Viele Generationen radikal
Linke Schwarze Bewegungen gibt es in Großbritannien seit den 1960ern, sie sind hierzulande unbekannt
Von Paul Dziedzic und Johannes Tesfai
Bristol war eine Explosion: In Erinnerung bleiben Bilder wütender Demonstrierender und brennender Polizeiautos. In der Stadt ist viel Wut, nicht zuletzt, weil ein neues Gesetz der Polizei bei der Auflösung unliebsamer Demonstrationen freie Hand lässt. Das Gesetz kam kurz nach den Ausschreitungen bei einer Demonstration in London, bei der FLINT-Personen gegen ein Feminizid demonstriert hatten. Letztes Jahr gingen bereits Bilder aus Bristol um die Welt, die den Sturz einer Sklavenhändlerstatue zeigten und als Inbegriff der britischen Black-Lives-Matter-Bewegung gelten. Auch so ein Denkmalsturz soll jetzt gesondert bestraft werden. In der Stadt zeigt sich die ganze Breite einer linken Mobilisierung, die von Feminismus, Antirassismus und antikolonialen Kämpfen beeinflusst ist.
Die englische Wut aus den Schwarzen Communities ist nichts Neues. 2011 kam es fast eine ganze Woche zu Ausschreitungen im gesamten Land, nachdem Mark Duggan von der Polizei erschossen worden war. Der Politikwissenschaftler Moritz Altenried schrieb, dass es in England seit dem Zweiten Weltkrieg bei fast allen militanten Demonstrationen und Ausschreitungen um tödliche Übergriffe durch die Polizei ging. Es scheint so, als ob Schwarzes Leben weniger wert ist und die betroffenen Communities den Preis mit diesen Ausschreitungen in die Höhe treiben.
Die britische Gesellschaft hatte zwar seit der Kolonialzeit eine Schwarze Bevölkerung, eine wirkliche Community erwuchs aber erst aus der sogenannten Windrush-Generation. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg fand unter sozialdemokratischen Vorzeichen statt. Die ökonomische und soziale Infrastruktur des Landes sollte ausgebaut werden. So warb der britische Staat Arbeiter*innen aus den ehemaligen Kolonien an, vor allem aus der Karibik. Auf dem Schiff HMT Empire Windrush erreichten 1948 die ersten Angeworbenen London, um die London Underground, den Nahverkehr der Weltstadt, auszubauen, oder im National Health Service (NHS), dem staatlichen Gesundheitsdienst, zu arbeiten. Großbritannien schuf sich damit selbst eine Schwarze Arbeiterklasse.
Die Viertel zu eigen gemacht
Schon bald nach ihrer Ankunft wehte den Menschen aus der Karibik ein kalter Wind entgegen – nicht nur in den Betrieben, sondern auch auf den Straßen. Die britische Gesellschaft hieß die Migrant*innen nicht willkommen. Das weiße Großbritannien wollte sie nicht in ihrer Nachbarschaft, in ihren Häusern. Sie zogen in die desolaten Viertel, wo sonst niemand wohnen wollte und zahlten überdurchschnittlich viel Miete, meist am Rande der Stadt, nahe U-Bahn-Endstationen. Während die Eltern das Nachkriegs-England aufbauten, erlebten ihre Kinder vor allem eines: Den Zugriff der Polizei auf den Straßen. Racial Profiling und gewalttätige Übergriffe waren an der Tagesordnung.
Während die Eltern das Nachkriegs-England aufbauten, erlebten ihre Kinder den Zugriff der Polizei auf den Straßen.
Die Selbstorganisierung nahm nach einem Vorfall in Notting Hill 1958 Fahrt auf. Nachdem im karibisch geprägten Stadtteil ein weißer Mob Angriffe auf Wohnungen von Schwarzen gestartet hatte, initiierte die Schwarze Kommunistin Claudia Jones den Notting Hill Carnival. Die afrokaribische Veranstaltung ging später als bunter Fleck in das Londoner Stadtmarketing ein. Die Idee der Organisator*innen war jedoch eine Mischung aus Politik und Kultur. Letztere war geprägt von der geschichtlichen, sprachlichen und somit kulturellen Heterogenität der Karibik, die gleichzeitig von der gemeinsamen Erfahrung im britischen Empire geprägt war. Unter anderem deshalb war der Begriff »politisches Schwarzsein« so weit gefasst, da er sich aus einer kreolisierten Kultur nährte. Der Atlantik ist in dieser Vorstellung ein gemeinsamer politischer Raum, der sich stark an antikolonialen und linken Ideen orientierte. Die karibische Fusionkultur finden wir auch in den Analysen von C.L.R. James oder Frantz Fanon.
Typisch für diese Mischung von Kultur und Politik war das 1968 eröffnete Restaurant Mangrove in Notting Hill. Dort trafen sich viele radikale Autor*innen, Künstler*innen und Musiker*innen. Ab 1970 überzogen die Behörden das Mangrove mit Razzien wegen angeblicher Drogen, die nie gefunden wurden, oder das Gesundheitsamt kam. Das gipfelte in einen Protest, bei dem rund 150 Menschen vor der örtlichen Polizeiwache demonstrierten. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen neun der Verhafteten wegen Anstiftung zu Gewalt angeklagt wurden. Rund um den Protest entstand eine Mobilisierung gegen die rassistische Praxis der Polizei, woraufhin die Angeklagten freigesprochen wurden. Die Auseinandersetzungen in Notting Hill radikalisierten die Schwarze Bewegung in London. Der Leitspruch ihrer Aktionen war: »Wir haben uns bei der Polizei über die Polizei beschwert, und nichts passierte. Wir haben uns bei Richtern über Richter beschwert, und nichts passierte. Jetzt ist es an der Zeit, selbst etwas zu tun«. Es machte sich immer mehr der Eindruck breit, dass Lösungen außerhalb der von staatlichen Institutionen angebotenen Kompromisse zu finden sind.
Aus diesem Impuls erwuchsen immer mehr radikale Projekte. In London gründete sich eine Black-Panther-Gruppe und in der Zeitschrift Race Today sammelten sich Menschen, die Klassenkampf und Antirassismus miteinander verbinden wollten. Die Polizeikontrollen in den Schwarzen Vierteln gingen jedoch weiter, der britische Staat überzog die linken Schwarzen Aktivist*innen mit Repression. Das ist der Grund für die militante Explosion in den afrokaribischen Vierteln in den 1980er Jahren. Synonym für Riots sind deshalb die Viertel dieses Teils der Arbeiterklasse geworden: Brixton, Tottenham oder Croydon.