Widerständige Psyche
Die Corona-Maßnahmen treffen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich - die öffentliche Debatte entpolitisiert die Gründe dafür
Von Bilke Schnibbe
Im Mauerpark in Berlin trifft sich im Mai wöchentlich ein Konglomerat aus Impfgegner*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, religiösen Fundamentalist*innen und sonstigen Pandemiemaßnahmenkritiker*innen. Im Publikum sitzt ein Mann mit Schwedenfahne, auf der Bühne wird die Demokratie gelebt: Alle, die wollen, dürfen mal ans Mikro und ihre Meinung sagen. »Auch die Antifas da hinten!«, betont eine der Veranstalter*innen und deutet auf die Gegendemonstrant*innen, die aus der Ferne mit Sprechchören zu stören versuchen. Das Publikum drum herum lauscht einer mehr oder weniger vehementen Tirade gegen Gates, die Pharma, die da oben.
An einem dieser Samstage klettert eine Psychotherapeutin das Steintreppchen zur Bühne hoch und beginnt zu berichten: Sie sehe jeden Tag, wie das schreckliche Ausmaß des Lockdowns bei ihren Patient*innen Symptome verschlimmere. Besonders Angst- und Zwangserkrankte seien betroffen, und sie habe noch nicht erlebt, wie die Verletzlichsten in dieser Gesellschaft so im Stich gelassen würden. Sie kommt zu dem Schluss, dass der Lockdown als willkürliche Spielerei die psychische Gesundheit von Menschen gefährde, ihre Situation unerträglich mache. Eine differenziertere Analyse war in diesem Umfeld sicher nicht zu erwarten. Die Frage, wie dieser Tage mit den psychosozialen Konsequenzen der Pandemie und des Lockdowns umgegangen wird und wer eigentlich wie viel aushalten kann und muss, bleibt allerdings bestehen.
Wen es wie hart trifft, ist kein Zufall
Die Pandemie und insbesondere die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus haben in der gesamten Bevölkerung negative, psychische Auswirkungen. Die Pandemie und die Gegenmaßnahmen treffen auf Leute, die bisher kaum mit Einschnitten im Leben zu kämpfen hatten, und andere, die schon vorher von Diskriminierung und Marginalisierung betroffen waren. In diesem Kontext tauchen seit neuestem immer wieder die Begriffe »Vulnerabilität«, also Verletzlichkeit, und »Resilienz«, (psychische) Widerstandsfähigkeit, auf. Wer mit der Krise besser umgehen kann, ist resilienter, wer schwerer betroffen ist, war möglicherweise verletzlicher als andere.
Studien zeigen, dass Personen in Zeiten von Corona auf Quarantäne und Lockdown mit Stressreaktionen reagieren. Sie werden dünnhäutiger, reizbarer, schlafen schlechter, entwickeln Ängste und verlieren Antrieb. Es erscheint sinnvoll, dass die Schwere dieser Konsequenzen je nach Lebenssituation variiert: Je mehr Platz, je mehr Geld, je sicherer der Aufenthalt, je geringer die Belastung durch Vorerkrankungen, je unabhängiger von der Unterstützung anderer, desto weniger gravierend sind psychische Belastungen durch Lockdown und Pandemie. Auch die Verteilung psychischer Probleme orientiert sich an gesellschaftlichen Ungleichheitsmustern. In den Medien findet jedoch wenig Beachtung, dass es eigentlich maßgeblich diese Faktoren sind, die schon immer und gerade jetzt besonders bestimmen, wer in unserer Gesellschaft in welchem Ausmaß psychische Symptome entwickelt.
Resilienz und Vulnerabilität sind psychologische Konzepte, mit denen der Unterschied zwischen Menschen, die Belastung besser wegstecken, und solchen, die damit mehr Schwierigkeiten haben, erklärt wird. Naja, einige Leute sind halt aufgrund ihrer Geschichte, ihres Hintergrunds, ihrer biologischen Konstitution widerstandsfähiger als andere. Wie bei allen Dingen, die uns ungleiche Bedingungen und Entwicklungen mit individuellen Unterschieden erklären wollen, ist auch hier Vorsicht geboten.
Ähnlich wie der Begriff der Selbstfürsorge, welcher gerade prominent durch die Medien geistert, legt der Begriff der Resilienz nahe, dass unsere Fähigkeit, mit Krisen umzugehen, vom Himmel fällt, gesellschaftliche Ungleichheiten und Gewaltverhältnisse werden ausgeblendet. So wird in der Resilienzforschung, methodisch völlig korrekt, mit statistischen Methoden »ausgeglichen«, dass eine Person aus der Mittelschicht im Einfamilienhaus mit Garten gerade tatsächlich weniger Grund zur Sorge hat als eine alleinerziehende Arbeiterin in einer zu kleinen Stadtwohnung. Resilienz-Forscher*innen betrachten lediglich den Bewertungsstil dieser Personen: Denkt die Arbeiterin ungeachtet ihrer tatsächlichen Situation systematisch negativer als die Person aus dem Mittelstand?
Naja, die Alten und Kranken. Verschleiß ist immer.
In Bezug auf die Behandlung psychischer Erkrankungen ist dies sicherlich ein wichtiger Punkt. Menschen, die systematisch negativer denken, haben es beispielsweise schwerer, eine Depression zu überwinden. Die Pandemie samt konkreter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Konsequenzen ist allerdings nicht durch positives Denken zu verändern: Wir können in der Realität nicht so tun, als wäre Resilienz die Lösung für ein Problem, das massiv auf materiellen Ungleichheitsverhältnissen und einem sexistischen, rassistischen und ableistischen System beruht.
Studien zur Frage, welche Faktoren die Konsequenzen von Quarantäne beeinflussen, zeigten beispielsweise, dass eine Verschlechterung der Einkommenssituation, Unterversorgung mit Lebensmitteln und Haushaltswaren und psychische Vorerkrankungen mit einer stärkeren Verschlechterung der psychosozialen Situation zusammenhängen. Es ist davon auszugehen, dass diese Faktoren sehr viel gewichtiger sind als die psychische Resilienz der Betroffenen. Die Frage, was das Geheimnis der Menschen ist, die trotz widriger Bedingungen nicht komplett abklappen, ist in diesem Zusammenhang schon fast zynisch.
Resilienz muss man sich leisten können
Das zeigt sich besonders deutlich am Beispiel sexuelle und häusliche Gewalt. Aktuelle Zahlen der Forscherinnen Prof. Janina Steinert und Dr. Cara Ebert vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zeigen, dass 3,6 Prozent der Frauen in Deutschland in Zeiten der strengen Kontaktbeschränkungen von ihrem Partner vergewaltigt wurden. In 6,5 Prozent der Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft. In 4,6 Prozent der Fälle schränkten Partner den (digitalen und nicht-digitalen) Kontakt der Frauen mit anderen ein. Eine Verschlechterung der sozialen Situation aufgrund der Pandemie (z.B. durch Arbeitsplatzverlust) ging mit einer deutlich höheren Zahl an Gewalttaten einher.
In der therapeutischen Begleitung der Betroffenen ist es fachlich absolut richtig zu schauen, wie diese aus ihren Widerfahrnissen eine Erfahrung machen können, an der sie wachsen. Darüber zu fachsimpeln, warum einige Frauen sehr viel weniger Probleme damit haben, mit dem Erlebten klarzukommen, als andere und letztere gewissermaßen defizitär als nicht-resilient zu bezeichnen, ist menschenfeindlich. Aber genau das steckt dahinter, wenn in Medien die Frage aufgeworfen wird, wieso »komischerweise« einige Menschen besser mit dem Lockdown klarkommen als andere. Weil sie nicht auf engstem Raum mit Gewalttätern leben müssen zum Beispiel. Es verwundert nicht, dass die Debatte nun auch darum kreist, was konkret jetzt getan werden kann, damit Frauen und Kindern Hilfe zu Teil wird. Und das ist einerseits wichtig und richtig. Aber häusliche und sexuelle Gewalt ist nicht erst seit dem Lockdown ein Problem. Die Unterfinanzierung und schlechte Ausstattung von Hilfeeinrichtungen sind ebenfalls nicht neu. (ak 659) Schlussendlich, und dieser Punkt geht in der Debatte um Vulnerabilität und Resilienz völlig unter, ist die zentrale Frage, wie das angegangen werden kann, was der psychosozialen Belastung zugrunde liegt. Im Falle von geschlechtsspezifischer Gewalt ist das: Wie verhindern wir Taten. Und eben nicht: wie werden Betroffene weniger betroffen.
Der Begriff der Vulnerabilität, also die Frage danach, wer wie stark verwundbar ist, ist darüber hinaus ein gutes Instrument, Kontrolle über einzelne Bevölkerungsgruppen auszuüben. Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben, dürfen beispielsweise (je nach Region in unterschiedlichem Ausmaß) nicht mehr besucht werden und die Einrichtungen nicht mehr verlassen. Natürlich ist es sinnvoll, dass Menschen, die bei Ansteckung besonders gefährdet sind, möglichst wenig Kontakt zu anderen haben. Aber was sagt es uns über die Organisation unserer Hilfesysteme und über Ableismus in dieser Gesellschaft, wenn Menschen über Wochen in Heimen zwangsisoliert werden?
Das System ist menschenfeindlich
Die Schlussfolgerung darf nicht sein, dass die Maßnahmen überzogen sind, weil die Pandemie »eigentlich« gar nicht so schlimm sei. Der Schluss muss sein, dass das System schon vorher menschenfeindlich war und wir das gerade noch einmal ganz deutlich aufs Brot geschmiert bekommen. Die Lösung ist nicht, Heime sofort wieder für Besucher*innen zugänglich zu machen. Die Pandemie ist schließlich eine reale Bedrohung. Die Lösung ist, Heime abzuschaffen und Betreuung und Pflege neu zu organisieren. Verletzlichkeit und Resilienz entstehen vor allem durch gesellschaftliche Umstände.
Es ist bemerkenswert, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen, wie die Psychotherapeutin im Mauerpark, eher zu dem Schluss kommen, dass irgendwer sich das Virus ausgedacht haben muss, als daran zu rütteln, dass das System einer menschenfeindlichen Logik folgt und folgen muss. Die Rede von Vulnerabilität und Resilienz, von der armen Risikogruppe, ermöglicht es der Mehrheit der Menschen, sich als nicht oder wenig von der Pandemie bedroht zu fühlen. Gleichzeitig verleiten die Debatten dazu, mit einem Schulterzucken zu sagen: »Naja, die Alten und Kranken. Verschleiß ist immer.« Systematische Faktoren werden außer Acht gelassen, und die Verantwortung wird auf irgendein scheinbar unantastbares »Naturgesetz« abgewälzt. Wer besonders »schützenswert« ist, folgt rassistischen, sexistischen und ableistischen Logiken: Warum trifft das auf Menschen in Pflegeheimen zu, aber nicht auf Geflüchtete in griechischen Lagern? Warum trifft das nicht auf Menschen zu, die mit wenig finanziellen Möglichkeiten in zu kleinen Wohnungen wohnen? Erzählungen über Resilienz und Vulnerabilität fördern und fordern auf diese Weise Entsolidarisierung, während sie zunächst menschenfreundlich erscheinen mögen.