Utopie trotz Ambivalenz
Vor fünfzig Jahren erschien Ursula K. Le Guins Roman »The Dispossessed«
Von Marlon Lieber
Kürzlich wurde an dieser Stelle berichtet, dass sich eine Reihe jüngerer utopisch-anarchistischer Romane dem in der Linken oft vorherrschenden Bilderverbot widersetzen (ak 703). Nach Jahren des »kapitalistischen Realismus« und des Gefühls, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorzustellen, hat das Auspinseln konkreter Zukunftsentwürfe mittlerweile wieder einen festen Platz im linken Diskurs, beispielsweise in den Debatten über demokratische Wirtschaftsplanung und Vergesellschaftung.
Ein passender Anlass also, an einen der bedeutendsten utopisch-anarchistischen Texte des 20. Jahrhunderts zu erinnern, der vor genau fünfzig Jahren veröffentlicht wurde: Ursula K. Le Guins Roman »The Dispossessed: An Ambiguous Utopia«, der nach seinem Erscheinen mit den renommiertesten Preisen für Science-Fiction-Literatur wie dem Hugo Award oder dem Nebula Award ausgezeichnet wurde.
Inzwischen liegen drei deutsche Übersetzungen des Romans vor, deren Titel jeweils unterschiedliche thematische Akzente setzen. »Planet der Habenichtse« (1976, übersetzt von Gisela Stege) verweist darauf, dass Anarres, der Planet, auf dem der Großteil der Handlung angesiedelt ist, ein karger Wüstenplanet ist, dessen Bewohner*innen mit begrenzten Ressourcen auskommen müssen. Das Motiv der Knappheit betont auch der Titel der zweiten Übersetzung, »Die Enteigneten« (2006, übersetzt von Joachim Körber), der den Originaltitel am getreuesten wiedergibt.
Jedoch geht dabei eine Bedeutungsdimension verloren, denn das Englische »dis-possessed« kann auch so verstanden werden, dass es jene bezeichnet, die nicht besessen (»possessed«) von einer Sache sind. Im Roman ist das die Institution des Privateigentums. Anarres ist nach anarchistisch-kommunistischen Grundsätzen organisiert: Dort existieren weder ein Staat noch Waren- und Geldform. Dass der Originaltitel also auch darauf abzielt, dass die Bewohner*innen des Planeten weder kapitalistischer noch staatssozialistischer Formen der Unfreiheit unterworfen sind, kommt im Titel der jüngsten Übersetzung zum Ausdruck: »Freie Geister« (2017, übersetzt von Karen Nölle).
Weder literarische Utopie noch Science-Fiction
Die 1929 geborene Le Guin verstand sich bis zu ihrem Tod im Jahr 2018 als pazifistische Anarchistin. Es läge also durchaus nahe, das Werk als literarische Utopie zu lesen, in der Anarres für eine ideale Gesellschaftsordnung steht. Doch ist die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des Textes gar nicht so leicht zu beantworten. Le Guin selbst lehnte es zumindest noch in den 1970er Jahren ab, das Werk als literarische Utopie oder Science-Fiction zu bezeichnen. Demgegenüber insistierte sie darauf, dass sie einen Roman verfasst habe. Zwar enthält der Untertitel des Buches das Wort »Utopie«, jedoch nur mit einer Einschränkung: Es sei eine »ambivalente Utopie«.
Dass der Roman sich den formalen Konventionen der literarischen Utopie widersetzt, wird schnell deutlich. Dieser wohnt nämlich ein Widerspruch inne. Der darin entworfene gute Ort (vom Griechischen »eu-topos«) bleibt immer auch ein Nicht-Ort (»ou-topos«) und damit nicht tatsächlich bewohnbar. Auf der Handlungsebene drückt sich dies so aus, dass die Utopie üblicherweise aus der Außenperspektive geschildert wird: In den klassischen Werken von Thomas Morus, Edward Bellamy oder William Morris sind es (Zeit-)Reisende, welche die ideale Gemeinschaft als bloße Besucher kennenlernen und am Ende in ihre »Wirklichkeit«, die gleichzeitig die der Leser*innen ist, zurückkehren. Aus der Innenperspektive dagegen werden üblicherweise literarische Dystopien erzählt, die mahnen, dass der Versuch, das menschliche Zusammenleben vernünftig einzurichten, unweigerlich in den Totalitarismus führe.
In »The Dispossessed« ist es jedoch genau umgekehrt. Le Guin bedient sich der Form des Bildungsromans, um die Erfahrungen des Protagonisten, des Physikers Shevek, zu schildern. Dieser wächst auf Anarres auf und erkennt nach und nach, dass die anarchistisch-kommunistische Gesellschaft nicht frei von herrschaftlichen Strukturen und einem repressiven Konformismus ist. Shevek reist schließlich auf den Nachbarplaneten Urras, von dem die Anarchist*innen einst ausgezogen waren, um auf Anarres eine herrschaftsfreie Gesellschaft aufzubauen. Urras war für zeitgenössische Leser*innen unschwer als fiktionales Äquivalent der Erde erkennbar. Dort gibt es neben dem kapitalistischen A-Io noch eine autoritär staatssozialistisch regierte Gesellschaft und eine Art »Dritte Welt«.
In »The Dispossessed« wird bereits das derzeit viel diskutierte Problem der computergestützten Planwirtschaft angerissen.
Shevek hofft, in A-Io seine Forschung zu einer neuen Theorie der Zeitlichkeit fortsetzen zu können und ist schnell begeistert von der natürlichen Schönheit des Planeten sowie den Annehmlichkeiten des Lebens in materiellem Überfluss. Gemäß der bekannten literarischen Konventionen wäre also zu erwarten, dass A-Io die Utopie darstellt, die Shevek als Besucher kennenlernt, während sein Heimatplanet Anarres als Dystopie figuriert. Doch trifft das gerade nicht zu. Der nicht-linear strukturierte Roman wechselt geschickt zwischen Kapiteln, die Sheveks zunehmende Frustration auf Anarres erzählen, und solchen, die seine Erkenntnis schildern, dass der Reichtum A-Ios auf Ausbeutung und Unterdrückung des Großteils der Bevölkerung beruht.
Enteignet sind also, das wird während des Lesens deutlich, nicht die Anarchist*innen, die zwar vielleicht mit begrenzten Mitteln auskommen müssen aber doch dank herrschaftsfreier Beziehungsweisen einen »luxe communal« genießen, sondern die Bewohner*innen A-Ios, die in der Gesellschaft des Privateigentums nichts besitzen als ihre Arbeitskraft.
So beschließt Shevek schließlich, auf seinen Heimatplaneten zurückzukehren, da er erkennt, dass die anarchistisch-kommunistische Gesellschaft dort vor der Entstehung neuer Herrschaftsverhältnisse geschützt werden muss. Anstatt die Revolution also als singuläres Ereignis zu verstehen, das die befreite Gesellschaft einleitet, die in der Form eines nahezu statischen Ideals gedacht wird, wie es in vielen literarischen Utopien üblich ist, begreift »The Dispossessed« diese als »andauernden Prozess« einer »permanenten Revolution«, da die Revolutionär*innen auf die Komplexität und Kontingenz des Lebens reagieren müssen und aktiv Sorge dafür tragen müssen, dass herrschaftsfreie und solidarische Beziehungen reproduziert werden.
Ethisch-politische Probleme in der guten Gesellschaft
Dies ist auch der Grund, weshalb Le Guin darauf bestand, dass sie einen Roman geschrieben habe und keine literarische Utopie oder eine Science-Fiction. Erstere reduziere Charaktere darauf, bloße »Sprachrohre« für die politischen Vorstellungen der Autorin zu sein; letztere liefe Gefahr, die Transformation sozialer Verhältnisse durch technologische Innovationen zu ersetzen. Die Romanform dagegen erlaube es, die Leser*innen vermittels der Darstellung runder Charaktere mit moralischen Problemen zu konfrontieren, ohne gleichsam didaktisch eine vorgefertigte Lösung anzubieten.
Daher lohnt sich die Lektüre von »The Dispossessed« auch fünfzig Jahre nach dessen Veröffentlichung, gerade weil darin das derzeit viel diskutierte Problem der computergestützten Planwirtschaft bereits angerissen wird.
In der Debatte über demokratische Wirtschaftsplanung wird häufig auf die von Max Weber eingeführte Unterscheidung zwischen »formaler« und »materialer« (oder substantiver) Rationalität verwiesen. Die eine sucht geeignete Mittel für konkrete Zwecke; die andere ist an ethischen oder politischen Fragen interessiert, wo inkommensurable Werte aufeinanderprallen können. Die vorliegenden Entwürfe bewegen sich meist zwischen den beiden Polen einer algorithmischen Wirtschaftssteuerung (formale Rationalität) und einer partizipatorischen Demokratie (substantive Rationalität).
Es wäre Unsinn, von einem Roman zu erwarten, dass er diese Spannung auflösen und ein Modell einer idealen demokratischen Planwirtschaft skizzieren könnte – das entspräche dem, was Le Guin als Utopie im schlechten Sinne abtat. Und doch leistet »The Dispossessed« etwas, was in den Planungsdebatten oft marginal bleibt. Der Roman zeichnet ein überzeugendes Bild von den ethisch-politischen Problemen, die auch in einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft unweigerlich auftreten, und von den widersprüchlichen Anforderungen, die formale und substantive Vernunft an deren Bewohner*innen stellen würden. Und so besteht Le Guin darauf, dass diese unauflösbare Ambivalenz zwar nicht aus einer »guten« Gesellschaft wegzudenken wären, aber diese trotz aller Spannungen das erstrebenswerteste Ziel menschlicher Praxis bleibt.