Verdrängte deutsche Kolonialgeschichte
Aufgeblättert: Mark Terkessidisʼ »Wessen Erinnerung zählt?«
Das neueste Buch des Migrationsforschers Mark Terkessidis gibt einen guten Überblick über koloniale Bestrebungen aus deutschsprachigen Territorien seit dem 16. Jahrhundert, den deutschen Kolonialismus sowie über die Debatten um Erinnerungskultur in Deutschland. Auf sehr zugängliche Art führt er in wichtige – und oft von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessene – Kapitel deutscher Geschichte ein.
So zeigt er, dass zwei bayerische Handelshäuser ab dem 16. Jahrhundert in die Vertreibung und Ausrottung der lokalen Bevölkerung im heutigen Venezuela involviert waren. Er erweitert die Diskussion auch um die Frage, warum eigentlich die Kolonialpolitik Preußens und später des Deutschen Reiches in Osteuropa und Südosteuropa – hier vor allem Griechenland – nicht als solche verhandelt wird. Die Territorialpolitik Preußens im heutigen Polen reicht ins 17. Jahrhundert zurück und steht in Systematik, Zielsetzung und rassistischer Zuschreibung der Kolonialpolitik auf dem afrikanischen Kontinent oder in Ozeanien in nichts nach.
Terkessidis beleuchtet auch die gesellschaftliche Repräsentation dieser Epochen in Museen, Schulbüchern und Wissenschaft und zeigt immer wieder auf, wie die Relativierung deutscher Täterschaft und Verantwortung konstant unter dem Deckmantel der »Zivilisationsmission« heruntergespielt wird. Und er kritisiert, dass die Stimmen der Kolonisierten und ihren Nachfahren kaum öffentlich Gehör finden, geschweige denn, dass sie Entscheidungsmacht erhalten.
Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2019. 222 Seiten, 22 EUR.