Unser Denkmal ist unantastbar
Der Kampf um das Mahnmal für die im Holocaust ermordeten Sinti und Roma steht für die Unsichtbarmachung der Opfer
Von Verena Lehmann
Eine im Dezember in Mainz von ZDFinfo veröffentlichte Umfrage offenbart, dass ein Viertel (26 Prozent) der befragten Deutschen nur lückenhaft über den Holocaust informiert ist. Viele der Befragten wussten nur wenig bis gar nichts mit dem Begriff Holocaust anzufangen. Fast genauso viele Befragte (28 Prozent) stimmten der Aussage zu, dass endlich ein Schlussstrich unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus gezogen werden sollte.
Wie es um das Wissen über den Genozid an den Sinti und Roma bestellt ist, lässt sich hieran erahnen. Wenn man die Erinnerungspolitik rund um das Gedenken an die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma näher betrachtet, zeigt sich deutlich, dass der deutsche Staat bezüglich der Aufklärung der Bevölkerung einen großen Nachholbedarf hat. Es ist hierbei anzumerken, dass die Aufklärung, die bisher stattgefunden hat, fast ausschließlich von der Minderheit selbst eingefordert und geleistet wurde.
Da der Völkermord an den Sinti und Roma erst 1982 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell anerkannt wurde, fand bis dahin keinerlei Erinnerungsarbeit oder Gedenken für die verfolgten und ermordeten Sinti, Roma und jegliche Personen, die vom Naziregime unter die Verfolgung der als »Z***« kategorisierten Opfer (wie zum Beispiel die soziokulturelle Gruppe der Jenischen) statt. Aufgrund der Verleugnung des Staates bekamen unzählige Holocaustopfer der Sinti und Roma jahrzehntelang vor Gericht kein Recht auf staatliche Entschädigungen.
Kontinuitäten des Antiziganismus
So entschied der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil vom 7. Januar 1956, dass alle staatlichen Verfolgungsmaßnahmen gegen diese Gruppe legitim gewesen seien, da sie durch ihre »eigene Asozialität, Kriminalität und [ihren] Wandertrieb« diese selbst veranlasst hätten. Eine wesentliche Aussage dieses Urteils beinhaltete, dass sie »wie die Erfahrung zeige, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien« neigen würden. Weiter heißt es in selbiger Passage: »…es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.« Durch dieses vernichtende und zutiefst rassistisch diskriminierende Gerichtsurteil wurden Entschädigungsanträge der verfolgten Sinti und Roma immer wieder abgeschmettert. Obwohl es 1963 revidiert wurde, blieb die Entschädigung für viele Sinti und Roma chancenlos.
Man muss dazu erwähnen, dass bei der geschätzten Zahl von einer halben Million Opfern dieser aus ethnischen Gründen ermordeten Gruppe, lediglich die tatsächlich als Sinti und Roma dokumentierten Verfolgten erfasst sind. Die Zahl der tatsächlich Ermordeten und ob es noch mehr Opfer gab, bleibt auch 76 Jahre nach Kriegsende im Dunkeln. Ein Grund für das Desinteresse könnte darin liegen, dass viele der Opfer ein Anrecht auf finanzielle Entschädigung hatten und haben.
Die Verfolgung und systematisch geplante Vernichtung der Sinti und Roma und die Ermordung von geschätzt einer halben Million Angehörigen der Ethnie habe, nach damaliger Auffassung des Staates, nicht stattgefunden. Mit der Verleugnung der Verfolgung als Völkermordes unternahm der Staat auch keine Maßnahmen zur Entnazifizierung oder Sensibilisierung in diesem Bereich. Täter*innen, die die Verfolgung und systematische Ermordung »zur Endlösung der Z***-frage« maßgeblich mitverantwortet haben, blieben jahrzehntelang juristisch unbehelligt. Zu sehr wäre die strafrechtliche Verfolgung der Täter*innen einem Eingeständnis nahegekommen, dass der bis in die achtziger Jahre geleugnete Völkermord an den Sinti und Roma tatsächlich stattgefunden hat.
Ein Beispiel: Die beiden »Rassenforscher*innen« Dr. Robert Ritter und seine Gehilfin Eva Justin erarbeiteten in der Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamtes über 24.000 Pseudo-Gutachten über Sinti und Roma legten damit den Grundstein für Maßnahmen wie deren Zwangssterilisation bis hin zur Deportation ins Konzentrationslager Auschwitz. Bis zu ihrem Ableben konnten sie unbehelligt weiter in ihren Berufsfeldern arbeiten. Strafverfahren wurden gegen beide aus Mangel an Beweisen eingestellt und schmälerten das öffentliche Ansehen der beiden ehemaligen »Rassenforscher*innen« scheinbar nicht. Ritter und Justin arbeiteten beide nach Kriegsende in der Jugendpsychiatrie in Frankfurt am Main.
Beispiele wie Ritter und Justin sind bei der juristischen Bestrafung von Beteiligten an der Verfolgung der Sinti und Roma kein Einzelfall. Die mangelnde Aufarbeitung des Völkermordes an den Sinti und Roma zog sich durch alle Bereiche des staatlichen Regelsystems. So haben Richter, Ärzte und Lehrer, die in der NS-Zeit zuvor noch dem Geist und die Gesetzgebung der Nationalsozialisten gefolgt waren, nach Kriegsende übergangslos ihre Berufe weiter ausgeübt. Öffentliche Anerkennung fand nicht statt, von Aufklärung und Sensibilisierung in den Schulen ganz zu schweigen.
Die viel zu späte Anerkennung des Leides der Sinti und Roma durch das NS-Regime erfolgte außerdem ausschließlich auf den Druck der frühen Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma selbst. Auslöser hierfür waren anhaltende institutionelle rassistische Diskriminierung der Ethnie bis hin zur gewaltvollen Verfolgung derer. Sinti und Roma waren nach Kriegsende auch immer wieder massiver willkürlicher Polizeigewalt ausgesetzt, die juristisch in den meisten Fällen unbehelligt blieb. Der bekannteste Fall war die Tötung des deutschen Sintos Anton Lehmann, der 1973 in Heidelberg bei einer Polizeirazzia erschossen wurde, welche für den verantwortlichen Polizisten keine disziplinarischen oder juristischen Konsequenzen hatte.
Erkämpfte Anerkennung
Eine kleine Gruppe von zwölf Sinti und Roma-Bürgerrechtlern, unter ihnen Romani Rose, Adam Strauß und Wallani Georg, die zusammen mit anderen die Mitbegründer des späteren Zentralrates Deutscher Sinti und Roma waren, formierte sich, um auf das anhaltende Unrecht des Staates gegenüber den Mitbürger*innen, den Sinti und Roma, aufmerksam zu machen. Sie erkämpften bis in die achtziger Jahre die Anerkennung des Genozids an einer halben Million Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland.
Die in Deutschland lebenden Opfer unter den Sinti und Roma hatten nun endlich eine juristische Grundlage für die Geltendmachung von Entschädigungszahlungen. Für viele kam sie zu spät. Ein großer Teil der damals Verfolgten war inzwischen verstorben. Der verbliebene Teil konnte auch bei Zahlung von finanzieller Entschädigung das angetane Unrecht psychisch nicht mehr überwinden. Zu lange, fast 40 Jahre, ließ der Staat sie mit ihrem Trauma alleine, welches noch an zwei weitere nachfolgende Generationen von Angehörigen der Verfolgten des Holocausts an den Sinti und Roma durch anhaltenden Antiziganismus in Behörden und Schulen weitervererbt wurde.
Die Aufklärung der Bevölkerung am Massenmord an den Sinti und Roma blieb weiter von geringem politischem Interesse. Zu lange seien die Verbrechen der Nazis verjährt und Schuldige und Verantwortliche seien in den nachfolgenden Generationen nicht zu finden. Bis heute findet in deutschen Schulen nur unzureichende Aufklärung über den Holocaust an den Sinti und Roma statt. Die Ermordung der Minderheit wird bei der Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges lediglich als Randnotiz erwähnt.
Mahnmal oder Bahntrasse?
Um ein öffentliches Gedenken haben Sinti und Roma jahrzehntelang gekämpft. Das erst 2012 errichtete Mahnmal für die im Holocaust ermordeten Sinti und Roma in Berlin wurde von den Angehörigen der Opfer bereits 30 Jahre zuvor vergeblich eingefordert. Die Einweihung dieses Mahnmals, welches symbolisch für das Grab steht, das so viele in den Konzentrationslagern ermordeten Sinti und Roma nicht bekamen, konnten viele der Opfer nicht mehr erleben.
Das mit der Errichtung eines Mahnmals für ermordete Sinti und Roma nun auch öffentliche Gedenken an die Opfer findet für deren Angehörige viel zu spät statt. Unverständlich ist es deshalb für die Hinterbliebenen, dass in aktuellen Umfragen befragte Deutsche das Ende der Beschäftigung mit dem Holocaust wünschen, weil diese Aufarbeitung für diese Opfergruppe im öffentlichen Raum niemals wirklich stattgefunden hat.
Dass die Erinnerungspolitik für das Gedenken an den ermordeten Sinti und Roma scheinbar kaum im Interesse des deutschen Staates liegt, zeigt der Fall um eine zukünftig geplante neue Bahntrasse, die direkt das Mahnmal der ermordeten Sinti und Roma durchqueren soll. Dass das Andenken der ermordeten Sinti und Roma scheinbar willkürlich durch den Staat auf- und wieder abgebaut werden kann, ist für die Angehörigen der Hinterbliebenen ein Schlag ins Gesicht. Sinti und Roma, deren ehemals verfolgte Angehörige bereits vor dem Krieg Bürger*innen des deutschen Staates waren, fühlen sich erneut als Opfer zweiter Klasse, da der Staat in der Gedenkkultur zwischen verschiedenen Opfergruppen scheinbar hierarchische Unterschiede macht.
Während das Mahnmal der ermordeten Jüdinnen und Juden eindeutig und allseits bekannt ein unantastbarer Ort ist, der unter keinen Umständen durch Baumaßnahmen verändert, gestört oder berührt werden darf, überrascht es die Verantwortlichen für die neue Trassenführung der Bahn geradezu, dass der Abbau des Mahnmals der ermordeten Sinti und Roma diese stark in ihren Befindlichkeiten verletze. Es wurde nicht einmal berücksichtigt, dass das Mahnmal direkt auf der geplanten Trassenführung liegt.
Die Deutsche Bahn AG ist zwar bei diesem Vorhaben lediglich die ausführende Kraft und nicht der Rechtsnachfolger der Deutschen Reichsbahn, die in der NS-Zeit im Auftrag der Nationalsozialisten über deren Schienennetz Millionen Menschen in KZs deportierte und damit den Massenmord überhaupt erst ermöglichte. Dennoch ist es für die Angehörigen der im Holocaust ermordeten Sinti und Roma schmerzhafte Ironie, dass ihre Menschen auf Bahnschienen in den Tod befördert wurden und es nun erneut Bahnschienen sind, die das Gedenken und die Anerkennung dieses angetanen Unrechts demontieren. Dies darf, so finden die Sinti und Roma Deutschlands sowie zahlreiche andere deutsche Bürger*innen, nicht sein.
Der Fall rund um die Forderung, dass das Mahnmal der ermordeten Sinti und Roma unantastbar ist, hat in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit bekommen. Hierfür haben sich Aktionsbündnisse und Initiativen formiert, Petitionen und Demonstrationen wurden ins Leben gerufen und viele Menschen machten darauf aufmerksam. Die Zusammenschlüsse dieser Allianzen und die Solidarität der deutschen Mitbürger*innen mit den Sinti und Roma machen sichtbar, dass viele Menschen in Deutschland die Erinnerungsarbeit an den Holocaust aktiv weiterführen – auch wenn es der Staat ist, der zu verantworten hat, dass es bis heute immer noch nur unzureichende Aufklärungsarbeit über den Holocaust an den Sinti und Roma gibt.
Dass die Erwähnung von Sinti und Roma als Verfolgte der Nationalsozialisten im öffentlichen Raum kaum stattfindet, ist alarmierend. Vor allem weil Sinti und Roma bis heute immer wieder Opfer rechtsextremistischer Gewalt sind wie 2016 im Münchner Olympiazentrum und jüngst 2020 in Hanau. Es zeigt, dass historische Aufklärung bei erneutem Aufkeimen rechtsextremistischer Ideologien umso wichtiger ist und keinesfalls weniger stattfinden darf. Denn die Verbindung von alten und neuen Verbrechen findet medial kaum Erwähnung. Damit sich dies in absehbarer Zeit ändert, ist ein großes Stück Aufklärungsarbeit von staatlicher Seite und der Gesellschaft insgesamt erforderlich und das Bewusstsein, dass Erinnerungspolitik und Gedenkkultur nicht wie die letzten Jahrzehnte zuvor ausschließlich von den Betroffenen selbst betrieben werden sollte.