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|ak 630 | Geschichte

Volkskampf statt Klassenkampf

Was den nationalen Antisemitismus auszeichnet und warum er immer antikommunistisch ist

Von Klaus Holz

Drei antisemitische Propagandaplakate, eines zeigt einen roten nackten Trotzki an einer Mauer, eines einen jüdischen Kapitaliten der einen hageren Sozialdemokraten an der Hand hält, ein drittes einen jüdischen Kopf,d er über Europa blickt, wo sich ein britischer Kapitalist und ein russischer Bolschewist die Hand reichen.
Juden als »Volksfeinde«, Verführer und antieuropäische Verschwörer. Variationen dieser Figuren sind auch heute in Gebrauch. Von links nach rechts: Plakat der Weißen Armee im russischen Bürgerkrieg, das Trotzki zeigt (1919), Wahlplakat der NSDAP (zur Reichstagswahl im November 1932), Nazi-Propagandaplakat im besetzten Frankreich (ca. 1942).

Der 3. Januar 1878 war eine der Sternstunden der Berliner Sozialdemokratie. Für den Abend war zu einer »Volksversammlung zur Begründung einer christlich-sozialen Arbeiter-Partei« eingeladen worden. Angeblich waren tausend Sozialdemokrat_innen gekommen, die mühelos die christlich-soziale Veranstaltung kaperten. Offensichtlich handelte es sich um demokratische Sozialist_innen, denn sie ließen einen Vertreter der Christlich-Sozialen reden, wenngleich »unter vielfachem Gelächter«, wie der eigentliche Initiator der christlich-sozialen Parteigründung, Adolf Stoecker, im Nachhinein schreibt. (1) Stoecker, evangelischer Theologe, Prediger des Kaisers und preußischer Abgeordneter, und Johann Most, einer der prominentesten Redner der Berliner Sozialdemokratie, lieferten sich daraufhin ein hitziges Wortgefecht, so die Überlieferung. Die Versammlung folgte Most, verabschiedete eine Resolution gegen die Christlich-Sozialen und verkündete, dass die Befreiung der Arbeiter_innen allein von der sozialdemokratischen Partei zu erwarten sei.

Die christlich-soziale Arbeiterpartei wurde einige Wochen später in einer kleinen Versammlung dennoch gegründet. Zwar scheiterte sie kläglich bei den Wahlen und fand nie Rückhalt in der Arbeiterschaft, aber dieser Misserfolg war keineswegs total. Denn was als Partei und als Angriff auf die Sozialdemokratie scheiterte, reüssierte als antisemitische Bewegung.

Die sogenannte Berliner Bewegung schien die diversen Antisemit_innen unter der Führung Stoeckers zu vereinen und sorgte 1879-81 für erheblichen Aufruhr. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Übergriffen auf Jüdinnen und Juden. Diese Entwicklung hatte sich durch das ganze 19. Jahrhundert angebahnt. In seinem Verlauf hatte sich der Antisemitismus mit den unterschiedlichsten politischen Richtungen verbunden, war christlich und antichristlich, konservativ und nationalliberal, religiös und rassistisch – und dabei immer nationalistisch und antikommunistisch. Allein die kleine linksliberale Fortschrittspartei und die Sozialdemokratie hielten sich vom Antisemitismus fern.

Soziale Frage als »Judenfrage«

An Stoecker lässt sich exemplarisch zeigen, wie einfach der antisemitische Antikommunismus im Grunde funktioniert: »Die sociale Frage ist die Judenfrage«, schreibt Stoecker. Und zwar weil, so Stoecker unisono mit allen Antisemit_innen, das »jüdische Großkapital«, der »Wucher« und »jüdische Handel unsere Industrie, unser Handwerksleben in eine wüste, alles Gedeihen vernichtende Konkurrenz getrieben hat«. Das »jüdische Großkapital« richte sich nicht nur gegen die Armen und Arbeiter_innen, sondern gegen die gesamte »deutsche« Wirtschaft. Die Juden verursachten dadurch das »Verderben des deutschen Volkes«.

Es geht in der antisemitischen Antwort auf die soziale Frage also nicht darum, den Unterschied zwischen arm und reich, zwischen Arbeit und Kapital überhaupt zu kritisieren. Vielmehr entsprängen alle negativen Folgen dieses Unterschieds einem anderen Gegensatz: dem zwischen »jüdischem« Banken-, Börsen- und Handels-Kapital und unserer »productiven Arbeit«, zu der auch Industrie und Handwerk gehören. Die antisemitische Beantwortung der sozialen Frage läuft darauf hinaus, das »raffende«, zirkulative Geldkapital gegen die produktive Arbeit inklusive des »schaffenden« Kapitals zu setzen und das Geldkapital in den Jüdinnen und Juden, die produktive Arbeit inklusive des produktiven Kapitals im deutschen Volk zu personifizieren.

Die antisemitische Beantwortung der sozialen Frage setzt das »raffende«, zirkulative Geldkapital gegen die produktive Arbeit inklusive des »schaffenden« Kapitals und personifiziert das Geldkapital in den Jüdinnen und Juden.

Demzufolge müsse es falsch sein, die soziale Frage als Klassenfrage zu stellen. Vielmehr verdecke die Klassenfrage, was eigentlich eine »Judenfrage«, ein Angriff der Juden gegen die Deutschen sei. Die Unterschiede zwischen den Deutschen würden erst durch die Juden zur sozialen Frage, zu Zerrissenheit und Klassenkampf radikalisiert. »Während auf der einen Seite das jüdische Kapital unserem Volke zum Unheil gereicht, sind auf der anderen Seite vom Judentum die Agenten ausgegangen, um unser Volk unzufrieden zu machen. Ich brauche da nur die Namen Marx und Lassalle zu nennen, um Ihnen klar zu machen, dass die Sozialdemokratie ihrem geistigen Ursprung, wie ihrer agitatorischen Kraft nach vom Judentum ausging«, schreibt Stoecker. Die »Juden« stecken hinter Kapitalismus und Kommunismus zugleich. Nichtjüdische Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen sind von den Juden Verführte, die sich am eigenen Volk vergehen, indem sie den Klassenkonflikt schüren und den Kommunismus propagieren. An die Stelle des Klassenkampfs müsse daher der Volkskampf gegen die Juden treten.

Es war kein Zufall, dass der Antisemitismus um 1880 eine Hochzeit hatte. Das Kaiserreich wurde in den 1870er Jahren von innen- und außenpolitischen Krisen und der ersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise erfasst. Zeitgleich pflügte die forcierte Industrialisierung die Sozialstruktur um. Die Folgen der Kapitalisierung der gesamten Ökonomie waren für die Lohnarbeiter_innen sicher am härtesten, betrafen aber die Bevölkerung insgesamt.

Die antisemitische Beantwortung der sozialen Frage zielte daher keineswegs nur auf die Lohnarbeitenden ab. Stoeckers Thematisierung der sozialen Frage und deren antikommunistische Konsequenzen beruhen auf semantischen Grundmustern (2), die jeden modernen Antisemitismus auszeichnen. In ihrem Zentrum steht das Selbstbild einer durch Arbeit und Moral integrierten Volks-Gemeinschaft. (3)

Arbeit und Moral

Es lohnt, sich dieses positive Selbstbild genauer anzusehen. So schreibt der Historiker und Reichtstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke in seinem berüchtigten Aufsatz »Unsere Aussichten« von 1879, das »jüdische« Handels- und Börsenkapital sei »schuld an jenem schnöden Materialismus unserer Tage, der jede Arbeit nur noch als Geschäft betrachtet und die alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes zu ersticken droht«. Treitschke bestimmt wie Stoecker einen »jüdischen« Kapitalismus, indem er zwischen Zirkulation (Geschäft) und Produktion (Arbeit) unterscheidet. Die ganze Klage gilt der Zirkulation, weil diese scheinbar die konkrete Arbeit zu einem bloßen Mittel des Gelderwerbs abstrahiert. Die beiden komplementären Sphären einer kapitalistischen Wirtschaftsweise werden so gegeneinander gesetzt. Statt einer Kapitalismuskritik wird eine Klage gegen die Zirkulation vorgebracht.

Werde alle Arbeit zum Geschäft gemacht, ersticke »die alte gemüthliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes«. Der Angriff der »jüdischen Zirkulation« habe also nicht nur Bereicherung und Ausbeutung zur Folge, er zersetze vielmehr eine dem deutschen Wesen gemäße, selbstgenügsame, freudige und gemeinschaftliche Produktionsweise. Bei Stoecker wie bei Treitschke und praktisch allen anderen Antisemit_innen wird nicht nur das Geld im Juden personifiziert, sondern auch die Arbeit mit einer Personengruppe verschmolzen: unserem Volk. Antisemitismus ist deshalb nicht einfach Judenfeindschaft und Punkt, sondern Konstruktion einer Wir-Gruppe durch die Konstruktion ihres »jüdischen Feindes«. Ökonomische Probleme können demnach nur von Volksfremden verursacht sein, die damit das Wesen des Volkes angreifen.

Schwarzweißaufnahmen zweier Männer. Einer mit Bart sitzend, einer mit Robe stehend.
Heinrich von Treitschke (1834–1896) und Adolf Stoecker (1835–1909), zwei deutsche Antisemiten: einer elitär, einer volkstümlich. Fotos: gemeinfrei

Mit dieser Konstruktion werden vier mögliche Kritiken der kapitalistischen Ökonomie ausgeschlossen: Erstens kann Arbeit nicht mehr als Lohnarbeit kritisiert werden. Denn sie ist nicht in sich als menschliche Tätigkeit entfremdet, sondern wird »von außen« entmündigt. Damit wird im Prinzip auch die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie unmöglich. Zweitens wird ein klassentheoretisches Verständnis ausgeschlossen, weil die grundlegenden Personengruppen als Völker veranschlagt und ihnen Teilaspekte der Ökonomie (Zirkulation und Produktion) zugeordnet werden. Drittens moralisiert dieser Arbeitsbegriff Arbeit als gemeinschaftliche Pflicht und individuelle Freude und widerspricht damit der Realität von Ausbeutung, Entmündigung und Entfremdung. Moral der Arbeit heißt, sie dient nicht (allein) dem individuellen Nutzen, sondern dem Gemeinwohl – und das Gemeinsame ist die Volkszugehörigkeit. Viertens wird der Antisemitismus ontologisch (4) auf eine National-Ökonomie, eine Volks-Wirtschaft, verpflichtet. »Gute« Ökonomie liegt im Wesen des Volkes.

Ein genauerer Blick auf das Selbstbild, das dem Stereotyp vom »jüdischen Geld« entgegengesetzt wird, führt uns über den Bereich der Ökonomie hinaus. Das Selbstbild »produktive Arbeit« kann nur als Zusammenhang von Arbeit, Moral und Volk beschrieben werden; ein umfassendes Sozialmodell, das der Wir-Gruppe, der »Gemeinschaft« – wäre es nicht von »dem Juden« bedroht – ein harmonisches Leben ermöglichen würde. Inbegriffe hierfür sind das heile Dorf, die patriarchale Familie und der ganzheitliche Körper. Eine Gemeinschaft, so die Vorstellung, ist moralisch integriert. Die Individuen werden nicht durch Interessengegensätze vereinzelt, sondern sind »brüderlich« verbunden. Arbeit ist ehrliche, freudige Tätigkeit für die Solidargemeinschaft. Diese moralische Vorstellung wird mit der ethnisch-nationalen Konstruktion verschmolzen, indem die Gemeinschaft als Volk gefasst wird. Das dem modernen Antisemitismus zu Grunde liegende Selbstbild ist das einer Volks-Gemeinschaft, die ethnisch und moralisch, überdies historisch, kulturell usw. als Identität imaginiert wird. Dieses Selbstbild bietet Zugehörigkeit und verspricht Solidarität.

Ich bezeichne deshalb den modernen als nationalen Antisemitismus. Das Adjektiv »modern« verschleiert, dass der Antisemitismus ein dominant nationales Selbstbild und eine darauf bezogene Judenfeindschaft ist. Der moralischen wie der ethnischen Selbstbezeichnung werden antijüdische Gegenbegriffe zugeordnet. Das heißt in moralischer Hinsicht: Im »Juden« werden Individualismus, Egoismus und Konflikt personifiziert. Er ersetzt »unsere Arbeitsfreude« nicht durch eine andere Freude, sondern durch Geld. Er hat keine andere Moral, sondern ist Anti-Moral, bildet keine andere Gemeinschaft, sondern zersetzt jede Gemeinschaft. Nicht weniger als »die Jahrtausende germanischer Gesittung« (Treitschke) sind in Gefahr.

Aber »der Jude« zerstört sie von außen, als Volksfremder, den »wir« unglücklicherweise in unserem Inneren, in »unserem« Land und Volk beherbergen. Das heißt in ethnischer Hinsicht: »Der Jude« personifiziert, was die nationale Ordnung der Welt, die Unterscheidung in Völker, die je für sich ein Land und Staat sein sollen, zersetzt. Er steht für Universalismus, A-Nationalität, Inter-Nationalismus. Er ist wie das Geld an keinen Staat und keinen Boden gebunden, er ist überall, in Deutschland wie in Frankreich, England oder Russland, dasselbe Problem. Darüber sind sich die Antisemit_innen aller Nationen einig.

National-Liberal und National-Sozialistisch

Im 19. Jahrhundert ist zunächst der Liberalismus der Hauptfeind des nationalen Antisemitismus . Denn das, was sich der Antisemitismus unter »Liberalismus« vorstellte, ist das Phantasma eines antistaatlichen, individualistischen, universalen Liberalismus. Liberalismus wie Sozialismus seien genuin jüdisch, im Innern der einzelnen Völker zersetzend und revolutionär. In der Konsequenz bedroht »der Jude« nicht nur die einzelnen Volks-Gemeinschaften, sondern ihr Prinzip. Würde er obsiegen, würde sich die Differenzierung zwischen den Völkern überhaupt zersetzen, und die Welt wäre eine einzige globale heimatlose Börse, eine bloße Ansammlung entwurzelter Individuen.

Diese Grundfigur kann gemäß der jeweiligen Zeitumstände antiliberal respektive antikommunistisch ausbuchstabiert werden. Der »Jude« ist im modernen Antisemitismus genuin der weltumspannende Feind aller Völker; die kommunistische Internationale und der globale Finanzkapitalismus sind ihm gemäße Instrumente, um die nationale Ordnung der Welt zu zerbrechen.

Die antiliberale und antikommunistische Stoßrichtung des Antisemitismus haben dieselben Grundlagen.

Die antiliberale und antikommunistische Stoßrichtung des Antisemitismus haben dieselben Grundlagen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage kann sich der nationale Antisemitismus zeitgeschichtlich anpassen und mit diversen politischen Strömungen verbinden. Eine Unterscheidung, die seit dem 19. Jahrhundert bis heute sehr relevant ist: Antisemitismus kann national-liberal oder national-sozialistisch ausgearbeitet werden. Der Unterschied ist, ob das im Nationalismus liegende Versprechen auf Zugehörigkeit sozialpolitisch, respektive als »nationaler Sozialismus«, ausgearbeitet wird oder nicht. Ersteres ist typischerweise der Fall, wenn der Antisemitismus explizit antikommunistisch argumentiert. Er erklärt dann einerseits Kapitalismus und Klassenkonflikt als jüdisch, bietet aber andererseits eine sozialpolitische Milderung und Begrenzung des Kapitalismus bzw. einen »nationalen Sozialismus« an.

Dieses Kontinuum des Antisemitismus von national-liberal bis national-sozialistisch verdeutlicht ein Vergleich zwischen Stoecker und Treitschke. Sie teilen die antisemitische Grundkonstruktion von Arbeit / Moral / Gemeinschaft /Volk gegen »den Juden«, die sich später auch bei Hitler finden wird. Heinrich von Treitschke war der zweite entscheidende Antisemit jener Zeit, der sich aber zeitlebens von Stoecker distanzierte. Treitschke und Stoecker unterschieden sich in ihrer Stellung zur sozialen Frage. Stoecker wollte sie nicht nur mit der »Judenfrage« beantworten. Er schlug eingreifende wirtschafts- und sozialpolitische Veränderungen wie die Einführung eines Normalarbeitstages oder das Verbot der Sonntagsarbeit vor. Überdies übernahm er mit der Gründung einer Arbeiterpartei, mit Aufmärschen und Versammlungen Organisationsformen der Arbeiterbewegung. Stoeckers Antisemitismus wurde also durch sozialpolitische, auf Klassenkompromiss zielende Vorstellungen ergänzt. Dies wirkte in seiner Zeit so »sozialistisch«, dass die Christlich-Sociale Arbeiterpartei 1878 fast unter dem Sozialistengesetz verboten worden wäre. Das wäre ganz und gar ungerecht gewesen, denn Stoecker war kein Sozialist, er war bloß nicht wirtschaftsliberal.

Treitschke hingegen war ein entschiedener Gegner der Kathedersozialisten. Für ihn würde sich der wirtschaftliche Fortschritt quasi automatisch aus der bürgerlichen Freiheit, der freien Verwendung des Privateigentums ergeben. Treitschke war einer der berühmtesten Vertreter des Bildungsbürgertums, Nationalliberaler und intellektueller Publizist. Er hatte keine Sympathien für die Gründung irgendeiner Arbeiterpartei. Es sei Aufgabe großer Männer, die politischen Geschicke zu ordnen. Die Berliner Bewegung Stoeckers schien ihm roh und pöbelhaft. Stoecker und Treitschke teilten den nationalen Antisemitismus, unterschieden sich aber in Stil und politischer Strategie: Richtete sich Ersterer mit kopierten Elementen der Arbeiterbewegung auch an die unteren Schichten, gab Letzterer den Vordenker für das Bürgertum, das sich frei von Ressentiments wähnt und für das Allgemeininteresse hält. Dementsprechend thematisierte Stoecker ausdrücklich die soziale Frage und erklärte Klassenkonflikt und Sozialismus zu einer jüdischen Bedrohung, kurz, er war explizit antikommunistisch. Treitschke dagegen wollte den Nationalismus gegen die Juden stärken. Sozialpolitische Versprechen machte er nicht.

Man erkennt in diesem Unterschied zwischen Stoecker und Treitschke unschwer Spannungen, die den rechten und rechtsextremen Strömungen bis heute eigen sind. Man denke etwa an Björn Höcke und Bernd Lucke. Doch so groß auch die ideologischen Unterschiede zu sein scheinen, entscheidend sind die gemeinsamen Grundlagen der nationalliberalen und der national-sozialistischen Ausprägung des Antisemitismus: das nationalistische Angebot der Zugehörigkeit gegen alle anderen, das Postulat einer guten nationalen Ordnung der Welt – und damit die Imagination eines universalistischen Feindes. Entsprechend diente ein Satz des nationalliberalen Geschichtsprofessors und Vordenkers der Deutschen – »die Juden sind unser Unglück« – 60 Jahre später der nationalsozialistischen Wochenzeitung »Der Stürmer« als Motto.

Zur Gegenwart

Auch die extreme Zuspitzung des Antikommunismus wie des Antisemitismus im Nationalsozialismus, auf den ich hier nicht eingehen kann, beruht exakt auf den beschriebenen Mustern. Selbstverständlich versiegte dieser breite Strom des nationalen Antisemitismus nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus nicht. Aber er geriet unter neue Bedingungen.

Gegenwärtig beobachten wir eine Renaissance des Antisemitismus. Die neoliberale Hegemonie, die »die Mitte« seit Jahrzehnten dominiert, hat eine Gegenreaktion provoziert, die in Gestalt des sogenannten Rechtspopulismus erneut einen weltanschaulichen Nationalismus gegen die Zumutungen des Wirtschaftsliberalismus ins Feld führt. Der Rechtspopulismus nutzt das herkömmliche Arsenal des Antsemitismus. Er kritisiert den Wirtschaftsliberalismus nicht, sondern benutzt ihn nur als Beleg für seine antiliberalen Feindbilder: Universalismus, Individualismus, Antinationalismus.

Wer an den nationalen Antisemitismus glaubt, ist sich gewiss, dass Ausbeutung und Entfremdung, Konflikte, Egoismus und Universalismus außerhalb unserer Gemeinschaft liegen.

Angesichts der Verwüstungen, die der Neoliberalismus angerichtet hat, ist das ideologische Feld inzwischen weit geöffnet. Ein nationales Selbstbild gegen die »zersetzenden« Kräfte des Kapitalismus und Universalismus ist für breitere Bevölkerungsgruppen wieder attraktiv. Diese Tendenz ist in allen sogenannten rechtspopulistischen und rechtsextremen Strömungen und Parteien von Front National, Fidesz, AfD, NPD bis Pegida zu beobachten. Zwar stellen diese Organisationen die Feindschaft gegen Muslime und Einwanderer_innen in den Vordergrund, aber sie revitalisieren zugleich ein zweites, grundlegend anderes und komplementäres Feindbild, den Antisemitismus.

Niemand käme, so Volker Weiß in seiner maßgebenden Studie über die Ideologie der neuen Rechten, »auf die Idee, dem Islam die Schuld an Fortschritt, Säkularisierung, Frauenemanzipation, Kulturindustrie, Marxismus und Liberalismus zu geben, also allen von den Rechten als schädlich reklamierten Begleiterscheinungen der universalistisch ausgerichteten Moderne«. (5) Dieser Feind, so Weiß weiter, sei der »absolute Feind« der Rechten, er ist die antinationale, Identität zersetzende Kraft, während die muslimischen Einwanderer_innen eine fremde, konkurrierende Identität sind. Dieser »absolute Feind« wird genau nach dem oben dargestellten Grundmuster des nationalen Antisemitismus in seiner antiliberalen respektive antikommunistischen Ausprägung gebildet.

Anti! Kommunismus

Seit das Gespenst des Kommunismus umgeht, ist der Antikommunismus Teil der symbolischen Ordnung, die die Produktionsverhältnisse schützt. Der von der jour fixe initiative berlin herausgegebene Sammelband »Anti! Kommunismus. Struktur einer Ideologie« geht dieser Ideologie nach. Er enthält Beiträge von Michael Koltan, Elfriede Müller, Margot Kampmann, Krunoslaw Stojakovic, Michael Brie, Klaus Holz und Enzo Traverso und erscheint in diesen Tagen bei edition assemblage.

Diese Ideologie ist im gesamten rechten Spektrum zu finden. Auch die Inszenierung als Sprachrohr des gesunden Volksempfindens und die Verteufelung der Kritik, des Abstrakten und Schwierigen findet sich dort allenthalben, auch wenn Le Pen, Höcke und Trump ihren Feind nicht als jüdischen bezeichnen. Der letzte rhetorische Schritt, den zersetzenden Universalismus und Individualismus, das Finanzkapital und die Amoral spezifisch »im Juden« zu personifizieren, unterbleibt. Viele rechte Parteien behelfen sich damit, nicht von »den Juden« zu sprechen, sondern nur bestimmte internationale jüdische Organisationen, Israel, die Zionist_innen oder Prominente wie Rothschild, Soros und Chodorkowski anzuklagen.

In der deutschen Rechten werden offen antisemitische Aussagen in der Regel vermieden, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen, auch wenn der Antisemitismus bei manchen AfD-Politiker_innen wie Björn Höcke deutlich herauszuhören ist. Am weitesten geht der Ex-Linke, Ex-ak-Autor und Ex-Antideutsche Jürgen Elsässer, der sich auch die Stärkung des Höcke-Flügels in der AfD auf die Fahne geschrieben hat. So macht Elsässer in seinem Compact-Magazin explizit die »globalen Eliten« und Zionist_innen, namentlich den »Jüdischen Weltkongress«, für die Migrationsbewegungen verantwortlich. Diese internationale Macht wolle die »Durchmischung der Völker durchsetzen«, schreibt Elsässer 2015 in dem Artikel »Flüchtlinge als Waffe«. Dagegen sei die Unterscheidung zwischen links und rechts und zwischen Klassen nicht mehr relevant.

Nationalismus ist das Versprechen auf materielle wie emotionale »sozialistische« Brüderlichkeit, das Versprechen auf Volks-Gemeinschaft. Der Antisemitismus bietet eine Erklärung der kapitalistischen Gesellschaft an, die auf die Erfahrung von Ausbeutung, Verunsicherung, Angst und Entfremdung abhebt. Er übersetzt die unvermeidliche Erfahrung der Übermacht der Gesellschaft über die Einzelnen in Ideologie – in ein Feindbild, das die Ohnmacht externalisiert und personifiziert, und ein Selbstbild, das Zugehörigkeit und Solidarität in einer ihrer selbst mächtigen Gemeinschaft garantiert.

Wer an den nationalen Antisemitismus glaubt, ist sich gewiss, dass Ausbeutung und Entfremdung, Konflikte, Egoismus und Universalismus außerhalb »unserer« Gemeinschaft liegen. Mit dem »Juden« wird sich die Anstrengung vom Hals gehalten, nach einem tatsächlich solidarischen, Individualität und Sozialität der Menschen fördernden Leben zu suchen. Nationalismus im Allgemeinen und nationaler Antisemitismus im Besonderen verstellen systematisch diesen Wunsch, diese Suche, die antikapitalistische Kritik, die kommunistische Hoffnung. Nationalismus respektive nationaler Antisemitismus sind daher die mächtigsten antikommunistischen Ideologien des kapitalistischen Zeitalters.

Klaus Holz

ist Mitglied der jour fixe initiative berlin und Autor mehrerer Bücher über Antisemitismus.

Der Artikel ist die Kurzfassung eines Beitrags von Klaus Holz im Sammelband Anti!Kommunismus (siehe Kasten). In der Buchfassung geht der Autor ausführlicher auf die Bedeutung des Antiliberalismus und die antisemitische Erzählung der Nazis ein.

Anmerkungen:

1) Alle Zitate von Adolf Stoecker aus dem Band »Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze«, Bielefeld, Leipzig, 1885.

2) Die Semantik ist die Wissenschaft, die sich mit der Bedeutung (von Zeichen: Worten, Begriffen, Symbolen) beschäftigt.

3) Der Begriff der Volksgemeinschaft ist zu Unrecht (nur) mit dem Nationalsozialismus identifiziert. Tatsächlich handelt es sich um ein allgemeines nationalistisches respektive antisemitisches Selbstbild. Um dies präsent zu halten, schreibe ich »Volks-Gemeinschaft« mit Trennstrich. Aus demselben Grund werde ich später »national-sozialistisch« mit Trennstrich schreiben, um die falsche Identifikation (nur) mit dem Nationalsozialismus anzuzeigen.

4) Die Ontologie beschäftigt sich mit dem, was existiert, sie wird manchmal auch als »Seinslehre« übersetzt. Sie untersucht die Existenz und Beziehung von Objekten. Ontologisch heißt in diesem Fall, dass der Antisemitismus an die anderen beschriebenen Kategorien gebunden ist.

5) Volker Weiß: Die autoritäre Revolte, Stuttgart 2017.