung (IfS) fand im Bahnhofshotel von Friedrich Henne, einem Kommunisten, im heutigen Geraberg in Thüringen statt. Das ausrichtende Institut aus Frankfurt wurde in den 1950er und 1960er Jahren vor allem durch die Schriften von Theodor W. Adorno berühmt. Typisch für den Marxismus der Zwischenkriegszeit ging es auf dem Seminar neben sozialwissenschaftlichen Methoden vor allem um Krisentheorie und Organisationsfragen – Lenins Avantgardekonzept war nicht aufgegangen, die Rätebewegung scheiterte, die Sozialdemokratie verfolgte ein deutlich reformistisches Programm und eine entsprechende Politik, die radikale Linke verlor zusehends an Einfluss.
Besonders war die politische Bandbreite der Linken, die hier zusammenkam und der Wille, gemeinsam sich mit drängenden Fragen der Zeit geordnet auseinanderzusetzen.
Das Seminar hatte die beschauliche Zahl von 21 Teilnehmer*innen. Hier versammelte sich eine bunt gemischte Gruppe linker Intellektueller, keinesfalls nur Männer, die nur teilweise mit dem IfS in Verbindung standen. Unter ihnen waren die Reformpädagogin Hedda Korsch, der spätere Sowjetspion Richard Sorge, der japanische Marxist Fukumoto Kazuo und Friedrich Pollock, wichtiger Mitarbeiter des Frankfurter Instituts. Besonders war die politische Bandbreite der Linken, die hier zusammenkam, und der Wille, sich gemeinsam und geordnet mit drängenden Fragen der Zeit auseinanderzusetzen. Die Beteiligten waren mit dem politischen Erbe der Sozialdemokratie und deren Verrat von 1914 nicht belastet.
Karl Korsch und Felix Weil gelten als Initiatoren der Arbeitswoche. Weil war der Sohn des reichsten Getreidehändlers der Welt und konnte dadurch für die Finanzierung sorgen. Als reicher, politisch linker Mäzen war er auch Geldgeber des IfS.
Marx an die Uni
Bei der EMA ging es auch darum, den weiteren Fortgang der Institutsentwicklung zu diskutieren, denn im Oktober 1922 war überraschend Kurt Albert Gerlach, der eigentlich vorgesehene Gründungsdirektor des IfS, an den Folgen seiner Diabetes-Erkrankung verstorben. Ziel war die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sozialismus, die EMA wie auch das IfS sind zu verorten im damaligen politisch-gesellschaftlichen Ringen um die Bedeutung und Realisierung sowie systematischen Erfassung von sozialistischen, marxistischen und kommunistischen Ideen. Mit den Schriften von Lukács und Korsch konnte man dabei auf ganz neue Marx-Interpretationen und selbstreflexive Analysen zurückgreifen. Die explizit linke Gründung war dabei ein Kind seiner Zeit, die mehrere bürgerliche Neugründungen von Instituten erlebte, wie etwa das Kölner Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften.
Gerlach war ein zentraler Akteur des politisch radikalen Milieus in Kiel. 1911 promovierte er bei Ferdinand Tönnies und radikalisierte sich zusehends immer weiter nach links. Kiel wurde 1918 berühmt, weil in der Hafenstadt die Soldatenräte die Revolution begannen. Von Gerlach und Weil stammt die Denkschrift, die die Gründung des IfS entscheidend voranbrachte. Wie die beiden zusammenfanden, ist nicht geklärt: Wohlmöglich ergab sich die Verbindung über Weils Vater, der das Kieler Institut für Weltwirtschaft in den 1910er Jahren unterstützte. Dort gab es damals eine kleine Gruppe linker Intellektueller, da an diesem Institut auch linke Themen wie Syndikalismus erforscht werden konnten. Tatsächlicher Gründungsdirektor wurde dann der Austromarxist Carl Grünberg, bevor Max Horkheimer 1931 die Führung übernahm und den Beginn der Kritischen Theorie einläutete. Er veränderte die unter Grünberg eingeschlagene Richtung des Instituts hin zu einem mehrdimensionalen, philosophisch-materialistisch begründeten Forschungsprogramm und gründete die Zeitschrift für Sozialforschung.
Relevant sind die erwähnten Jubiläen in mehrfacher Hinsicht: Zum einen erweitern sie die Perspektive auf das, was sich zur Kritischen Theorie, auch Frankfurter Schule genannt, entwickeln wird – deren Vor- und Frühgeschichte ist weitaus komplexer als dargestellt. Zum anderen waren sie auch Kind ihrer Zeit, eng mit organisierten wie nicht-organisierten Kommunist*innen verbunden und reflektierten die erfolgreiche Oktoberrevolution, aber auch die Niederlagen der westeuropäischen Arbeiter*innenbewegung. Erst die Studierendenbewegung griff das gemeinsame Erbe der Kritischen Theorie und der beiden marxistischen Theoretiker Korsch und Lukács wieder auf. Adorno wurde zu einer Reizfigur der Bewegung. Er war zwar Stichwortgeber, gleichzeitig aber auch vielen Studierenden als Professor nicht radikal genug. Die Schriften des westlichen Marxismus dienten den radikalen Studierenden als Grundlage für Kritik am IfS in den 1960er Jahren.