Opioide fürs Volk
Die US-Schmerzmittelepidemie ist in Serien derzeit so präsent wie nie. Warum eigentlich?
Von Nelli Tügel
Mehr als 25 Jahre nach ihrem verhängnisvollen Beginn erreicht die popkulturelle Verarbeitung der US-Opioidkrise ihre volle Blüte. In der Teenagerserie »Euphoria«, auf deren dritte Staffel Fans sehnsüchtig warten, spielen Oxy und Fentanyl eine wesentliche Rolle. Sie dreht sich um die drogenabhängige Schülerin Rue (Zendaya), die behütet in einem typischen US-Vorort aufwächst. Ihren Erstkontakt mit Opioiden hat Rue noch als Kind: Der Vater ist krebskrank, sie probiert seine Schmerzmittel aus. Die einzig sympathische cismännliche Hauptfigur der Serie ist Rues Drogendealer Fez, der von Angus Cloud gespielt wird. Cloud wiederum starb erst kürzlich 25-jährig an einer Überdosis – von u.a. Fentanyl.
Auch die im Herbst 2021 veröffentlichte finale Staffel der Amazon-Eigenproduktion »Goliath« mit Billy Bob Thornton in der Rolle des abgehalfterten, aber genialen Anwalts Billy McBride dreht sich um Opioide, genauer gesagt um die Verantwortung der Pharmaindustrie für ihre Verbreitung. Und selbst in der deutsch-österreichischen Erfolgsserie »Der Pass«, ebenfalls kürzlich in der letzten Staffel ausgestrahlt, spielt Fentanyl eine nicht ganz unwichtige Rolle. In Europa ist es zwar deutlich komplizierter, sich ein stark süchtig machendes Opioid vom Arzt verschreiben zu lassen als in den USA. Der seelisch völlig heruntergekommene Wiener Cop Gedeon Winter aber (gespielt von Nicholas Ofczarek) bekommt nach einer schweren Operation Fentanylpflaster von seiner Ärztin, die ihn streng mahnt, stets nur eines aufzukleben – er nickt und bringt zuhause gleich mehrere der Pflaster auf seinem wuchtigen Körper an.
Fentanyl ist ein hochpotentes synthetisches Opioid, das 50 Mal so stark wie Heroin wirkt und auch dadurch extrem gefährlich ist: Es kann leicht überdosiert werden. Allerdings ist Fentanyl sehr günstig. Viele jener durch die Verschreibungen ihrer Ärzt*innen von OxyContin (»Oxy«) süchtig gewordenen US-Amerikaner*innen sind später auf Heroin umgestiegen, dem nun immer öfter Fentanyl beigemischt wird. Die in den vergangenen Jahren noch einmal stark gestiegenen Todeszahlen der Opioidepidemie werden auf die sozialen Folgen der Corona-Pandemie und die Ausbreitung von Fentanyl zurückgeführt. Inzwischen sterben in den USA jährlich mehr als 100.000 Menschen an einer Überdosis.
Eine unglaublich wahre Geschichte
In »Der Pass« ist ganz klar, warum Gedeon Winter trotz der ihm durchaus bekannten Gefahren das Medikament »missbraucht«: Er ist schwer traumatisiert, fertig mit der Welt und depressiv. Fentanyl soll seinen Schmerz ausschalten, nicht nur den körperlichen. Um Schmerz und seine Betäubung dreht sich auch eine neue Netflix-Serie, die vor wenigen Wochen gelauncht wurde: »Painkiller« erinnert stark an die 2021 veröffentliche Miniserie »Dopesick« aus dem Hause Disney. Die Figuren sind andere, die Orte des Geschehens unterscheiden sich ebenfalls – in »Dopesick« verfolgen wir, wie eine kleine Bergbaugemeinde in den Appalachen nach der Einführung von OxyContin im Jahr 1996 mit dem Schmerzmittel geflutet wird und bald darauf im Chaos versinkt. In »Painkiller« ist es ein anderes Städtchen der früheren US-Industrieregion; das arglose Opfer ist Automechaniker Glen, der nach einem Arbeitsunfall von seinem Arzt Oxy verschrieben bekommt, süchtig wird und am Ende der Serie an einer Überdosis stirbt.
Die Geschichte der Opioidkrise kann, wie kaum ein anderer Unternehmensskandal der vergangenen Jahrzehnte, auch als Allegorie auf die Gegenwart verstanden werden.
Die große Geschichte, die beide Serien erzählen, ist indes dieselbe. Es ist die ebenso wahre wie in vielen Details eigentlich unglaublich erscheinende Geschichte davon, wie die Opioidkrise begann. Unglaublich ist etwa die Tatsache, dass jener Angestellte der US-Arzneimittelbehörde FDA, der OxyContin Mitte der 1990er Jahre die Zulassung als Schmerzmittel für jedermann erteilte, kurz darauf zu Purdue Pharma wechselte, also jener Firma im Besitz der Familie Sackler, die OxyContin auf den Markt brachte und damit Milliardengewinne machte. Zuvor hatte das Medikament unter anderem Namen und ohne die leicht zu lösende Ummantelung, die für eine zeitversetzte Abgabe des Wirkstoffes sorgen sollte, ein Nischendasein als Mittel für todkranke Patient*innen im Endstadium etwa von Krebs geführt.
Weil Purdue Pharma – ohne Grundlage – behauptete, OxyContin mache viel weniger Patient*innen abhängig (weniger als ein Prozent) als die zu diesem Zeitpunkt von vielen Ärzt*innen mit großer Zurückhaltung verschriebenen anderen Opioide, konnte es zum Massenmedikament werden. Der Konzern ließ dafür Hausärzt*innen gezielt in infrastrukturell abgehängten Working-Class-Gemeinden mithilfe einer Armee von Pharmavertreter*innen beschwatzen, manipulieren und unter Druck setzen. OxyContin wurde schließlich freigiebig auch bei Kopf-, Rücken- oder Zahnschmerzen verschrieben und zeitweise zum meistverkauften Schmerzmittel der USA. Die Zahl der Süchtigen und Toten stieg rasant. Trotzdem wechselte einer der ersten Staatsanwälte, der in dieser Sache tätig wurde, wenig später ebenfalls als Anwalt zu Purdue Pharma. Und so weiter. Und so weiter.
Der Fall Purdue Pharma ist krass, verstörend und schon deshalb erzählenswert. Er wurde inzwischen in mehreren Büchern aufgearbeitet und vor US-Gerichte gebracht. Es gibt Kampagnen und Aktivist*innen – häufig Angehörige von Oxy-Toten oder selbst Süchtige, wie die bekannte Fotografin Nan Goldin –, die seit Jahren für Gerechtigkeit kämpfen. Es ist nachvollziehbar, geradezu zwingend, dass dieser Stoff auch in Filmen und Serien aufbereitet wird.
Nur: So neu ist die Epidemie nicht, sie begann wie gesagt bereits vor mehr als 25 Jahren. Warum boomt das Thema gerade jetzt?
Jede Zeit hat ihre Droge
Ein Grund ist sicherlich, dass viele heute bekannte Tatsachen erst im Laufe der Zeit, im Zuge vieler Recherchen und Ermittlungen ans Tageslicht kamen. Doch möglicherweise liegt in dem gesteigerten Interesse an der Geschichte dieser Epidemie auch noch etwas anderes? Man könnte es so deuten: So wie die Hippies auf LSD, die 80er auf Kokain und die »Alles ist möglich«-90er auf Ectasy waren, ist der Westen nun zur klassischen Betäubungsdroge des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgekehrt, dem Morphium, nur eben in um ein Vielfaches verstärkter Form. Das Perfide dabei ist, dass etliche Süchtige zu Beginn der Epidemie zunächst gar keine umfassende Betäubung suchten, sondern einfach Linderung körperlicher Schmerzen und dabei vertrauensseelig auf ihren Arzt hörten. Dennoch ist es aus heutiger Sicht absolut logisch, dass der Rausch unserer Zeit die Massenapathie ist.
Und: Anders als beim, u.a. von kriegstraumatisierten Veteranen in den 70er Jahren häufig gebrauchten Heroin, sind es nicht Dealer*innen, die die Drogen vertreiben, sondern Ärzt*innen und Pharmavertreter*innen. Wie zahlreiche Auswüchse des Spätkapitalismus, etwa die brutalisierten Grenzregime, alles ganz legal, aber zutiefst menschenfeindlich. Mit den Folgen schließlich stehen die Betroffenen allein da. In den USA gibt es kein öffentliches Gesundheitssystem, das auch nur annähernd dafür ausgerüstet wäre, den Süchtigen die Unterstützung und Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchen. Die Geschichte der Opioidkrise kann, wie kaum ein anderer Unternehmensskandal der vergangenen Jahrzehnte, auch als Allegorie auf die Gegenwart verstanden werden – und erfährt vielleicht gerade deshalb derzeit so große Aufmerksamkeit, weil in ihr viel von dem steckt, was das Jetzt ausmacht: kapitalistische Dystopie, Zerstörung, Hoffnungslosigkeit und Lähmung, während sich alles immer weiter- und weiterdreht.
Eine Szene in »Painkiller« bringt das besonders treffend auf den Punkt: Während ganze Gemeinden des Rust Belts dabei sind, angesichts der Epidemie auseinanderzufallen, schmeißt Purdue Pharma eine grotesk luxuriöse und enthemmte Party für seine Mitarbeiter*innen. Nach der Rede von Firmenboss Richard Sackler skandieren alle gemeinsam begeistert im Chor »OXY-CON-TIN-OXY-CON-TIN« und recken die Fäuste in die Höhe. Die fiktive Szene spielt zwar, wie die Serie, um die Jahrtausendwende, doch funktioniert sie – geschrieben und gedreht im Jahr 2022 – vor allem als Bild für das Heute, in dem sich die Gewissheit durchgesetzt hat, dass superreiche Kapitalist*innen noch auf den Trümmern einer verbrannten Welt tanzen werden. Für die anderen bleibt nur Betäubung. Denn wer hat angesichts der vielen Nachrichten von Tod und Apokalypse eigentlich noch Gefühle übrig? Und wenn man sie hat – wer kann sie noch ertragen? Am Ende des Kapitalismus, in seinem Übergangsstadium zur Barbarei, braucht es Opium fürs Volk, aber vielfach verstärkt und im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Serie »Painkiller« läuft auf Netflix.