Die Verniedlichung der Flucht
Das Wanderpuppenspiel »The Walk« legt die Widersprüche eines liberalen Aktivismus offen
Von Ido Nahari und Caterina Selva
Nur wenige von uns haben in so kurzer Zeit so viel erlebt wie die zehnjährige Amal in gerade einmal fünf Monaten. Auf ihrer über achttausend Kilometer langen Reise von der türkisch-syrischen Grenze bis nach Nordengland hatte die junge Geflüchtete eine Vielzahl prägender Begegnungen – solche mit aufdringlichen europäischen Grenzbeamten oder Stacheldrahtzäunen gehörten jedoch nicht dazu. Die Tausenden von Menschen, die Amal auf ihrem Weg begleitet haben, haben sicher auch animierend auf sie eingewirkt. Trotz ihrer prekären sozioökonomischen Lage war es der kleinen Amal aufgrund ihrer Popularität möglich, entlang ihrer Reiseroute zahlreiche Termine in Kulturinstitutionen und anderen öffentlichen Einrichtungen wahrzunehmen. Bei jedem Zwischenstopp wurde Amal von Stadtfesten begrüßt, ihre Besuche bei den Vereinten Nationen oder in lokalen Parlamenten wurden im Fernsehen übertragen, ihr enger Zeitplan sah eine Reihe von Treffen mit prominenten Hollywood-Schauspieler*innen, Parteichefs und sogar Papst Franziskus vor. Was als Flucht begann, endete eher wie eine offizielle Dienstreise.
Nachdem sie schließlich das gelobte Land England erreicht hatte – wohlgemerkt überraschend mühelos, ohne bürokratische Gewalt oder gefährliche Überfahrten –, feierte Amal den schönsten Geburtstag, den sich ein kleines Mädchen wünschen kann, mit einer großen Party im Zentrum Londons. Und obwohl sie als geflüchtetes Kind bei den meisten, die sie traf, eine starke humanitäre Botschaft evozierte, hatte Amal selbst der Sache nichts hinzuzufügen und sagte nichts. Während Kritiker*innen von Amal zu Recht anmerkten, dass sie über kein Rückgrat verfügt, versicherten ihre Schöpfer*innen der breiten Öffentlichkeit, dass die kleine Amal, eine 3,5 Meter große Puppe ein großes Herz und einen guten Kopf auf ihren hölzernen Schultern hätte.
Die kleine Amal, die von dem preisgekrönten Theaterregisseur Amir Nizar Zuabi und der britischen Wohltätigkeitsorganisation Good Chance als Protagonistin eines festlichen Wanderpuppenspiels durch Europa inszeniert wurde, sollte auf die Lage von geflüchteten Kindern in aller Welt aufmerksam machen. Doch Amals hoffnungsvolles Debüt spiegelt auch den problematischen Geist des liberalen Aktivismus wider, der auf dem gesamten Kontinent vorherrscht und in dem Bewusstseinsbildung, Kommunikation und moralischer Zuspruch aktiven politischen Widerstand zu ersetzen scheinen.
Überlebensgroße Projektion
Das ehrgeizige internationale Kunstprojekt mit dem Namen »The Walk« wurde von einem internationalen Team zusammengestellt, dem Dutzende von Crewmitgliedern angehören, darunter auch Geflüchtete und Migrant*innen. Das Projekt umfasst auch Hunderte institutioneller Förderer wie zum Beispiel Amnesty International und das Goethe-Institut. Seltsamerweise fand das Projekt in Kontinentaleuropa trotz alledem nur wenig Anklang.
Die fiktive Figur der Amal tauchte erstmals vor sechs Jahren im preisgekrönten Theaterstück »The Jungle« auf, wo sie von einem echten Kind gespielt wurde. Das Stück spielt im Geflüchtetenlager von Calais, nach dem es benannt ist, und basiert auf den Geschichten, die die beiden britischen Dramatiker Joe Murphy und Joe Robertson bei ihrem ersten Besuch im Lager erlebten. Ihnen zufolge fanden alle im Lager »einen Weg, selbst in dieser verzweifelten Situation zurechtzukommen. Und das, so glaubten sie, »ist eine großartige Geschichte«.
Trotz Kritik daran, wie sich hier wohlhabende, an Eliteeinrichtungen geschulte Westler anmaßten, im Namen der Subalternen zu sprechen, war das Stück im Globalen Norden ein großer Erfolg. Nachdem es zunächst kostenlos im Camp aufgeführt wurde, lief The Jungle anschließend in Theatern im Vereinigten Königreich und in den USA, bei Eintrittspreisen von bis zu 95 Euro pro Karte. Die Inszenierung des Leidens und die Kapitalisierung der Prekarität bleiben jedoch unbezahlbar. Beide Dramatiker geben an, das Projekt hätte zu einem globalen Gespräch über Flüchtlinge und gemeinsame Menschlichkeit beigetragen, was erklären könnte, warum die Figur der kleinen Amal im wahrsten Sinne des Wortes überlebensgroß geworden ist.
Die emotionale Resonanz, die Geflüchteten und Vertriebenen zuteil wird, hat eine systemische und utilitaristische Verschiebung durchlaufen. Es besteht indes kein Zweifel daran, dass die Amal von weiten Teilen der lokalen Bevölkerung und der Medien entgegengebrachte Anerkennung durch ihre Erscheinung sicherlich noch verstärkt wird. Als kleines Mädchen, naiv und verletzlich, entspricht Amal leider der buchstäblich infantilisierenden liberalen Wahrnehmung von Geflüchteten, die auch heute noch vorherrscht. Um es ganz offen zu sagen: Es gibt einen Grund, warum sich das Projekt um ein unschuldiges Kind dreht und nicht um eine fiktive erwachsene Figur namens Ahmed oder Abdul.
Tragödie, jetzt im App Store verfügbar
In Amals Reise offenbart sich eine rätselhafte soziopolitische Entwicklung der jüngeren Geschichte. Ähnlich dem aktuellen Trend des Instagram-Slacktivismus herrscht auch hier eine Erzählung vor, bei der die beschwichtigende Botschaft der Bewusstseinsbildung nicht mehr Ausgangs- sondern Kulminationspunkt politischen Handelns ist. Angesichts der wachsenden Entrüstung der vornehmen Gesellschaft über die eigene Unfähigkeit, etwas an dieser ungerechten Wirklichkeit zu ändern, wird ein versöhnliches Märchen von Toleranz und Akzeptanz eines Anderen fabriziert, der seiner Andersartigkeit beraubt ist.
Der Unfähigkeit, die Geschichte zu ändern, wird mit dem Angebot begegnet, sie zu schaffen. Dies gilt insbesondere für England, dem Ziel von Amals Reise – und zufälligerweise auch der Ort, an dem das Projekt entwickelt wurde. Dort werden beengte Geflüchtetenlager wie die berüchtigten Napier Barracks und das Penally Camp von Menschenrechtsgruppen als unhygienisch und unbewohnbar eingestuft, während Innenministerin Priti Patel im Rahmen eines geplanten Gesetzes (Nationality and Borders Bill) Menschen in gefängnisähnliche Einrichtungen im Ausland abschieben will. So gesehen fiktionalisiert das Projekt sowohl Orte als auch Menschen, da England von seinen Künstler*innen und Aktivist*innen als tolerantes und fortschrittliches Land dargestellt wird: ein selbstbeweihräuchernder Höhepunkt des westlichen Liberalismus, der mit seiner Geschichte und der aktuellen Gesetzgebung wenig gemein hat.
Persönliche, moralisierende Erwartungen ersetzen rigorose politische Forderungen.
Die Tatsache, dass privilegierte Menschen die Menschlichkeit der weniger begüterten Anderen nur dann akzeptieren müssen, wenn sie zu Marionetten gemacht werden, ist schon problematisch genug. Aber dass diese optimistische Vision der Zusammengehörigkeit ausgerechnet von einer Reihe von Unternehmen und politischen Institutionen gesponsert wird, die zur Notlage der Geflüchteten beigetragen haben, zeigt, wer der eigentliche Holzkopf in dieser Geschichte ist. In einem perversen Versuch des Refugee-washing werden Täter*innen zu Nutznießer*innen gemacht. Rigorose politische Forderungen nach strukturellen Veränderungen werden durch eine persönliche moralisierende Erwartung ersetzt. Wie immer liegt die Verantwortung bei uns, den einzelnen Konsument*innen: Wir sind aufgefordert, zu spenden und damit dieses edle Vorhaben zu unterstützen.
Das Projekt wurde zum Opfer seines eigenen medialen Triumphs. Mit dem Erfolg des Wanderfestivals hat sich Amals Reise in ein interaktives Bilderbuch verwandelt, das im App Store heruntergeladen werden kann. Es überrascht vielleicht nicht, dass in einer populären Kultur, in der Spiele menschliche Tragödien bewirken, Tragödien als Spiele vermarktet und verbreitet werden. Amals Leidensweg ist buchstäblichen ein Kinderspiel geworden, bei dem die Spieler*innen aufgefordert sind, ihren drohenden Tod zu verhindern, indem sie ihr Boot von den Felsen im Meer weglenken. Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Kommerzialisierung der Figur Amal nicht die Relevanz von gemeinschaftsbasierten Kunstprojekten aufhebt, die von Geflüchteten geleitet werden oder sie einbeziehen und soziale Bewegungen inspirieren oder Hoffnung und Bedeutung stiften. Aber damit es dazu kommt, sollten wir uns Brechts Worte zu Herzen nehmen und Kunst nicht als einen Spiegel betrachten, den man der Realität vorhält, sondern als einen Hammer, mit dem man sie formen kann.
Übersetzung: Philipp Sack