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Wie wird aus Masse Klasse?

Weder Lohnabhängigkeit noch Streikbereitschaft allein sind dafür ausreichend, sagt der Politikwissenschaftler Alexander Gallas

Interview: Merle Groneweg

Das Foto zeigt einen Protestzug 2017 im britischen Norwich. Einige Menschen tragen rote Gewerkschaftsfahnen, andere Plakate mit der Aufschrift NHS, not safe in Tory hands
In Großbritannien haben sich Streiks gegen Kürzungen im staatlichen Gesundheitssystem NHS immer wieder zu gesellschaftlich breit getragenen Protesten gegen Austeritätspolitik entwickelt, wie hier 2017 in Norwich. Foto: Roger Blackwell/Flickr, CC BY 2.0

Wenn Beschäftigte bei Volkswagen oder bei Thyssen Krupp in den Ausstand gehen, ist selbst in Mainstreammedien von der sich (neu) formierenden »Arbeiter*innenklasse« die Rede. Bei Streiks von Uni- oder Bahnbeschäftigten oder von Assistenzärzt*innen ist das selten der Fall. Dabei spielen Arbeitskämpfe im nicht-industriellen Sektor eine wichtige Rolle für den voraussetzungsvollen Prozess der Klassenbildung, sagt der Politikwissenschaftler Alexander Gallas. Für seinen Doppelband »Exiting the Factory: Strikes and Class Formation beyond the Industrial Sector« hat er Streiks in der ganzen Welt kartiert und Fallstudien aus Deutschland, Großbritannien und Spanien angefertigt.

Was bedeutet der Begriff Klasse für dich?

Alexander Gallas: Klasse beschreibt, wie die gesellschaftliche Organisation von Arbeit mit Herrschaft in kapitalistischen Gesellschaften zusammenhängt. Das klingt abstrakt, doch es geht um konkrete Zusammenhänge: Wer arm und wer reich ist, wer Entscheidungen fällt, wer als Expert*in über bestimmte Sachverhalte sprechen kann. All diese Aspekte – der ungleiche Zugang zu materiellen und auch ideellen Ressourcen – hängen mit der Organisation von Arbeit zusammen. Klassenverhältnisse entstehen aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen: Die Kapitalseite besitzt die Produktionsmittel und herrscht über die Seite der Arbeit, weil die Arbeiter*innen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben. Der unüberbrückbare Interessengegensatz zwischen beiden Seiten – also der Klassenantagonismus – führt zwangsläufig zu Konflikten, von kleinen betrieblichen Auseinandersetzungen bis hin zu Generalstreiks.

Aufgrund der höchst unterschiedlichen Lohnarbeitsverhältnisse erscheint es heute noch schwerer vorstellbar als es vielleicht zu Marx‘ Zeiten war, dass es nur zwei Klassen gibt…

Die Marxsche Klassentheorie behauptet nicht, es gäbe nur zwei Klassen. Marx unterscheidet zwischen viel mehr Gruppen, wenn er konkrete Situationen analysiert. Dennoch betont er, dass der eben genannte Klassenantagonismus alle kapitalistischen Gesellschaften durchzieht und spaltend wirkt. Ich beziehe mich auch auf Eric Olin Wright, der mit seinem Konzept der »widersprüchlichen Klassenlagen« entscheidend zur Weiterentwicklung der marxistischen Klassentheorie beigetragen hat. Lohnabhängigkeit allein reicht nicht, um Klassenverhältnisse zu verstehen. Wright hat weitere Dimensionen identifiziert, nämlich Entscheidungsmacht und Expertise. Beschäftigte in akademischen Berufen haben für gewöhnlich mehr Entscheidungsspielräume und größere Autonomie als Arbeiter*innen im industriellen Produktionsprozess oder im Dienstleistungssektor. Außerdem gibt es Unterschiede zwischen denen, die als Expert*innen anerkannt werden, und jenen, denen – zum Beispiel aufgrund fehlender akademischer Abschlüsse – diese Expertise abgesprochen wird. Auch lohnabhängige Menschen wirken also an der Ausübung von Klassenherrschaft innerhalb der Klassengesellschaft mit. Und diese Widersprüchlichkeit trägt wiederum dazu bei, dass Solidarisierung in der Arbeitswelt oft brüchig ist. Aber in Zeiten von Austerität, wo beispielsweise im öffentlichen Dienst Lohnarbeit im großen Stil prekarisiert wird und die Arbeitsbedingungen auch unter Gruppen in widersprüchlichen Lagen immer schlechter werden, gibt es viel Potenzial für Solidarisierung und das Zusammenkommen in Streikbewegungen.

Selbstidentifikation mit Klassenkategorien sagt wenig darüber aus, ob Arbeiter*innen sich tatsächlich kollektiv zu ihrer sozialen Lage verhalten oder nicht

In den letzten Jahren gab es in der Linken eine stärkere Bezugnahme auf den Begriff Klasse, vor allem im Rahmen identitätspolitischer Debatten…

Für mich ist die Frage der Klassenidentität nicht zentral. In Großbritannien ist die Identifikation mit der Arbeiterklasse traditionell sehr hoch. Daran hat auch die Neoliberalisierung des Landes kaum etwas geändert. Letztere hatte jedoch drastische Auswirkungen auf Streikgeschehen und gewerkschaftliche Organisierung. Bis in die 1980er Jahre hinein gab es große Streikwellen; die Gewerkschaften waren ein Machtfaktor im Land. Dann begann ein jahrzehntelanger Niedergang. Das zeigt, dass Selbstidentifikation mit Klassenkategorien wenig darüber aussagt, ob Arbeiter*innen sich tatsächlich kollektiv zu ihrer sozialen Lage verhalten oder nicht. Ich konzentriere mich in meiner Forschung auf Arbeitskämpfe, weil in ihnen Klassenverhältnisse für die Beteiligten sichtbarer werden und sich möglicherweise verändern lassen. Ich sehe das Klassenhandeln von Arbeiter*innen als strukturell bedingt, aber auch situativ, widersprüchlich und instabil an. Entsprechend frage ich danach, wie Klassenbildung als Prozess abläuft: Welche Forderungen werden von Streikenden gestellt? Wer wird mobilisiert? Wie werden Streiks gesellschaftlich gesehen; wie wirken sie sich auf die Stellung von Lohnabhängigen aus? Wann entsteht Solidarität unter Arbeiter*innen – und wo trifft sie auf Hindernisse?

Alexander Gallas

ist Vertretungsprofessor für globale politische Ökonomie der Arbeit an der Universität Kassel. Er engagiert sich in der Initiative Uni Kassel Unbefristet, die gegen prekäre Arbeit auf dem Campus kämpft, und ist Mitglied der GEW.

In einem kapitalistischen Staat wird klassenbasierte Organisierung erschwert, auch dafür sind Großbritannien und die gewerkschaftsfeindlichen Gesetzgebungen unter Margaret Thatcher in den 1980ern ein gutes Beispiel. Warum ist das so?

Dem Staatstheoretiker Nicos Poulantzas folgend tendiert der kapitalistische Staat dazu, die Kapitalseite zu vereinigen und die Seite der Arbeit zu spalten. Denn der Staat funktioniert nur, wenn Steuereinnahmen generiert werden. Deshalb gibt es einen starken Anreiz für Regierungen, Kapitalakkumulation über eine kohärente wirtschaftspolitische Agenda zu fördern. Unterschiedliche Forderungen aus der Unternehmenswelt werden in ihr zusammengebracht. Das stärkt die Kapitalseite. Gleichzeitig werden die Kämpfe der Lohnabhängigen durch Gesetzgebung über das Streikrecht eingehegt. In Deutschland sind politische Streiks nach herrschender Rechtsauffassung verboten. Zudem gibt es die Friedenspflicht: Während der Laufzeit eines Tarifvertrags sind Streiks unzulässig.

Was können Gewerkschaften unter diesen Bedingungen überhaupt ausrichten?

Gewerkschaften ermöglichen kollektives Handeln entlang von Klassenlinien und können damit reale Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit verschieben. Allerdings wirken rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen darauf hin, Kämpfe zu kanalisieren und Verhandlungen zu fördern, die letztlich die Klassenherrschaft unangetastet lassen. Der materialistische Staatstheoretiker Joachim Hirsch bezeichnete Gewerkschaften als »massenintegrative Apparate«. Sie haben im Kapitalismus also immer auch eine stabilisierende Funktion. Der Begriff der Sozialpartnerschaft ist ideologisch aufgeladen – und steht für die korporatistische Tradition in Deutschland, also Verhandlungen zwischen Arbeit und Kapital, die idealerweise ohne Streiks vonstatten gehen sollen. Gewerkschaften agieren also nicht ausschließlich im Interesse der Lohnabhängigen, sondern befinden sich in einem Spannungsfeld.

Welche Rolle spielen Streiks für Klassenbildung und Solidarität unter Arbeiter*innen?

Die Auswirkungen von Streiks auf andere Arbeiter*innen können sehr unterschiedlich sein. Historisch gesehen kommt es immer wieder zu Streiks, mit deren Hilfe spezifische Beschäftigtengruppen versuchen, sich Vorteile zu sichern und andere auszuschließen. Ein drastisches Beispiel ist die Rand Rebellion 1922 in Südafrika. Weiße Bergarbeiter verteidigten die sogenannte »Colour Bar«, die verhinderte, dass Schwarze Zugang zu besser bezahlten Jobs bekamen. Für Klassenbildungsprozesse ist entscheidend, dass sich eine Solidarität entwickelt, die über enge Gruppen hinausgeht. Ich nenne das »expandierende Solidarität«. Sie zeigt sich, wenn in Streiks Forderungen gestellt werden, die auch für Beschäftigte in anderen Branchen relevant sind, also eine breite soziale Basis ansprechen und sich über Betriebs- oder Branchengrenzen hinaus als bedeutsam erweisen.

Kannst du dafür ein Beispiel geben?

Bei den Bahnstreiks der letzten Jahre ging es um Lohnerhöhungen und Arbeitszeitregelungen, aber auch um die Frage, welche Beschäftigtengruppen die kleinere Spartengewerkschaft GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) vertreten darf. Sie hat zunächst signalisiert, dass sie nicht nur die Lokführer*innen vertreten möchte, sondern alle, die in Zügen arbeiten und später – ab 2020 – auch technische Berufsgruppen, wie Beschäftigte in Werkstätten und Stellwerken. Wichtig war auch, dass die GDL mit kämpferischen Forderungen auftrat. Die Streiks haben die konkurrierende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) gezwungen, von ihrem sehr managementfreundlichen Kurs abzuweichen und sich kämpferischer zu positionieren. Diese Dynamik hat Arbeitsbeziehungen im Bahnwesen grundlegend verändert. Außerdem war der Arbeitskampf der GDL in den Jahren 2014 und 2015 indirekt gegen das Tarifeinheitsgesetz gerichtet, das eine Einschränkung des Streikrechts darstellt. Somit hatte dieser Streik für alle Lohnabhängigen in Deutschland eine große Bedeutung.

Liegen denn auch Chancen darin, wenn relativ gut bezahlte Lohnabhängige streiken?

Ja, durchaus, jeder Streik hat Potenziale. Die Streiks von Assistenzärzt*innen in Großbritannien 2015/16 sind ein interessantes Beispiel. Sie waren auf eine spezifische Berufsgruppe fokussiert, wurden aber auch zu einer Stellvertreterauseinandersetzung um den National Health Service (NHS). Die Austeritätspolitik der damaligen Tory-Regierung, die das öffentliche Gesundheitswesen untergrub, rückte ins Zentrum der Kritik.

In Deutschland sorgen die Haushaltskürzungen, zum Beispiel in Berlin, aktuell für Proteste, in denen sich Lohnabhängige unterschiedlicher Sektoren zusammenschließen. Welche Rolle spielt Austeritätspolitik für gegenwärtige Arbeitskämpfe?

Grundsätzlich hat sich das Streikgeschehen in Deutschland in den letzten Jahren intensiviert. Im Dienstleistungsbereich und im öffentlichen Sektor gewinnen die Gewerkschaften neue Mitglieder, und es kommt recht häufig zu Arbeitskämpfen. Austeritätspolitik – die im öffentlichen Sektor für gewöhnlich mit der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen einhergeht – kann dazu führen, dass sich die Betroffenen solidarisieren. Man denke an den Charité-Streik mit dem Slogan »Mehr von uns ist besser für alle«, bei dem der Schulterschluss zwischen Pflegekräften und Patient*innen deutlich wurde. Oder das Bündnis »Wir fahren zusammen« zwischen Fridays for Future und ver.di im ÖPNV-Streik. Auch die aktuellen Proteste gegen den Sparhaushalt in Berlin sind wichtig. Es wäre zu hoffen, dass solche Momente der Solidarität zu breitem gesellschaftlichen Widerstand gegen die umfassende Kürzungspolitik unter rechtsautoritären Vorzeichen führt, die uns nach der Bundestagswahl wahrscheinlich bevorsteht.

Merle Groneweg

ist politische Ökonomin und Autorin.

Alexander Gallas: Exiting the Factory: Strikes and Class Formation
beyond the Industrial Sector (zwei Bände). University Press, Bristol 2024.
208 und 292 Seiten.