Vom Denken der Nazis noch nicht ganz befreit
Anne Allex fordert gedenkpolitische Standards für bewusst verschwiegene NS-Verfolgte
Diejenigen, die in der Zeit des deutschen Faschismus als »Asoziale« und »Kriminelle« verfolgt wurden, sind weitgehend vergessene Opfer der Nazis. (ak 610) Bis heute ist nicht annähernd geklärt, wie viele von ihnen im Nationalsozialismus ermordet wurden. Zudem wartet noch immer ein Großteil der Überlebenden auf Entschädigung. Auch im öffentlichen Gedenken spielen sie kaum eine Rolle. Wenn Gedenkstätten an entsprechende Opfergruppen erinnern, übernehmen sie zudem häufig die Kategorien der Nazis. Darüber sprachen wir mit Anne Allex vom »Berliner Arbeitskreis Marginalisierte – gestern und heute«.
Der »Arbeitskreis Marginalisierte – gestern und heute« kritisiert die Art und Weise, wie die Verfolgung »Asozialer« und »Krimineller« aufgearbeitet wird. Was ist eure Kritik?
Anne Allex: Nehmen wir das Beispiel des Gedenkortes in den ehemaligen Rummelsburger Arbeitshäusern in Berlin. An einer Litfaßsäule wird der Jüdin Auguste L. gedacht. Es ist zu lesen, sie habe gegenüber den Beamten versucht, »sich mit einer eher bürgerlichen Existenz als Frau mit zwei regelmäßigen Arbeitsstellen als Haushaltshilfe zu präsentieren. Doch einer genaueren Prüfung hielten ihre Angaben nicht stand. Und im weiteren Verlauf der Untersuchung wurde deutlich, dass sie seit über 30 Jahren als Prostituierte arbeitete«. Die Wiedergabe des Gedankengangs der Akte verfestigt posthum die geschlechtsspezifische Stigmatisierung. Ein anderes Beispiel: In der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen wird eines 68-jährigen, jahrelang erwerbslosen Ofensetzers gedacht, der, wie es in der Gedenkstätte heißt, »ein Asozialer war« und infolge von Hunger, Schwerstarbeit und Zwangssterilisierung im KZ starb. Hier wird unwidersprochen die Schuldzuschreibung wegen angeblich internalisierter Veranlagung wiederholt. Oder in Hamburg diskreditieren Stolpersteine Tote mit Aufschriften wie »Rassenschande«, »Berufs-« und »Gewohnheitsverbrecherin«. Auch hier werden Opfer der Nazis mit deren Begriffen nachträglich stigmatisiert.
Wie könnte das verhindert werden?
Zur Aufarbeitung des Lebens der Ermordeten müssen die Angehörigen einbezogen werden. Das ist bisher nur sehr selten der Fall. Die präzise Betrachtung der Taten der Toten wirft doch Fragen zur persönlichen sozialen Lage und zum Strafrecht auf. Es hilft ein Blick nach Argentinien, Mexiko und Kolumbien, wo Wege des Umgangs mit Ermordeten gesucht werden. So ist das Wichtigste für kritische argentinische Forensikerinnen und Forensiker die Kommunikation mit den Angehörigen. Diese seien nicht nur eine wichtige Informationsquelle, sondern werden über jeden Schritt informiert. Was fehlender Angehörigenkontakt anrichtet, zeigt das Entsetzen der Familie Lieske über einen Stolperstein, der eine Großmutter als sogenannte Gewohnheitsverbrecherin abbildet. Die Lebensrekonstruktion der Oma durch die Enkelin gegenüber der Biografie durch eine fremde Person sah auch völlig anders aus.
Anne Allex
ist Sozialpolitische Wegeweiserin in Berlin. Sie schult und qualifiziert zum Sozialgesetzbuch II in Verbindung mit anderen Sozialgesetzen. Sie forscht zu den sogenannten Asozialen im deutschen Faschismus. Gemeinsam mit Künstler_innen organisiert sie musikalisch-literarische Berliner Salonkunst.
Vor zwei Jahren hast du in Dachau auf einer Tagung zu marginalisierten Häftlingsgruppen Forderungen zum Umgang mit Nazi-Akten aufgestellt. Welche waren das?
Zunächst einmal müssen die Biographien der Menschen rekonstruiert werden. Das sollte im Kontrast zur NS-Akte geschehen und nicht in Übereinstimmung, wie es leider häufig der Fall ist. Das heißt auch, dass die sozialen Lebensumstände konkret ermittelt und die Verbrechen strikt vor dem Hintergrund der historischen juristischen Umstände betrachtet werden müssen. Die spezifischen Stigmatisierungsgründe sind in Kenntnis um die NS-Sozialpolitik und der NS-Täterdarstellung zu betrachten. Bewertungen von Personen und Vorurteile wegen sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Krankheit, Behinderung, Armut, Charakter oder Verhalten sind dabei zu unterlassen. Ein Prinzip der genannten Forensiker in Argentinien lautet, niemals zu urteilen, weder politisch noch moralisch, über das, was die Verschwundenen zu Lebzeiten getan haben mögen. Denn es geht ja gerade nicht um Schuld oder Unschuld, nicht darum, der Kriminalisierung oder Stigmatisierung von Opfern deren »Unschuld« oder gar Heroismus entgegenzusetzen. Im Zentrum muss die Würde der Toten und das Ziel stehen, sie in die soziale Welt zurückzuholen. Die Lebenden haben ein Recht auf Trauer und auf die Bestrafung der Täter. Die Toten müssen wir uns als ein Rechtssubjekt vorgestellen. Auch posthum müssen die Rechte auf Identität, auf Vollständigkeit und die Wahrung der Interessen geltend gemacht werden.
Die Erinnerung an die Opfer des Naziregimes wird zumeist von Organisationen und Initiativen vorangetrieben, die eine bestimmte Opfergruppe fokussieren. Sollte grundsätzlich darauf verzichtet werden, die von den Nazis Verfolgten in Gruppen einzuteilen?
Die Diskurse um Verfolgtengruppen lehne ich ab, weil die Gruppeneinteilung von den Nazis geprägt ist. Segmentiertes Gedenken und stigmatisierende Aufschriften fördern die Teilung in »werte« und »unwerte« Tote. Eine Typenbildung sogenannter Asozialer ist indiskutabel, da die Typologisierung auf »Rassemerkmalen« basiert. Damit bleibt man noch in der Erinnerung im Denken der Nazis verhaftet.
Der Sozialrassismus der Nazis
Mit der »Rassenhygiene« definierten die Nazis »minderwertige« und »höherwertige« »Rassen«, die Angehörige »anderer« Herkunft, Hautfarbe, Religion sowie »minderwertige Arier« umfasste. Zu letzterer Gruppe zählten »Menschen mit Behinderungen«, Kranke sowie Gesinnungs- und Verhaltens-»Abweichende«. Die juristische Verfolgung und Ermordung von Personen aus sozialen und gesundheitlichen Gründen setzten die Nazis mittels Blut-, Erbschutz- und Sterilisationsgesetzen durch. Resultate war der Mord an mindestens 380.000 Personen in Todesanstalten und die »Vernichtung durch Arbeit« unzähliger »Schwarz- und Grünwinkler«. Außerdem wurden der Studie »Zwangssterilisation im Nationalsozialismus« von Gisela Bock zufolge 400.000 Personen zwangssterilisiert, für alle (anderen) Frauen galten das Sterilisierungsverbot und Geburtenzwang.
In jüngster Zeit versuchen Initiativen z.B. um den neuen »Zentralrat der Asozialen« vermehrt, sich positiv auf den Begriff »asozial« zu beziehen. Ist das aus deiner Sicht sinnvoll?
Ich halte das für unverantwortlich. Diese Stigmatisierung bedeutet für die Betreffenden einen Ausschluss aus der Gesellschaft. Denn sie wurden als Opfer des Naziregimes nicht anerkannt. Diese Tatsache suggeriert, dass der Umgang der Nazis mit ihnen weniger verurteilenswert ist. Gleichzeitig wurde durch die Nichtanerkennung ihre Rehabilitierung verhindert. Folge war, dass sie nach 1945 geringe Entwicklungschancen hatten. Denn viele von ihnen, gerade Kinder, Jugendliche und junge Leute, waren während der Nazizeit von der Bildung ausgeschlossen. Für die mir bekannten Personen und für diejenigen, über die ich Berichte las, war es daher oftmals unmöglich, Bildung nachzuholen, einen Beruf zu erlernen und darin angemessen für ihren Unterhalt zu sorgen. Dies schlug sich auch auf die Entwicklungsperspektiven ihrer Kinder nieder. Nicht nur deshalb verbietet sich eine positive Selbstaneignung des Begriffes. Denn »asozial« ist eine Diagnose im Abschnitt zu Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im ICD 10, dem Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation. »Asozial« bezeichnet dort eine »erhebliche Diskrepanz« »zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen«. Dieses Verhalten gilt der ICD-10-Diagnose »asozial« zufolge als nicht änderungsfähig. Die Selbstzuschreibung »asozial« birgt daher die Gefahr einer kulturellen Pathologisierung der jeweiligen Person, die sich freilich immer dauerhaft zum Nachteil für sie auswirkt. Verantwortung für die Aufarbeitung der Verbrechen der Nazis an diesen Menschen zu übernehmen, heißt für mich, historische Konstruktionen zu entlarven und ihre Wirkmächtigkeit im heutigen Denken aufzuzeigen. Das lässt sich nicht mit spektakulären Selbstbezichtigungen durch ächtende Begriffe lösen.