Ungehörter Widerstand
Belutsch*innen kämpfen seit Jahrzehnten gegen Repression und die pakistanische Besatzung – es braucht mehr internationale Solidarität
Wer »Belutschistan« bei Wikipedia eingibt, erhält nur wenig Informationen über eine Region mit Jahrtausende alter Geschichte. International – insbesondere in Europa und auch hier in Deutschland – wissen viele Menschen nicht einmal, dass Belutschistan existiert und wo es liegt. Ganz zu schweigen davon, dass viele Belutsch*innen, vor allem politisch Aktive, tagtäglich mit massiver Gewalt konfrontiert sind: mit Unterdrückung, Folter, massenweisem Verschwinden und Ermordungen. Ihre Familien erfahren kollektive Bestrafung durch die pakistanische Armee. All das zwingt viele Menschen ins Exil. Auch wissen viele europäische Linke nichts von dem schon lange anhaltenden, kontinuierlichen Widerstand und den von unten organisierten Kämpfen gegen Unterdrückung, Repressionen, Kolonialismus und Gewalt – sowohl in Belutschistan selbst als auch im Exil.
Belutschistan ist kein international anerkannter Staat, sondern ähnlich wie Kurdistan eine Region, die sich über drei Staatsgrenzen erstreckt: Iran, Afghanistan und Pakistan. Zwar erlangte der pakistanische Teil Belutschistans 1947 für ein knappes Jahr die Unabhängigkeit, er wurde jedoch kurz darauf von Pakistan annektiert. Heute leben in etwa 12,5 Millionen Menschen in Belutschistan. Der pakistanische Teil Belutschistans ist ungefähr so groß wie Frankreich. Der Landstrich ist zwar reich an Bodenschätzen, doch die Lebens- und menschenrechtliche Situation, vor allem im pakistanischen Teil Belutschistans, ist desaströs – es herrscht seit Jahren ein kriegsähnlicher Zustand.
Karima Baloch und Sajid Hussain
Im Jahr 2020 gab es zwei politische Morde an belutschischen, einflussreichen Aktivist*innen im Exil: Sajid Hussain – ermordet im Frühjahr 2020 in Uppsala (Schweden) und Karima Baloch – ermordet im Winter 2020 in Toronto (Kanada). Beide hatten Belutschistan aufgrund ihrer politischen Aktivitäten verlassen und waren wie viele andere politische Aktivist*innen ins Exil gegangen.
Sajid Hussain – Menschenrechtsaktivist, Journalist und Autor vieler Artikel über Belutschistan und seine Kämpfe sowie Herausgeber der Onlinezeitung Balochistan Times – war eine wichtige Stimme des Widerstands und der Befreiungsbewegung. Im März 2020 verschwand er plötzlich während eines Spaziergangs und kam nie wieder zurück. Seine Leiche wurde Anfang Mai aus dem Fluss in der Großstadt Uppsala gezogen. Es gab in der belutschischen Community nie Zweifel daran, dass es ein politischer Mord gewesen war und der pakistanische Geheimdienst dahintersteht. Dennoch: Die schwedische Polizei ließ die Untersuchungen fallen, schloss ein Verbrechen aus und deklarierte Sajid Hussains Tod als Selbstmord.
Sehr ähnlich ereignete sich im Dezember 2020 der Mord an Karima Baloch, einer politischen Aktivistin, die Sprachrohr für viele FLINT-Personen (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre und trans Personen) war. Sie lebte seit 2015 in Toronto im Exil und mobilisierte durch ihre empowernden Reden – sowohl in Belutschistan, als auch in Kanada – viele FLINT-Personen. Auch sie verschwand auf einem Spaziergang, wurde einige Tage vermisst, bis ihre Leiche im Zentralpark in Toronto in einem Gewässer gefunden wurde. Karimas Tod brachte massenweise Menschen auf die Straße: in Belutschistan, Indien, Pakistan und auch in einigen europäischen Ländern. In ihrem Fall ermittelte die kanadische Polizei ebenfalls nicht weiter und ging von Suizid aus. Der Fall wurde beiseitegelegt. Als ihre Leiche nach Belutschistan überführt wurde, beschlagnahmt die pakistanische Armee den Sarg zunächst. Die Beerdigung in ihrem Herkunftsort Tump wurde blockiert.
Zwei Todesfälle bekannter, belutschischer Aktivist*innen, die jeweils in ihren Exilländern auf ähnliche Weise brutal aus dem Leben gerissen wurden – das zeigt, dass die politische Verfolgung, Repression und Einschüchterung belutschischer Aktivist*innen selbst im Ausland nicht enden. Dass es keine nennenswerte öffentliche, gesamtgesellschaftliche, aber auch keine linke Auseinandersetzung gibt, liegt auch an der mangelnden medialen Berichterstattung.
Kolonialherrschaft, Wiederbesetzung
Als die Brit*innen mit der Unabhängigkeit Indiens im August 1947 auch Belutschistan verließen, wurde dieses zunächst zu einem unabhängigen Staat. Die Menschen in Belutschistan wollten keine Fusion mit Pakistan. Pakistans imperialistisches Interesse an Bodenschätzen und anderen natürlichen Ressourcen führte allerdings zu mehreren Kriegen und schließlich zum Einmarsch der pakistanischen Armee im April 1948 und der Annexion Belutschistans. So dauerte die Unabhängigkeit gerade einmal acht Monate. Belutschistan macht über 40 Prozent des heutigen pakistanischen Territoriums aus. Seither gab es immer wieder Kriege, in denen die Belutsch*innen gegen die pakistanische Besetzung kämpften: 1948, 1958, aber auch in den 1960ern, 1970ern und in den 2000er Jahren bis heute.
Es ist in der Tat ein Konfliktzentrum. Die Gründung Pakistans hat ihre Wurzeln auch in der islamischen Bewegung von 1919-1924, die für die Wiederbelebung des Osmanischen Reiches protestierte. Sie brach nach einiger Zeit zusammen, hatte aber vor ihrem Zusammenbruch einen großen Teil der indischen muslimischen Bevölkerung radikalisiert, die von einem islamischen Staat in Indien träumte.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, 1947, als die Brit*innen ihre Kolonien verließen, ergab sich die Chance, diese Träume mit der Gründung Pakistans zu verwirklichen. Die rücksichtslose Entscheidung der Brit*innen, eine Grenze – die sogenannte Radcliffe Line – zwischen Pakistan und Indien zu ziehen, war nicht nur eine administrative Angelegenheit, sondern für viele Bewohner*innen der Region eine Frage von Leben und Tod. Mehr als eine Million Menschen starben in jenem Jahr durch die kommunalen Konflikte zwischen Muslim*innen, Hindus und Sikhs, die durch die Kolonisierung und spätere Teilung Indiens ausgelöst worden waren. Weitere 15 Millionen Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Belutschistan, eine ehemals eigenständige Region mit einer weitgehend säkularen Bevölkerung, erhielt in dieser Zeit seine Unabhängigkeit vier Tage vor der Gründung Pakistans durch die Brit*innen.
Ähnlich wie in Kurdistan ist die belutschische Befreiungsbewegung säkular und sozialistisch geprägt.
Acht Monate nach der Unabhängigkeit Belutschistans marschierte Pakistan mit seiner überlegenen Armee unter der Führung britischer Offiziere in Belutschistan ein und annektierte es. Dabei nutzte die pakistanische Führung koloniale Taktiken wie wirtschaftliche Benachteiligung, Rassismus, Marginalisierung und Ausrottung der indigenen belutschischen Gemeinschaften, wie sie vorher bereits vom britischen Empire eingesetzt worden waren. Die Sprache der Belutsch*innen sollte durch Urdu ersetzt werden. Die belutschische Gesellschaft und ihre Kultur wurden systematisch entrechtet mit dem Ziel, ihre Entwicklung zum Stillstand zu bringen. Das ist nicht gelungen, die belutschische Sprache wird trotzdem weiterhin gesprochen.
Fortsetzung des Empires
In Belutschistan herrschen heute schlechte sozioökonomische Bedingungen wie auch unzureichende Gesundheitsversorgung und Bildung. Trotz seines Reichtums an Mineralien, Öl und Gas ist die belutschische Bevölkerung arm. Die seit Jahrzehnten existierende Widerstandsbewegung besteht aus verschiedenen untereinander vernetzten Gruppen: von Menschenrechtler*innen, über Studierende bis hin zu den Kämpfer*innen, die militanten Widerstand leisten. Ähnlich wie in Kurdistan ist auch die Befreiungsbewegung in Belutschistan eher säkular und sozialistisch geprägt.
In den letzten Jahren – und besonders nach der politischen Ermordung Karima Balochs – haben feministische Kämpfe in der Bewegung an Stärke gewonnen. FLINT-Personen laufen in den ersten Reihen der Demonstrationen und fordern damit nicht nur die Unterdrücker*innen der pakistanischen Armee heraus, sondern auch das Patriarchat und die noch immer festverankerten Genderrollen. Karima Baloch war der Baloch Student Organization (BSO) schon 2006 beigetreten und hatte seitdem gemeinsam mit anderen, viele FLINT mobilisiert. 2015 wurde Karima als erste Frau Vorsitzende der BSO und damit auch ein Gesicht der Bewegung.
Die Mehrheit der Belutsch*innen fordert die Wiederherstellung eines unabhängigen und befreiten Belutschistans. Selbst diejenigen politischen Parteien Belutschistans, die nicht dafür kämpfen, sehen in der Besatzung eine Fortsetzung des britischen Kolonialismus und wollen mehr Unabhängigkeit von Pakistan, sei es in Form von Autonomie oder größeren Befugnissen für die Region. Die Widerstandsbewegung fordert einen Waffenstillstand, dass internationale Beobachter*innen in die Region gelassen werden und dass eine unparteiische Untersuchung des Verschwindens der Aktivist*innen durchgeführt wird.
Mangelnde internationale und mediale Aufmerksamkeit
Belutschistan ist in der Medienlandschaft trotzdem quasi nicht existent. Belutschische Medien sind verboten und ihre Journalist*innen werden von pakistanischen Behörden ins Visier genommen. Journalist*innen von Daily Tawar und Asaap wurden getötet, die Zeitungen später in Belutschistan verboten. Belutschische Onlinezeitungen sind ebenfalls verboten und werden zensiert.
Pakistan ist es gelungen, den Widerstand der Belutsch*innen als interne Angelegenheit darzustellen. Das führt dazu, dass sich internationale Medien von dem Thema fernhalten und die meisten Informationen zu Unterdrückung und zur Befreiungsbewegung von (vorangig exilierten) Aktivist*innen online verbreitet werden. Daraus folgt, dass es international wenig Solidarität, insbesondere aus der europäischen Linken, mit der belutschischen Widerstandsbewegung gibt.
Um mehr Solidarität und Aufmerksamkeit insbesondere in der europäischen Linken zu erreichen, ist eine Info- und Vernetzungstour durch Deutschland und in Zukunft auch in andere Staaten Europas geplant.