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Gut, schlecht und so lala

Wie ist der Erfolg von Ulrike Herrmanns Buch »Das Ende des Kapitalismus« zu erklären?

Von Paul Michel

Ob Frankfurter Buchmesse, Presseclub oder linke Kleinstveranstaltung: Ulrike Herrmanns neues Buch sorgt für Diskussionen. Foto: Elena Ternovaja/Wikipedia Commons , CC BY-SA 3.0

Selten hat ein scheinbar kapitalismuskritisches Buch eine solche Verbreitung und Resonanz gefunden wie »Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben«. Die Autorin, die taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann, ist in unzähligen Diskussionsrunden präsent – im renommierten Presseclub wie auch auf kleinen linken Veranstaltungen. Und schon gibt es Lesekreise in Großstädten zu ihrem Buch.

Doch handelt es sich überhaupt um ein kapitalismuskritisches Buch? Liest man den ersten Teil des Buches über den Aufstieg des Kapitals, bekommt man einen anderen Eindruck. Zwar verspricht die Autorin mit Blick auf die Klimakatastrophe zu Beginn zu erklären, welchen Anteil der Kapitalismus daran hat, »dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt«. Und stellt fest: »Klimaschutz ist nur möglich, wenn wir den Kapitalismus abschaffen«. Doch nach der Lektüre habe ich den Eindruck, dass Ulrike Herrmann eigentlich etwas ganz anderes umtreibt. 

Primat der Kapitalismus-Apologetik

Sie scheint fast besessen zu sein von dem Bemühen, ihren Leser*innen zu erklären, dass »der Kapitalismus besser ist als sein Ruf«. Bei ihrem Lob des Kapitalismus pflegt sie des Öfteren einen fragwürdigen Umgang mit historischen Tatsachen. So behauptet sie etwa, dass dank des Kapitalismus seit 1846/47 in Europa die Nahrung nicht mehr knapp ist, dass in den Industrieländern »heute jeder gesünder und komfortabler lebt als einst die Könige«, dass die Lebenszeit sich verlängert hat und die Lebensqualität weitaus besser geworden ist. Dass dies nur für den reichen Teil der Welt gilt und selbst dort nicht für die Menschen auf den niedrigen Stufen der sozialen Hierarchie, ist für die ganz auf Imagepolitur für den Kapitalismus eingestellte Autorin kein Thema. 

Bei ihrem Ritt durch die Geschichte wartet sie immer mal wieder mit Aussagen auf, die der historischen Wirklichkeit Hohn sprechen, so zum Beispiel mit ihrer Erklärung, warum die »Industrielle Revolution« ausgerechnet in England ihren Ausgang nahm: »Die Industrialisierung begann in England, weil dort die höchsten Löhne der Welt gezahlt wurden.« Diese Aussage wird der vielschichtigen, komplexen Gemengelage nicht annähernd gerecht, die zur Industriellen Revolution führte. Zum Teil stellt diese These sogar die Dinge auf den Kopf. Die Menschen in den Textilfabriken arbeiteten oft unter unmenschlichen Bedingungen und erhielten dafür Hungerlöhne.

Denn durch die sogenannte Enclosure (dt. Einhegung), das Verbot der Nutzung des bisherigen Gemeindelandes, war ihre bisherige Existenzgrundlage systematisch zerstört worden. Eine große Anzahl von Bauern und Bäuerinnen wurde so zur Aufgabe ihrer Höfe gezwungen. Sie mussten sich von nun an als Landstreicher*innen durchs Leben schlagen. Sie wurden einer brutalen Armengesetzgebung unterworfen, die sie zwang, sich in den Fabriken der sich entwickelnden Textilindustrie zu verdingen. Diese entwurzelten Bauern und Bäuerinnen bildeten den Kern jener neuen sozialen Formation, der Arbeiter*innenklasse, die sich dadurch auszeichnet, dass sie über keine eigenen Arbeitsmittel mehr verfügt, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten kann, und der nur noch bleibt, ihre Arbeitskraft einem Unternehmen anzubieten.

An dieser Stelle sei Ulrike Herrmann empfohlen, sich zum Zwecke der Weiterbildung ein kurzes Büchlein von Eric Hobsbawn (»Industrie und Empire«) und das aktuelle Buch von Jason Hickel (»Weniger ist mehr – Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind«) zu Gemüte zu führen. 

Es lassen sich noch weitere Schmankerl ähnlicher Art finden. Den Vogel schießt die Autorin aber ab, wenn sie behauptet: »Ausbeutung und Krieg sind nicht nötig – sondern schaden dem Kapitalismus.« Ihr Umgang mit historischen Fakten ist erschreckend willkürlich. Es geht um schlichte Apologetik des Kapitalismus. 

Es wird nicht billig, sondern teuer

Teil zwei des Buches (»Grünes Wachstum gibt es nicht«) liefert eine Bestandsaufnahme der klimapolitischen Lage. Dieser Teil hebt sich positiv von dem vorher gegangen ab. In ihm wird anschaulich und gut verständlich dargestellt, welche gewaltigen Probleme sich vor uns auftürmen. Ulrike Herrmann setzt sich kritisch mit der Technik zur Kohlenstoffentfernung auseinander, erteilt einem Revival der Atomkraft eine deutliche Absage. Sie befürwortet stattdessen den weiteren Ausbau von Windkraft und Fotovoltaik. Beim weiteren Ausbau der Erneuerbaren sieht sie noch große Aufgaben auf uns zukommen. Denn wenn Deutschland klimaneutral werden will, müssen auch Industrie, Verkehr sowie Gebäude auf Ökoenergie umgestellt werden. Wird nicht nur die Stromerzeugung, sondern der gesamte Energieverbrauch betrachtet, fällt die Bilanz der Erneuerbaren bisher bescheiden aus: Der Wind decke nur 5,4 Prozent des Energieverbrauchs ab und die Fotovoltaik komme nur auf mickrige 2,3 Prozent. Sie sieht als Problem die lang andauernden »Dunkelflauten« – wenn im Winter die Sonne kaum scheint und gleichzeitig der Wind ausbleibt – und thematisiert das Problem der fehlenden Speicher. Gegen die von vielen Seiten gehegten Pläne, den gesamten Ökostrom aus der Sahara zu importieren, äußert sie zu Recht Vorbehalte. 

Das Buch tut den Herrschenden nicht weh, bedient aber das Bedürfnis: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.«

Unter dem Strich lautet ihr Fazit: Die Energiewende wird teuer, nicht billig. Sie sieht vor allem zwei Kostentreiber: »Grüne Technik verschlingt nicht bloß Stahl, Beton und Aluminium …, sondern auch eher knappe Mineralien. Dazu gehören unter anderem Lithium, Nickel, Kupfer, Kobalt, Mangan, Grafit und Seltene Erden wie Neodym.« Diese Rohstoffe werden teurer und ihre Gewinnung ist sehr belastend für die Umwelt. Hinzu kommt: »Die Energiewende erfordert ein gewaltiges Bauprogramm, denn Solaranlagen, Windräder, Wärmepumpen oder Gaskraftwerke müssen erst mal errichtet werden.«

Jeder Klimaschutz wird scheitern, wenn es beim aktuell enorm hohen Verbrauch bleibt, stellt die Autorin fest. Denn mit Ökostrom lässt sich nur ein Bruchteil der aktuell verbrauchten Mengen an Energie bereitstellen. Deshalb ist radikales Energiesparen angesagt. Das betrifft wichtige Sektoren der Volkswirtschaft wie etwa die Autoindustrie. Hier ist es, wie Herrmann richtig feststellt, wegen des enorm hohen Energieaufwandes bei der Produktion von Batterien nicht mit einer Antriebswende auf E-Auto getan. Was den Flugverkehr anbelangt, meint sie: »Die Jets sind zu klimaschädlich, als dass es möglich wäre, rund um die Welt und quer durch die Kontinente zu fliegen.« Herrmann nennt noch weitere Industriesektoren, bei denen es nicht so weitergehen kann wie bisher: die Seefahrt, Stahl-, Chemie- und Zementindustrie, die Bau- und die Landwirtschaft. Ihre Schlussfolgerung: »Nur eine einzige Branche kann und soll expandieren: die Ökoenergie.« 

Das Problem mit dem »chaotischen Schrumpfen«

Teil drei des Buches über »Das Ende des Kapitalismus« soll offenbar die Antworten für die oben beschriebenen Probleme liefern. Als eine Person, deren politischer Horizont nicht über das hinausgeht, was mit den Spielregeln des real existierenden Kapitalismus konform geht, bringen die im vorigen Teil gewonnenen Einsichten die Autorin in die Bredouille. (1) Einerseits gibt sie dem Wuppertal Institut Recht. Dieses hat errechnet, dass in einem hoch entwickelten Land wie der BRD der Rohstoffverbrauch drastisch sinken muss. Andrerseits sieht sie, dass ein Schrumpfen des industriellen Sektors in dieser Größenordnung im real existierenden Kapitalismus notwendigerweise ein »chaotisches Schrumpfen« zur Folge hat: Wenn beispielsweise die Produktion von Pkws deutlich zurückgefahren wird, werden Lebensversicherungen obsolet, gehen Banken pleite und das Investmentbanking bricht ein, selbst vom DAX bleibt nicht mehr viel übrig. 

Ulrike Herrmann ist hin und her gerissen. Auf der einen Seite schreibt sie: »Die Wachstumskritiker haben klar gezeigt, dass klimaneutrales Leben auch schön sein kann.« Das ungelöste Problem sei allein, wie sich diese ökologische Kreislaufwirtschaft erreichen ließe, ohne unterwegs eine schwere Wirtschaftskrise zu provozieren. Und auf der anderen Seite: Gesucht werde eine Idee, wie sich die Wirtschaft schrumpfen lässt, ohne dass Chaos ausbricht. In ihrer Verzweiflung fragt Herrmann (bürgerliche) Ökonom*innen, Volkswirt*innen, Neoklassiker*innen und Keynesianer*innen um Rat. Aber auch die können ihr Problem nicht lösen.

Doch – endlich – auf Seite 226 präsentiert die Autorin ihre rettende Idee: »Zum Glück bietet die Geschichte ein Vorbild: Ausgerechnet die britische Kriegswirtschaft ab 1939 taugt als Anregung, wie sich eine klimaneutrale Welt geordnet anstreben ließe.« Großbritannien und die USA gelang es im Zweiten Weltkrieg, innerhalb kürzester Zeit die gesamte Industrieproduktion umzustellen. Innerhalb weniger Wochen wurde die Produktion von privaten Pkws völlig eingestellt. Statt Autos produzierten US-Autofabriken nun Panzer oder Flugzeuge. Nicht nur Ulrike Herrmann fragt sich deshalb zu Recht: Warum sollte es im Jahr 2023 nicht möglich sein, innerhalb kurzer Zeit die Produktion umzustrukturieren und statt Autos Straßenbahnen, Züge oder Wärmepumpen herzustellen? In der US-amerikanischen Klimaschutzbewegung wird das Thema schon seit langem diskutiert. Dort wird der Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe mit dem Zweiten Weltkrieg verglichen. 

Es lebe die britische Kriegswirtschaft!?

Besonders die im Krieg praktizierte Politik der Rationierung vieler Güter hat es ihr angetan. Angetan schreibt Herrmann, dass das Rationierungsprogramm der britischen Regierung ein großer Erfolg war. »Der Konsum fiel damals um ein Drittel (…) Dieser enorme Rück- und Umbau macht die britische Kriegswirtschaft zu einem faszinierenden Modell für heute.« 

Nun, ich kann und will Ulrike Herrmann bei ihrer Begeisterung für die britische Kriegswirtschaft nicht folgen. Ich halte die Kriegswirtschaft, in der gewerkschaftliche Rechte extrem eingeschränkt sind und autoritäre militärische Strukturen dominieren, für nicht geeignet als Modell zur Lösung unserer aktuellen Probleme. Rationierung ist nicht das Mittel zur Überwindung der kapitalistischen Wegwerfgesellschaft. Das Problem ist nicht der überhöhte Konsum ganz allgemein, sondern die Art des vorherrschenden Konsums, der auf zur Schau gestelltem Erwerb, massiver Verschwendung, merkantiler Entfremdung, zwanghafter Anhäufung von Waren und zwanghaftem Kauf sogenannter Neuheiten beruht, die von der Mode durchgesetzt werden. Hinzu kommt die von der Konsumgüterindustrie systematisch betriebene Praxis der geplanten technischen Obsoleszenz. Ich bin dennoch der Meinung, dass die Klimaschutzbewegung sich mit dem, was zwischen 1939 und 1945 in Großbritannien und den USA geschah, auseinandersetzen sollte. Hier ist nicht der Raum, das in der gebotenen Tiefe zu tun. (2)

Ich halte das Thema »Schrumpfen« (oder Degrowth) wichtiger Sektoren der Volkswirtschaft (Finanzsektor, Verpackungsindustrie, Rüstung usw.) im real existierenden Kapitalismus für dringend erforderlich. Es gibt dafür aber andere und bessere Vorschläge als die von Ulrike Herrmann in diesem Buch vorgestellten. Die Linke im englischsprachigen Raum ist hier erheblich weiter als wir in der BRD.

Ulrike Herrmanns Buch ist zum Bestseller geworden. Es ist zweifellos gut geschrieben und benennt gerade im zweiten Teil viele Dinge, die falsch laufen. Das Buch spricht ein in der linksliberalen Öffentlichkeit vorhandenes Bewusstsein an, dass sich angesichts der Klimakatastrophe auch etwas am Kapitalismus ändern muss. Ulrike Herrmann übt Kritik, aber sie »übertreibt« es nicht damit. Ihre Aussagen zum Kapitalismus bewegen sich zwischen beliebig und oberflächlich. Strukturfragen werden nicht oder falsch gestellt bzw. falsch beantwortet. Durchgängiges Merkmal des Buches ist, den Dingen nicht auf den Grund zu gehen. Das Buch tut den Herrschenden nicht weh. Aber es bedient ein bei der Zielgruppe sehr ausgeprägtes Bedürfnis: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.«

Anmerkungen:

1) Ulrike Herrmann hatte ihre »Entdeckung« der britischen Kriegswirtschaft erstmals in der taz vom 12.10.2019 vorgestellt; dieser Text war unter anderem Anstoß für die ak-Planwirtschaftsreihe.

2) Ich empfehle dazu Texte von Martin Hart-Landsberg auf economicfront.wordpress/publications; oder »U.S. Economic Planning in the Second World War and the Planetary Crisis« unter: monthlyreview.org