»Stahlwerk jetzt!«
Wie die IG Metall 1983 einen großen Teil der Schwerindustrie vergesellschaften wollte – und was wir daraus lernen können
Von Ralf Hoffrogge
Die Berliner Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen hat mit ihrem Vorschlag zur Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen Gemeinwirtschaft als Alternative zum Markt wieder auf die Agenda gesetzt. Die letzte große Bewegung dazu liegt fast 40 Jahre zurück: 1983 setzte die IG Metall (IGM) an, die westdeutsche Stahlindustrie zu sozialisieren. Damals war das Klassenpolitik von Stahlarbeitern und ihren Familien. Eine Reaktion auf die Krise der Produktion. Heute lähmt eine Krise der Re-Produktion unseren Alltag – Wohnen, Gesundheit und Verkehr sind reif für den Übergang zur Gemeinwirtschaft.
Stahl steht wie kaum etwas anderes für den Kapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, für Arbeiterelend neben ungeheurer Konzentration von Reichtum. Die Stahlbarone verdienten am Eisenbahnboom ebenso wie an den »Stahlgewittern« des Ersten Weltkrieges. Es war der Stahlindustrielle Fritz Thyssen, der mit seinem Buch »I paid Hitler« das problematische Verhältnis von Stahl und Demokratie auf den Punkt brachte. Schon 1918 und 1945 verlangten daher Stahlarbeiter eine Sozialisierung. Sie bekamen nach einer Generalstreikdrohung mit der Montanmitbestimmung 1951 immerhin die halbe Macht: 50 Prozent der Sitze in Aufsichtsräten der Stahlkonzerne gehörten den Arbeitnehmern, wie die Arbeiter nun hießen. Auskosten konnten sie ihre Machthälfte nicht lange, denn die deutsche Stahlindustrie rationalisierte sich ab Anfang der 1960er Jahre in eine Dauerkrise. Auf Absatzschwierigkeiten reagierte sie mit Personalabbau und effizienteren Verfahren – andere taten dasselbe, globale Überproduktion war die Folge. Dennoch war die Stahlindustrie in Westdeutschland 1973 mit 228.000 Beschäftigten die zweitgrößte der Welt – nur in den USA lebten mehr Menschen vom Stahl. Doch ab 1975 begann eine regelrechte Stahlkrise: In der Industrie gingen in manchen Jahren monatlich 1000 Jobs verloren. Die IG Metall als mächtigste Gewerkschaft der Republik konnte den Abstieg nur mit Sozialplänen begleiten. Versetzungen und Frühverrentungen verhinderten Massenentlassungen, zementierten aber die Abwicklung. Gerne hätte die IGM eine wirtschaftsdemokratische Struktur- und Regionalpolitik gehabt, bei der Konzerne, Gewerkschaft und Staat am runden Tisch die Zukunft planten – doch blockierte nicht nur die Industrie, sondern auch die sozialliberale Koalition diesen Weg.
Unverhoffter Klassenkampf
Als sich die Krise 1980 intensivierte und Sozialpläne gebrochen wurden, kam das Aufbegehren. In Dortmund hatte die IGM beim Hoesch-Konzern dem Abbau von 4.000 Arbeitsplätzen zugestimmt – unter der Bedingung, dass ein neues Oxygen-Stahlwerk gebaut würde. Der Konzern überlegte es sich jedoch anders und löste damit eine Massenbewegung aus. 70.000 Menschen versammelten sich am 28. November 1980 unter der Losung »Stahlwerk jetzt!« auf dem Dortmunder Marktplatz. Die gleichnamige Bürgerinitiative fand breite Beachtung, wenn auch nicht überall Zustimmung: Die 1980 erstmals in den Bundestag eingezogenen Grünen hätten lieber »Alternative Produktion in einer Öko-Region Ruhrgebiet« gehabt. Sie forderten, die beträchtlichen Stahlsubventionen in eine Energiewende zu stecken und die Stahl-Malocher dort zu beschäftigen. Auch die Linke der Bonner Republik zerbrach sich den Kopf über »Stahlwerk jetzt!«, war doch im Spätkapitalismus völlig unverhofft nochmal ein Klassenkampf ausgebrochen. Während die DKP feierte, war die radikale Linke skeptisch: Sollte man einfach mehr Stahlwerke fordern, um auf der Seite der Massen zu sein? Die links-gewerkschaftliche Zeitung Revier aus Duisburg und die Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition der KPD/ML, die bei Hoesch im Betriebsrat vertreten war, forderten als erste eine »Sozialisierung« der Stahlindustrie. Unerwartet skeptisch warnten sie jedoch vor einer »Heilslehre«, wollten ihren Vorschlag als praktisches Mittel verstanden wissen, um das Ruhrgebiet vor dem Kollaps zu bewahren. Beigestanden wurde ihnen von Rainer Trampert im Z-Extra sowie dem Arbeiterkampf, Organ des Kommunistischen Bundes KB (und heute analyse & kritik) – auch in Hamburg fand man es gut, wenn im Ruhrgebiet sozialisiert würde (AK 191 sowie AK 193).
Massentauglich wurde Vergesellschaftung allerdings erst, als zum 1. Mai 1981 eine andere Publikation sie aufgriff – das Memorandum 81 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Die zwischen Keynes und Marx oszillierende Gruppe von Wirtschaftswissenschaftler*innen hatte sich seit 1975 am Monetarismus abgearbeitet, ohne ihn aufhalten zu können. Sie lieferte nun auf über 100 Seiten ein »Stahlmemorandum«, das zwei Möglichkeiten zur Vergesellschaftung der Stahlindustrie benannte: eine gewerkschaftlich mitbestimmte Holding im Besitz von Bund und Ländern oder ein öffentlicher Fonds mit demokratischer Struktur. Beides berief sich auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der damals wie heute die Vergesellschaftung von »Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln« erlaubt.
IGM und die Vergesellschaftung
In der IGM war dies eigentlich Konsens. Die Satzung forderte seit 1949 in Paragraph 2 eine Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeingut. Allerdings wusste die IGM mit diesem Paragraphen ebenso wenig anzufangen wie die BRD mit ihrem Artikel 15. Das änderte sich im Dezember 1982, als zunächst die Vertrauensleute bei Hoesch und dann die Verwaltungsstelle Dortmund der IGM eine Vergesellschaftung der Stahlindustrie forderten. Das »Dortmunder Papier« verbreitete sich wie ein Lauffeuer; es wurde Anfang 1983 auch von Versammlungen unter anderem bei Krupp in Duisburg, bei Klöckner in Bremen und bei Thyssen in Hamborn angenommen. Dem Vorstand der IGM kam das ungelegen, die Mitgliederzeitschrift Metall hatte schon 1981 vor einer »Sozialisierung der Verluste« gewarnt. Zitiert wurde das Beispiel der Ruhrkohle AG, ein Staatsbetrieb, der den Kohlekonzernen alle Ewigkeitskosten des Bergbaus abgenommen hatte – genau wie unsere treue Bundesrepublik es 2022 bei der Atomenergie und 2038 bei der Braunkohle tun wird. Allerdings hatte das Memorandum 81 aufgezeigt, dass eine Sozialisierung auch die profitablen Teile der Stahlkonzerne – vom Edelstahl bis zur Aufzugsproduktion – umfassen könnte. In Form verzinster Schuldverschreibungen könnten dann Entschädigung und Sanierung der Stahlindustrie aus dem Gewinn der vergesellschafteten Konzerne finanziert werden.
Doch wehrte der IGM-Vorstand auf einer Stahlkonferenz im Februar 1983 Vergesellschaftung als nicht durchsetzbar ab. Ähnlich skeptisch sahen es die Betriebsräte der Stahlkonzerne, die Vergesellschaftung allenfalls als letztes Mittel sehen wollten. Dies übernahm IGM-Vorsitzender Eugen Loderer – er drohte Helmut Kohl 14. März 1983 in einem Brief: »Wenn insbesondere in der Mitbestimmungsfrage nichts Entscheidendes geschieht, dann wird der Unmut in den Stahlrevieren sich selbst politische Bahn brechen«. Mit Sozialisierung drohen, um Mitbestimmung zu erhalten, das war der Kurs. Doch Kohl ging nicht darauf ein, und der Unmut richtete sich gegen Loderer. Gegen den Willen des Vorstandes stimmten im Oktober 1983 die Delegierten des 14. Gewerkschaftstages der IGM fast einstimmig für eine Vergesellschaftung der Stahlkonzerne.
Gegen den Willen des Vorstandes stimmten die Delegierten der IG Metall 1983 fast einstimmig für die Vergesellschaftung der Stahlkonzerne.
Diese Haltung musste der IGM-Vorstand nun vertreten, ließ sich jedoch mit konkreten Umsetzungskonzepten Zeit. Während die Grünen im Bundestag trotz Industrieskepsis Vertrauensleute zu einer Konferenz einluden und eine Broschüre über Vergesellschaftung herausgaben, gründete die IGM erstmal einen Arbeitskreis. Erst im April 1985 verabschiedete der IGM-Vorstand ein stahlpolitisches Programm. Es übernahm mit der Vergesellschaftung, der Weiterverarbeitung und der Entschädigung in Schuldtiteln wesentliche Punkte des Memorandum 81. Bei seinem Konzept einer »nationalen Stahl-Holding« legte der IGM-Vorstand besonderen Wert auf den buchstabengetreuen Erhalt bisheriger Mitbestimmungsgremien, obgleich der ihnen zugrunde liegende Gegensatz Kapital vs. Arbeit bei Gemeinwirtschaft in den ganz anderen Gegensatz Allgemeinheit vs. Beschäftigte verwandelt würde. Es dominierte die Befürchtung, die IGM würde als Mit-Eigentümerin sozialisierter Stahlwerke unter Druck des globalen Wettbewerbs ihre eigenen Mitglieder entlassen müssen. Es gab daher zum Stahlkonzept von 1985 keine Durchsetzungsstrategie. Schon im Jahr zuvor war stattdessen alle Energie in ein anderes Projekt geflossen: Streik für die Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche.
Zwar kochte der Protest 1987 noch einmal hoch: Stahl-Aktionstage, an denen sich Zehntausende beteiligten, eine Massenpetition an den Deutschen Bundestag im Oktober 1987 mit 180.000 Unterschriften für Vergesellschaftung und wilde Streiks im Konflikt um die Stilllegung des Stahlwerks Duisburg-Rheinhausen prägten das Jahr. Es war die letzte und heftigste Phase des Stahlprotestes, der mit einem Kompromiss endete. Die IGM bekam ihren runden Tisch, die »Frankfurter Vereinbarung« von Staat, Unternehmen und IGM garantierte die Schrumpfung der Industrie ohne Massenentlassungen. Finanziert wurde dies durch Subventionen von Bund, Ländern und Europäischer Gemeinschaft – ohne dass diese dadurch Beteiligungen erwarben. Sozialisierung war vom Tisch, die Stahlarbeiter hatten sich teuer verkauft und gingen ohne Lohnabschlag in Frührente. Bei der Abwicklung der ostdeutschen Stahlindustrie nach 1989 waren die Kampfpositionen deutlich schlechter.
Heutige Vorteile
Blickt man auf heutige Kämpfe um Vergesellschaftung oder Re-Kommunalisierung, so ergibt sich ein struktureller Vorteil: Bereiche wie Wohnen, Pflege oder Gesundheit können nicht wegglobalisiert werden. Es geht nicht um ein Gut, das wir auch anderswo einkaufen können, sondern um die Produktion des Lebens selbst. Und die findet lokal statt – zu Hause, in der Kita, im Krankenhaus. All diese Bereiche stecken in einer Dauerkrise, die Corona grell beleuchtet, aber nicht hervorgebracht hat. Im Gesundheitswesen planen Krankenhauskonzerne mit staatlich verordneten Fallpauschalen jeden Handgriff durch – menschenwürdige Pflege für die Patient*innen fiel ebenso durch den Rost wie die gesellschaftliche Vorsorge gegen Pandemien. Betriebswirtschaft kann eines gut: aus Geld mehr Geld machen. Anderes kann sie nicht: gesellschaftlich vorsorgen. Es drängt sich geradezu auf, Gemeingüter wie Gesundheit der Marktlogik zu entwinden.
Doch Niederlagen wie jene der Stahlbeschäftigten, aber auch das Kaputt-Sparen aller öffentlichen Dienste nach 1989, haben die Vorstellungskraft beschädigt. War 1983 Vergesellschaftung als Alternative für die Stahlkocher noch abrufbar, so erscheint Gemeinwirtschaft ohne Profit heute vielen als unbekannte Größe, die eher mit der DDR in eins gesetzt wird als mit einem funktionierenden öffentlichen Dienst. Den haben die nach 1980 geborenen Generationen zuletzt im Kindergarten erlebt, wenn überhaupt. Dabei wäre Gemeinwirtschaft einfach zu haben. Pflege und Gesundheit sind steuer- und beitragsfinanziert – warum verteilt der Staat das Geld der Bürger*innen entlang fiktiver Marktmechanismen, die das Personal massenhaft zur Kündigung bringen? Ähnliches gilt für die Universitäten oder den Trägerdschungel der Sozialarbeit. Eine Ent-Marktwirtschaftlichung dieser Bereiche wäre längst geboten. Auch die Forderung nach einer Sozialisierung von hochprofitablen Immobilienkonzernen braucht keine zusätzlichen Staatsgelder, wie sie einst die Stahlmalocher in ihrer Not forderten. Eigentumsverhältnisse, bei denen die Miete nicht an die Börse geht, sondern im regionalen Wirtschaftskreislauf landet, bringt Geld in die Kassen der klammen Kommunen und Stadtbezirke – Geld, das für kommunale Krankenhäuser und Kitas dringend benötigt wird. Vergesellschaftung wäre ein positives, selbstverstärkendes System. Ihm entgegen steht nur die allgemeine Ermüdung, in die uns der Teufelskreis aus Arbeitsintensivierung, Steuersenkungen und Abbau öffentlicher Daseinsfürsorge hineinrationalisiert hat.