Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, oder?
Von Moritz Assall
Mitte der 1930er Jahre machte sich der Ethnologe Claude Lévi-Strauss auf ins brasilianische Hochland zwischen dem Rio Paraguay und dem Amazonas. Diese Reise hat der Forschungsreisende in seinem Buch »Traurige Tropen« beschrieben, das mit dem irgendwie sympathischen Satz »Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende« beginnt und in dem er auch sonst einen erstaunlich launigen Schreibstil pflegt. Im Kapitel »Schreibstunden« beschreibt Lévi-Strauss seine Versuche, mit den dort ansässigen Nambikwara in Kontakt zu treten. Das geht gründlich schief, denn erst verirren sie sich im Regenwald und als sie die Nambikwara dann treffen, sind sich alle Beteiligten nicht so ganz sicher sind, ob die jeweils anderen sie nicht in der Nacht doch vielleicht um die Ecke bringen wollen (»Niemand schlief: wir verbrachten die Nacht damit, uns höflich gegenseitig zu bewachen«). Dann hatte auch noch sein Maultier Mundfäule und bockte bei der überstürzten Rückreise (»Wir zankten uns ständig«). Kurz zusammengefasst: »Diese ziemlich riskante Reise erscheint mir heute als eine groteske Episode«.
Mag sein, jedenfalls war sie aber auch Ursprung einiger Überlegungen von Lévi-Strauss zum Verhältnis von Alphabetisierung und juristischer Macht. Er war der Auffassung, dass das Wissen um die Schrift unentbehrlich sei, »um Herrschaft zu konsolidieren« und schrieb: »Der Kampf gegen das Analphabetentum brachte eine verstärkte Kontrolle der Bürger durch die Staatsgewalt mit sich. Alle müssen lesen können, damit die Staatsgewalt sagen kann: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe«. Das leuchtet ja auch erst mal ein, aber nun ist es so: In Deutschland gab es Anfang dieses Jahres laut einer Bundestagsdrucksache ganze 4.428 Gesetze und Rechtsverordnungen mit insgesamt locker flockigen 93.328 Einzelnormen. Dann mal gute Rechtslektüre, lieber Claude! Dabei ist die Feststellung von Lévi-Strauss, dass Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schützt, im Regelfall nach wie vor zutreffend. Zwar ist in Paragraf 17 des Strafgesetzbuches festgeschrieben, dass straffrei handelt, wer »keine Einsicht hat, Unrecht zu tun«, sich also über die Rechtslage irrt. Dies gilt allerdings nur, wenn dieser Verbotsirrtum nicht zu vermeiden war – was wiederum nur in äußerst seltenen Fällen so gesehen wird, 93.328 Normen hin oder her.
Dennoch ist der Verbotsirrtum ein Klassiker vor Gericht. Besonderer Beliebtheit erfreut sich diese Argumentation neuerdings bei Reichsbürger*innen, die ihren eigenen Verbotsirrtum erfunden haben: Sie können lesen, kennen vielleicht auch den Inhalt des betroffenen Gesetzes, bestreiten aber die »Einsicht, Unrecht zu tun«, weil es ja die BRD und ihr Rechtssystem gar nicht gäbe. So zum Beispiel in einem Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen von August 2022, nach dem in Köln die Reichsbürger*innenkneipe »Königreich Deutschland« durch die Behörden geschlossen und versiegelt wurde. Diese Kneipe fühlte sich, der Name lässt es erahnen, nicht der BRD, sondern dem »Königreich Deutschland« (KRD) zugehörig und durfte darum nur von »Staatsbürger*innen des KRD« betreten werden, wobei für das schnelle Wegbier praktischerweise der Erwerb einer »temporären Staatsbürger*innenschaft« möglich war.
Die »Staatsbürger*innen« waren allerdings wohl nicht ganz sauber, jedenfalls waren schon am Eröffnungstag Hygienevorschriften der BRD nicht eingehalten worden, eben mit dem Hinweis darauf, dass neben dem Recht des KRD keine weiteren Gesetze zu beachten seien. Oder in einem Verfahren vor dem Landgericht Freiburg aus 2019. Ein Reichsbürger war mit einem gebastelten Reisepass des »Deutschen Reichs« durch die Welt gereist und wurde darum wegen Urkundenfälschung verurteilt. Dabei prüfte das Gericht auch einen Verbotsirrtum nach Reichsbürger*innenart: »Nicht ausschließbar ging der Angeklagte infolge einer bei ihm vorhandenen ideologischen Verblendung davon aus, dass weder die Ausstellung solcher Dokumente noch die Vorlage derselben bei Zoll- und Personenkontrollen nach deutschem Recht strafbar sei.« Waren sie aber. Wer hätte das gedacht.