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|ak 708 | Alltag

Die »Gesellschaft schützen«?

Strafgerichte diskriminieren nicht nur bestimmte Gruppen, sondern tragen auch aktiv zu rassifizierter und migrantisierter Armut bei

Von Aino Korvensyrjä

Foto einer Fahrenden Ubahn in einer Station, davor eine ältere Frau, die sich den Rücken hält.
Fahren ohne Fahrschein ist ein Delikt, für das arme Menschen besonders oft verurteilt werden. Sind diese Menschen keine deutschen Staatsbürger*innen, drohen zusätzlich aufenthaltsrechtliche Konsequenzen. Foto: Matthias Berg

Berlin Moabit ist der größte Strafgerichtskomplex Europas. Das Amtsgericht Tiergarten und das Landgericht Berlin, die sich hier befinden, beschäftigen etwa 370 Richter*innen, 360 Staatsanwält*innen und 100 Amtsanwält*innen. In der JVA Moabit sind etwa 800 Personen inhaftiert, die meisten in Untersuchungshaft. Täglich werden bis zu 300 hauptsächlich geringfügige Fälle verhandelt. Neben Verkehrsdelikten machen Diebstahl, Fahren ohne Fahrschein und Betrug einen großen Teil der Fälle aus. Das Amtsgericht hat auch eine Zweigstelle in der Polizeiwache in Tempelhof, das sogenannte Schnellgericht. In diesem kleinen Raum werden an zwei Wochentagen die sehr geringfügigen Fälle verhandelt.

Jeden Tag werden die Namen der Angeklagten an den Eingängen des Gerichtkomplexes ausgehängt. Als ich 2023 mit dem Justice Collective über 100 Gerichtsverhandlungen am Amtsgericht in Moabit und im Schnellgericht beobachtet habe, waren täglich etwa 70 bis 80 Prozent der Namen »nicht-deutsch«. Was sagt das über den Zusammenhang von Rassismus und Strafjustiz aus? 

Dieser Frage will ich in diesem Text nachgehen. Ich beginne mit Gerichtsbeobachtungen und gehe anschließend auf Gerichtsabläufe ein, die rassifizierte und migrantisierte Armut reproduzieren, aber nicht im Gerichtssaal beobachtet werden können. Dazu gehört auch, wie Gerichte mit anderen Institutionen interagieren, um soziale Ungleichheit zu erzeugen und zu legitimieren. 

Kriminalität und Unschuld

Das Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich« von Ronen Steinke (2022) hat die Debatte über soziale Diskriminierung im deutschen Strafrechtssystem neu entfacht. Die Reportagen von Niels Seibert in nd und ak entlarvten die ihm inhärente »Alltagsbarbarei«. Beide Autoren zeigen, wie das Tagesgeschäft der Strafgerichte darauf abzielt, arme und marginalisierte Menschen an ihrem sozialen Platz zu halten. Sie schildern eindringlich die banale Grausamkeit dieser Verfahren und stellen damit die vorherrschende Vorstellung von der Justiz als hochgeschätztem Eckpfeiler der deutschen demokratischen Rechtsordnung in Frage.

Die Fälle, die ich 2023 am Amtsgericht Tiergarten beobachtete, bestätigen diese Erkenntnisse. Unter den Angeklagten waren arbeitslose und prekär beschäftigte Personen, die Lebensmittel gestohlen hatten, Mütter, die Kleidung für ihre Kinder mitgenommen sowie arme Menschen, die öffentliche Verkehrsmittel benutzt hatten, ohne zu bezahlen. Viele hatten gesundheitliche Probleme. Nur selten handelte es sich um Menschen, die einer Vollzeitbeschäftigung mit einem existenzsichernden Lohn nachgingen. Richter*innen belehrten diese Menschen über den Wert von Privateigentum und harter Arbeit, obwohl offensichtlich war, dass sie aktiv von einem Leben im Einklang mit solchen Werten ausgeschlossen waren. 

Was in der neuen Debatte über Diskriminierung durch Strafjustiz weniger Beachtung findet, ist Rassismus. Ein wichtiger Faktor ist dabei die vorherrschende Auffassung, die von der offen rassistischen Rechten und der wohlmeinenden linken Mehrheit in Deutschland geteilt wird und der Logik des Strafrechts folgt: Bestrafung darf nur kritisiert werden, wenn die Unschuld der Person nachgewiesen werden kann. Auch Linke scheuen in Deutschland nicht selten davor zurück, Fragen zur Kriminalisierung migrantisierter Menschen zu stellen (ak 707), wenn es nicht möglich ist, ihre Unschuld zu beweisen.

Wir brauchen jedoch eine andere Perspektive, um der aktuellen moralischen Panik entgegenzuwirken, der zufolge »kriminelle Ausländer« – oder auch Staatsbürger*innen of Color – ausgewiesen oder abgeschoben werden sollen und die die Ausweitung des Strafrechtssystems und des Abschieberegimes vorantreibt.

Urteile wohlhabender Weißer 

Wer mehr Zeit in Moabit oder beim Schnellgericht verbringt, wird Schwierigkeiten haben, den Rassismus zu ignorieren, der das Alltagsgeschehen des Gerichts strukturiert. Die Staatsanwält*innen und Anwält*innen sind in der Regel weiß. Nur einige wenige der Hunderte Richter*innen in Moabit sind nicht-weiß.

Die »deutschen« Namen der Richter*innen, die in den Geschäftsverteilungsplänen des Gerichts aufgeführt sind, bilden einen deutlichen Kontrast zu den »nicht-deutschen« Namen, die jeden Tag viel öffentlicher an den Eingängen nachzulesen sind. Letztere sind türkische, osteuropäische oder arabische Namen oder Namen aus anderen Regionen, die nicht mit Weißsein assoziiert werden. Viele dieser Menschen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, wurden hier geboren und sozialisiert. Es geht mir nicht darum, diesen Menschen, deren Namen nicht Scholz, Schmidt, Christian oder Christine lauten, eine Nichtzugehörigkeit zuzuschreiben, sondern darum zu fragen: Warum sind Menschen mit solchen Namen unter den Angeklagten überrepräsentiert? 

Sowohl das Migrations- als auch das Strafrecht sind Instrumente der repressiven Enteignung.

Die Langzeitbeobachtung der Gerichtsverfahren zeigt, dass die Kriminalisierung unterschiedliche Gruppen innerhalb der Bevölkerung unterschiedlich stark trifft. Die Prozesse gegen Angeklagte mit »nicht-deutschen« Namen, die ich beobachtet habe, betrafen etwa zur Hälfte Nicht-Deutsche, zur Hälfte Deutsche of Color – die in öffentlichen Debatten als Menschen mit »Migrationshintergrund« bezeichnet würden. Unabhängig von Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsstatus waren die meisten Angeklagten prekär beschäftigt, arbeitslos oder obdachlos. Viele hatten ein Arbeitsverbot. Es gab (alleinerziehende) Mütter, Asylsuchende und Geduldete, osteuropäische EU-Bürger*innen, viele Rom*nja und Menschen, die wahrscheinlich Kinder oder Enkelkinder von Gastarbeiter*innen und Geflüchteten sind. 

Die Rassifizierung und Migrantisierung der Armut in Deutschland erklärt zum Teil, warum diese Menschen häufiger als Angeklagte auftreten als weiße Deutsche: Im Jahr 2023 waren zwölf Prozent der Menschen ohne »Migrationshintergrund« armutsgefährdet. Unter den Menschen mit »Migrationshintergrund«  lag der Anteil bei 28 Prozent, unter den Nicht-Staatsbürger*innen sogar bei 36 Prozent. 

Eine ähnliche, aber verzerrtere Situation zeigt sich bei den Verurteilungen. Während 15 Prozent der deutschen Bevölkerung im Jahr 2022 Nicht-Staatsbürger*innen waren, lag ihr Anteil bei den Verurteilten bei etwa 37 Prozent. Der Anteil der Verurteilten mit »Migrationshintergrund« ist nicht bekannt, dürfte aber deutlich höher sein, da Nicht-Staatsbürger*innen lediglich eine Untergruppe innerhalb dieser statistischen Kategorie darstellen. Meine Gerichtsbeobachtugen in Berlin zeigen auch, dass die Betroffenheit unter dieser Gruppe differenziert ist: Die Menschen, die vor Gericht erscheinen oder verurteilt werden, sind selten Westeuropäer*innen mit akademischen Abschlüssen oder deren Kinder.

Diese statistische Bemerkungen zu Armut und Kriminalisierung von Migration sind zwar wichtig, vermitteln aber noch kein vollständiges Bild davon, wie die als »nicht-deutsch« eingestuften Gruppen vor dem Strafgericht behandelt werden. 

Rassismus im Gerichtssaal

Unhöfliche Behandlung in Gerichtssälen und auf den Fluren gehört dazu, wenn man Angeklagte*r ist. Bei den von mir beobachtetet Prozessen wurden die Angeklagten außerdem regelmäßig von Richter*innen, Staatsanwält*innen und Anwält*innen mit rassistischen Stereotypen konfrontiert. Häufig gab es Vorfälle von antiromaistischem und antimuslimischem Rassismus sowie Rassismus gegenüber Asylsuchenden.

Angeklagte, die Nahrungsmittel gestohlen hatten, wurden von Richter*innen und Staatsanwält*innen als Personen mit »hoher krimineller Energie« bezeichnet, die von »Volkszugehörigkeitshandeln« geprägt seien oder sich einer »besonders perfiden Art«, Gegenstände im Kinderwagen zu verstecken, bedienten und die »schlechte Mütter« seien. Eine Richterin sagte zu einer Frau, die Kleidung für ihr kleines Kind gestohlen hatte, dass es ihre Aufgabe sei, »die Gesellschaft« vor Menschen wie dieser Angeklagten zu »schützen«. Bei Asylsuchenden zweifelten die Richter*innen häufig an den Asylgründen, was ihre Anwesenheit in Deutschland als illegitim darstellte, und beschuldigten sie mitunter, »nur nach Deutschland gekommen zu sein, um zu stehlen«. Bei muslimischen Menschen stellten Richter*innen zahlreiche Fragen zu ihren Ehepraktiken, spotteten über Scheidungen und verwendeten häufig Formulierungen wie »bei uns«, um so die vermeintlichen Unterschiede zwischen der »muslimischen« und der »deutschen« Kultur zu unterstreichen, selbst wenn die Angeklagten Deutsche oder in Deutschland sozialisiert waren. Nicht-weiße Deutsche wurden in der Regel zu möglichen anderen Staatsbürgerschaften befragt.

Wutanfälle, Spott, Herabwürdigungen oder Gleichgültigkeit waren keine Seltenheit. Eine Richterin brach in Gelächter aus, als die Anklage gegen eine romani Mutter verlesen wurde, die mit ihrem kleinen Kind anwesend war. Während die Richter*innen weiße deutsche Angeklagte oft höflicher mit »Herr/Frau N.« ansprachen, wurden Personen, die kein Deutsch sprachen, über Dolmetscher*innen in der dritten Person oder als »der Angeklagte« angesprochen.

All dies sind Beispiele für offensichtlichen Rassismus, der die Angeklagten entmenschlicht und herabsetzt. Wie aber hängen solche Auftritte im Gerichtssaal mit der strukturellen Funktion des Gerichts zusammen? 

Das Zusammenspiel der Institutionen

Wie der im Frühjahr verstorbene Aktivist Biplab Basu immer wieder betonte, müssen wir Gerichte als Teil des Strafrechtssystems analysieren. Das heißt, Richter*innen und Staatsanwält*innen handeln nicht isoliert, sondern im engen Zusammenspiel mit der Polizei, den Gefängnisbehörden und Sozialarbeiter*innen. Weitere Akteure, die in der Praxis mit den Gerichten verbunden sind, wenn auch nicht formal, sind Ausländerbehörden, Abschiebehaftanstalten, das Asylsystem und die Jobcenter.

Strafverfahren auf niedriger Ebene und besonders Strafbefehlsverfahren sind anfällig für das, was Basu als den Kern des institutionellen Rassismus identifizierte: die Kooperation verschiedener Akteure, basierend auf impliziten Annahmen über bestimmte Gruppen als »Gefahr« für die Gesellschaft. Der Druck, wertvolle Zeit vor Gericht zu sparen, und die Beschleunigung und Routinisierung der Verfahren haben ein erhebliches Potenzial, gruppenbezogene Diskriminierung auszuweiten. 

Eine Richterin sagte zu einer Frau, die Kleidung für ihr kleines Kind gestohlen hatte, dass es ihre Aufgabe sei, »die Gesellschaft« vor Menschen wie dieser Angeklagten zu »schützen«.

Die meisten Verurteilungen werden heute außerhalb von Gerichtssälen abgewickelt. Beim Strafbefehlsverfahren wird das Urteil per Post zugestellt und tritt in Kraft, sofern die Person nicht innerhalb von 14 Tagen Einspruch einlegt. Während Staatsanwält*innen Ermittlungen auch mal einstellen, wird in diesen beschleunigten Verfahren die polizeiliche Sichtweise häufig in den Strafbefehl und das Urteil übernommen – im Namen der Entlastung der Gerichte. Selbst wenn nicht-deutschsprachige Personen den Inhalt eines Strafbefehls und ihre Rechte verstehen, können sie sich oft keinen Rechtsbeistand leisten. Sozialarbeiter*innen raten daher häufig, lieber zu zahlen als Einspruch einzulegen, da Fälle ohne Anwält*in in der Regel verloren werden. Aus diesen Gründen sind Strafbefehle ein effizientes Instrument, um diese Gruppen zu kriminalisieren. 

Die Polizei spielt auch in anderen Strafverfahren eine wichtige Rolle, beispielsweise durch Erstellung der Ermittlungsakte. Organisationen wie KOP und The Voice Refugee Forum machen seit Jahrzehnten darauf aufmerksam, wie die Polizei rassistische Hierarchien reproduziert: Sie nimmt beispielsweise gezielt People of Color und andere marginalisierte Gruppen wie Obdachlose ins Visier. Racial Profiling führt oft zu Anklagen gegen die betroffenen Personen und anschließend zu Strafbefehlen oder Gerichtsverfahren. Im Gerichtssaal treten Polizeibeamt*innen gewöhnlich als Zeug*innen auf, die von Staatsanwält*innen und Richter*innen kollegial behandelt werden.

Ausländerrechtliche Konsequenzen der Kriminalisierung auf das Leben der betroffenen Menschen waren während meiner Beobachtungen fast nie explizites Thema im Gerichtssaal. Die Ausweisung zum Beispiel wird nicht als Strafe angesehen und von den Ausländerbehörden, nicht von den Gerichten, entschieden. Dennoch sind ihre Auswirkungen oft härter als die einer strafrechtlichen Bestrafung – unabhängig davon, ob die Ausweisung durch Abschiebung oder »lediglich« durch intensive soziale Ausgrenzung in der Duldung durchgesetzt wird. Die am häufigsten betroffenen Nationalitäten bei Ausweisungen waren zuletzt Albanien, Ukraine, Rumänien, Moldau, Georgien, Serbien, Bulgarien und die Türkei: Menschen mit diesen Nationalitäten bin ich vor Gericht oft begegnet. Wenn es zu einer Abschiebung kommt, wird die Abschiebehaft oft als weitere Maßnahme staatlicher Gewalt angewendet, die nur Nicht-Staatsbürger*innen betrifft.

Sowohl der offene Rassismus im Gerichtssaal als auch die beschriebenen Praktiken außerhalb des Gerichtssaals behandeln Menschen als überflüssig und unwürdig, Rechte und Ressourcen zu erhalten. 

»Crimmigration« als repressive Enteignung

Abolitionistische Forscher*innen wie Ruth Gilmore oder Nandita Sharma argumentieren, dass Rasse und Rassismus nicht auf kulturelle oder biologische Differenzen zurückzuführen sind, sondern durch staatliche Gewalt produziert werden. Staatliche Gewalt wiederum beinhaltet, wie Gilmore betont, sowohl Zwangsmaßnahmen als auch Enteignung oder Begrenzung von Lebenschancen.

Eine besondere Rolle spielt dabei die beschriebene, zunehmende Verwicklung von Straf- und Migrationsrecht. Die englischsprachige Forschung theoretisiert dies unter dem Begriff Crimmigration.

Sowohl das Migrations- als auch das Strafrecht können als Instrumente der repressiven Enteignung angesehen werden. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Nicht-Staatsbürger*innen die Arbeit untersagt wird oder sie durch eine drohende Abschiebung zu missbräuchlichen Arbeitsbedingungen gezwungen werden. In zahlreichen Fällen, die ich vor Gericht beobachtet habe, ging es um Angeklagte, die einem Arbeitsverbot unterlagen – Asylsuchende, geduldete oder vollständig illegalisierte Personen. Wie die Organisator*innen der NSU-Tribunale in Köln und anderswo gezeigt haben, werden solche Enteignungen und ihre Auswirkungen oft über Generationen hinweg weitergegeben. 

Mechanismen der repressiven Enteignung häufen sich im Leben bestimmter Menschen an: Wenn Menschen sich keinen Anwalt leisten können, haben sie kaum eine Chance, sich effektiv zu verteidigen. Laut Ronen Steinke korrelieren geringe finanzielle Mittel mit der Wahrscheinlichkeit, verurteilt zu werden. Da die meisten Verurteilungen mit Geldstrafen verbunden sind und arme Menschen betreffen, kommt es häufig zu Verschuldung. Mitali Nagrecha zeigte in einem Bericht aus dem Jahr 2020 außerdem auf, wie deutsche Gerichte Tagessätze so festgelegen, dass sie bereits verarmte Gruppen benachteiligen.

Vor Gericht hatten die meisten Angeklagten, die ich sah, bereits Vorstrafen, und viele hatten Schwierigkeiten, ihre Geldstrafen in Raten zu zahlen, da sie keine ausreichenden Monatseinkommen hatten. Einige erklärten, sie hätten die nächste Straftat begangen, um bestehende Schulden zu begleichen. Die Forschung von Nicole Bögelein und die Arbeit der Kampagne Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen haben öffentlich bekannt gemacht, wie viele verarmte Menschen in Deutschland gezwungen sind, ihre Geldstrafen im Gefängnis abzusitzen.

Alternativen

Gerichte diskriminieren nicht einfach nur bestimmte Gruppen. Vielmehr tragen Strafgerichte aktiv zu der Schaffung von Hierarchien der Lebenschancen bei. Insbesondere reproduzieren sie rassifizierte und migrantisierte Armut. Wie erwähnt, geschieht dies oft durch die Interaktion zwischen staatlichen Akteuren und rechtlichen Rahmenbedingungen. 

Obwohl Forschung und öffentliche Debatten hinterherhinken, haben insbesondere soziale Bewegungen und rassifizierte Communities seit Jahrzehnten kritische Analysen zur rassistischen Kriminalisierung geliefert. Organisationen wie KOP und Reachout, die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, The Voice Refugee Forum, Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen oder das Bündnis NSU Komplex Auflösen haben staatliche Gewalt überwacht, dokumentiert und skandalisiert. Sie haben aufgezeigt, wie Polizei, Ausländerbehörden und Gerichte zusammenarbeiten, oft mit anderen Akteuren wie Medien und Politik. Sie haben auch den Gerichtssaal als politischen Raum genutzt. Justizwatch beobachtete von 2014 bis 2021 Prozesse gegen von Rassismus betroffene Angeklagte. Das Forschungsprojekt von Justice Collective, bei dem ich 2023 mitarbeitete, systematisierte diese Praxis, um 200 Prozesse zu den häufigsten geringfügigen Straftaten zu beobachten. Andere Gruppen leisten Selbsthilfe, dokumentieren und produzieren wertvolles Wissen über rassistische Kriminalisierung. In den vergangenen Monaten gab es zudem eine starke Mobilisierung gegen die Kriminalisierung von Antikriegsprotesten und Palästina-Solidarität. Viele Menschen haben Prozesse solidarisch beobachtet und an regelmäßigen Protesten vor dem Gericht in Moabit teilgenommen. 

Viele dieser Gruppen haben außerdem Alternativen vorgeschlagen, wie wir den Zugang zu Rechten, Ressourcen und lebenserhaltenden Dienstleistungen organisieren könnten, ohne auf das Strafrechtssystem angewiesen zu sein. Ihre Arbeit verweist darauf, dass das Strafrecht oder seine Verschmelzung mit dem Migrationsrecht eine schlechte Antwort auf die aktuelle Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Auswirkungen globaler Ungleichheit ist. 

Aino Korvensyrjä

ist Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin, die u.a. in Justizwatch und Justice Collective aktiv war. Sie hat über Kämpfe im deutschen Abschieberegime promoviert.