Wie die Natur erfunden wurde
Der Umwelthistoriker Jason W. Moore über den Dualismus von Natur und Gesellschaft als Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus
Interview: Raul Zelik
Erderwärmung, Naturkatastrophen, Finanzkrisen oder Pandemien – die globalen Krisenerscheinungen häufen sich. Anstatt sie aber getrennt voneinander zu analysieren, müssten sie zusammen gedacht werden. Die sogenannte Weltökologie hat den Anspruch, dies zu leisten. Dabei greift sie auf feministische Debatten um unbezahlte Hausarbeit, postkoloniale Kritik, die Marxsche Werttheorie, Weltsystemtheorie sowie »grünes Denken« zurück. Einer ihrer Vertreter ist der US-Soziologe Jason W. Moore, dessen deutsche Übersetzung von »Capitalism in the Web of Life« (2015) unlängst unter dem Titel »Kapitalismus im Lebensnetz« erschienen ist. Mit Moore sprach der Schriftsteller und Politikwissenschaftler Raul Zelik.
In Ihrem Buch »Kapitalismus im Lebensnetz« fordern Sie, dass linke Ökologie den Dualismus »Gesellschaft-Natur« überwinden sollte. Sie betonen die Verschränkung: Gesellschaften erschaffen Umwelten, Naturen »ko-produzieren« Gesellschaftsordnungen. Sie schreiben, der Kapitalismus könne nur innerhalb dieses »Lebensnetzes« (web of life) analysiert werden.
Jason W. Moore: Den Ansatz, den ich und andere Kollegen verfolgen, nennen wir »Weltökologie«. Darunter verstehen wir weniger eine Theorie als einen Dialog, der das Ziel hat, den Kapitalismus als eine Ökologie von Produktion, Reproduktion und Macht in einem Netz des Lebens zu beschreiben. Auf Englisch sprechen wir von Environment-Making, also dem gesellschaftlichen Erschaffen von spezifischen Umwelten. Die Geburt des Nationalismus, der Imperialismus, die Industrialisierung – das alles sind dialektisch zu verstehende Prozesse des »Umweltmachens«. Die Hegemonien der großen kapitalistischen Mächte – erst der Niederlanden, dann Großbritanniens und der USA – produzierten nicht nur enorme Veränderungen von Landschaft und Räumen, sondern sie wurden gleichzeitig von der Natur »ko-produziert«. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir bei »Umwelt« nicht nur an Farmen, Felder, Vögel, Bienen und Tiere, sondern auch an kulturelle und soziale Umwelten denken. In diesem breiteren Verständnis von Environment-Making sind Klasse, Imperium und das globalisierende Patriarchat wechselseitig miteinander verschränkt.
Jason W. Moore
Jason W. Moore (geb. 1971) studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte; er promovierte in Geografie. Seit 2013 lehrt er unter anderem Weltgeschichte und Weltökologie an der Binghamton University im Fachbereich Soziologie. Zudem koordiniert er das World-Ecology Research Network. Seine Themenschwerpunkte sind Geschichte des Kapitalismus und die Ökologie. Auf Deutsch erschien (gemeinsam mit Raj Patel) »Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen« (Rowohlt 2018) und zuletzt »Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und die Akkumulation des Kapitals« (Matthes & Seitz 2020, 471 S., 32 EUR)
In einem Aufsatz über den Aufstieg der Niederlanden im 17. Jahrhundert haben Sie skizziert, was das bedeutet. Sie zeigen, dass der ökonomische Erfolg der Niederlande auf großen ökologischen Veränderungen beruhte: u.a. dem Getreideanbau im Baltikum und dem Holzschlag in Skandinavien. Dieses Naturverhältnis habe sich schließlich erschöpft.
Mir geht es darum zu zeigen, dass die kapitalistische Moderne immer spezifische »umweltmachende« Projekte entwickelt. Auf diese Weise stellt sie bestimmte Lebensnetze her – das Ziel dabei ist, die Möglichkeit der Profiterzielung zu erhöhen. Im Inneren dieses Projekts steht eine begriffliche, aber auch politisch-praktische Unterscheidung, nämlich die zwischen Zivilisation und Wildnis. Als die Europäer nach Amerika, Südostasien und Afrika gingen, brachten sie diesen Dualismus mit. Zeitweise nahm er auch die Gestalt »Christianisierung/Heidentum« an, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter der Vorherrschaft der USA daraus »Entwicklung/Unterentwicklung«. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei nicht nur epistemologische Fragen. Im Buch spreche ich von »realen Abstraktionen«: Die Unterscheidungen sind real, obwohl wir wissen, dass sie nicht materiell im Sinne von biologisch gegeben sind. Ähnlich wie »Rassen« ist auch Natur eine Abstraktion, eine im Marxschen Sinne »herrschende Idee«, die die Welt auf höchst konkrete Weise formt. Und tatsächlich ist diese begriffliche Unterscheidung zum Terrain weltweiter Klassenkämpfe geworden. Über Jahrhunderte hinweg waren antikoloniale Bewegungen auch Aufstände gegen das »zivilisierende« Projekt der Moderne. Man könnte also sagen, der Aufstieg des Kapitalismus beruht auf der Erfindung der »Natur«. Denn präkapitalistische Gesellschaften kennen keine strikte Unterscheidung zwischen sich und ihrer Umwelt. Das ist auch deshalb bedeutend, weil diese begriffliche Differenzierung historisch eng verknüpft ist mit Patriarchat und Rassifizierung. Viele Menschen wurden aus dem Zivilisationsprojekt ausgeschlossen und »der Wildnis« zugeordnet: Frauen, Nicht-Weiße und im Besonderen Afrikaner, Indigene, Kelten oder Slawen. Die Binarität ist also im Zentrum einer praktischen Gewalt, die Profitmöglichkeiten eröffnet und kapitalistische Akkumulation vorantreibt.
Eine weitere zentrale These bei Ihnen lautet, der Kapitalismus beruhe auf vier billigen Inputs (Four Cheaps): Arbeit, Energie, Nahrungsmittel und Rohstoffe. Die Zeit dieser Four Cheaps neige sich ihrem Ende zu. Stimmt das? Öl ist heute extrem billig, der Preis erneuerbarer Energien fällt, und an billigen Arbeitskräften mangelt es auch nicht.
Meine These ist, dass jeder großen Welle kapitalistischer Expansion eine deutliche Verringerung der Wertzusammensetzung – oder vereinfacht: des Preises – der Four Cheaps zugrunde liegt. Seit dem 16. Jahrhundert ist die Organisation der Landwirtschaft eine agrarökologische und soziale Voraussetzung des Kapitalismus. Die Essenz dieses Modells ist: Steigerung der Kalorienproduktion bei abnehmender durchschnittlicher Arbeit. Möglich war dies durch die gewaltsame Erweiterung fruchtbarer Anbaugebiete, der sogenannten Frontiers. Die Zuckerrohrplantagen in der Karibik und Brasilien oder die Inbesitznahme indigener Gebiete in Nordamerika sind Beispiele dafür. Aber auch im 20. Jahrhundert beruhten kapitalistische Wachstumsphasen auf großen »Agrarrevolutionen«, die die Nahrungsmittelpreise für die globale Arbeiterklasse verringerten. In diesen Prozessen wurden zwar Hunderte Millionen Bauern ihres Landes beraubt und viele starben, aber entscheidend war die Lebensmittelversorgung der Arbeiterklassen.
Über Jahrhunderte hinweg waren antikoloniale Bewegungen auch Aufstände gegen das »zivilisierende« Projekt der Moderne.
Und das ändert sich jetzt?
Schon seit Mitte der 1980er Jahre stagniert die Produktivitätsentwicklung von Cash Crops, also für den Export bestimmte Agrarprodukte, in weiten Teilen der Welt. Und nun kommt der Klimawandel dazu, der, wie Agrarökonomen konstatieren, die landwirtschaftlichen Erträge fallen lässt. Das macht Nahrungsmittel tendenziell teurer. Wie sieht es mit der Arbeit aus? Statt der Vollautomatisierung von Fabriken haben wir eine Kapitalflucht aus Industriestaaten in Billiglohnländer erlebt, die die Akkumulation in Gang gehalten hat. Doch in China, der verlängerten Werkbank des globalen Kapitalismus, haben die sozialen Spannungen zugenommen und die Löhne sind zuletzt deutlich gestiegen – eine Entwicklung, die den Unternehmen überhaupt nicht gefällt. Diejenigen, die können, weichen in Länder aus, in denen die Löhne noch niedriger sind. Aber Kambodscha oder Vietnam sind sehr viel kleiner als China, das heute das Herzland der kapitalistischen Weltökologie ist. Dazu kommt außerdem, dass Rohstoffe knapper und teurer werden. Und was die Energie angeht, stimmt es zwar, dass wir gerade einen Absturz der Ölpreise erleben, aber der ist konjunktureller Natur und sagt nichts über längerfristige Tendenzen aus.
Sie messen dem Marxschen Wertgesetz große Bedeutung bei – die Verwertung des Kapitals beherrscht alle sozialen Beziehungen und das Naturverhältnis. Gleichzeitig betonen Sie aber auch, dass diese Verwertung nur so lange funktioniert, wie es ein Außen gibt, das sich in Besitz nehmen lässt: die kostenlose Haus- und Sorgearbeit von Frauen, kostenlose »Naturräume«, oder Kolonien.
Das ist eine These von Rosa Luxemburg, die ich für die wichtigste marxistische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts halte. Mein Argument ist, dass diese Aneignung unbezahlter Arbeit nicht nur mithilfe von Kanonenbooten und Helikoptern, sondern auch durch das »zivilisatorische Projekt« selbst stattfindet. Es gibt eine »geokulturelle« Praxis der Aneignung – hier beziehe ich mich auf die großartigen Bücher der Feministin Maria Mies. Anders ausgedrückt: Jeder kapitalistische Sprung beruhte auf einer noch größeren Welle der Aneignung kostenloser Arbeit von Frauen, Natur und Kolonien mithilfe von Gewalt, Kultur und Wissenschaften. Wichtig erscheint mir, dass der Kapitalismus dabei nicht einfach nur zerstört. Er mobilisiert enorme Gewalt gegen alle Formen des Lebens – der menschlichen wie der nichtmenschlichen – und verwandelt das Lebensnetz dabei in Profitmöglichkeiten. Dies geschieht entweder durch direkte Kommodifizierung, beispielsweise indem man eine Landschaft in eine große Mine oder eine Agrarplantage verwandelt, oder durch eine bestimmte Rationalität und Expertise, mit der sich unbezahlte Arbeit sicherstellen lässt.
Auch hier verweisen Sie auf eine »Erschöpfung« des Modells: Umso mehr Lebensbereiche und Regionen inwertgesetzt sind, desto kleiner wird das Außen. Im Prinzip lässt sich ja schon seit einigen Jahrzehnten beobachten: Dass die Finanz- und Spekulationsmärkte so stark an Bedeutung gewonnen haben, hat ja auch damit zu tun, dass es an »realen« Investitionsmöglichkeiten mangelt. Was bedeutet das für die Zukunft?
Ich halte es für ein systemisches Problem der Kapitalakkumulation, dass die Quellen der einfach anzueignenden Arbeit von Frauen, Natur und Kolonien allmählich versiegen. Gleichzeitig wächst der Kapitalstock. Bei Bloomberg war vor einigen Monaten zu hören, dass 13 Billionen US-Dollar in nationalen Schuldverschreibungen geparkt sind, die keine oder Negativzinsen einbringen. Ein klassisches Problem der Überakkumulation. Ein weiterer Anlageort sind Immobilienmärkte – die stark vom Klimawandel betroffen sein werden, denn der ansteigende Meeresspiegel wird große Immobilienvermögen vernichten. Eine der Möglichkeit, die ich hier sehe, ist, dass imperiale Staaten politisch erzwungene Formen der Akkumulation durchsetzen, um die Interessen der oberen Klassen zu schützen. Eine auf Abgaben beruhende Produktionsweise – das, was Samir Amin als »tributpflichtige Produktionsweise« bezeichnet hat. Es gibt weiter Märkte, Händler, Lohnarbeit und Fabriken, aber es ist kein klassischer Kapitalismus mehr, weil die Akkumulation verstärkt auf politischer Macht und Tributen beruht.
Sie kritisieren die apokalyptischen Vorstellungen von Teilen der Umweltbewegungen. Aber Sie selbst argumentieren, dass die kapitalistische Moderne ihre ökologisch-materiellen Grenzen überschreitet, weil ihr Stoffwechsel mit der Natur nicht nachhaltig ist.
Der Kapitalismus war und ist für einen großen Teil der Menschheit schon immer eine Katastrophe. Den rosafarbenen Blick vieler Marxisten, wonach die Moderne die Lebensqualität vieler Menschen verbessert habe, teile ich nicht. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Apokalypse tief in einer christlich-millenaristischen Tradition verwurzelt. Teile der ökologischen Linken in den USA klingen ganz ähnlich wie der christliche Fundamentalismus: »Dies ist der Moment der Wahrheit«, »der große Bruch« usw. In dieser Erzählung übt die Natur Rache, und wir müssen uns organisieren, um die Menschheit zu retten. Ich denke stattdessen, dass wir uns intensiver mit den globalen Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen beschäftigen sollten, die mit den biophysikalischen Naturen verknüpft sind. In diesem Sinne würde ich begrifflich zwischen Krise und Katastrophe unterscheiden und von einer »epochalen Krise« sprechen. Charakteristisch für diese Art der Krisen ist, dass diese sich teilweise über ein Jahrhundert hinziehen. Es ist also gut möglich, dass es Gebiete auf der Welt geben wird, in denen die sozialen Beziehungen in den nächsten 20, 30 oder 40 Jahren sehr ähnlich aussehen werden wie heute. Und doch entfalten sich auf systemischer Ebene sozioökologische Probleme und Krisen, die durch Macht und Business as usual nicht gelöst werden können.