Die andere Volksrepublik
Linke Kräfte spielten eine große Rolle bei der ukrainischen Unabhängigkeit – wenn auch auf Kosten der eigenen Inhalte
Von Ewgeniy Kasakow
Der gegenwärtige Krieg vertieft die Kluft zwischen der russischen und ukrainischen Geschichtsschreibung. Selbst Autor*innen, die nicht dem jeweiligen nationalen Narrativ folgen, kommen selten zu einem gemeinsamen Urteil. In einer Tendenz ist sich die nationalukrainische wie die russisch-imperiale Geschichtsschreibung einig – die Rolle der sozialistischen Ideen in der kurzen Periode der ukrainischen Unabhängigkeit 1917 bis 1920 halten beide für unwichtig. Die ukrainische Historiographie betont die Zugehörigkeit der »freiheitsliebenden« und »individualistischen« Ukrainer*innen zur »westlichen Kultur«. Die russische Geschichtsschreibung folgt der sowjetischen Erzählung, in der die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung als Ergebnis der Intervention der ausländischen Imperialismen dargestellt und ihren Protogonist*innen eine ernsthafte sozialistische Orientierung abgesprochen wird.
Dabei waren die linken Organisationen Anfang des 20. Jahrhunderts in der ersten Reihen der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, sowohl im Russischen Reich als auch in Österreich-Ungarn – zwei Imperien, die das Gebiet der heutigen Ukraine beherrschten. Allerdings unterschied sich die ukrainische Linke in den beiden Staaten stark voneinander. So war in Österreich-Ungarn, wo ukrainisch vor allem von Bäuer*innen und dem Klerus gesprochen wurde, die ukrainische sozialistische Bewegung vor allem agrarisch geprägt. Die Ukrainische Sozialdemokratische Partei (USDP) agierte als autonome Sektion der austromarxistischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), der heutigen SPÖ, in den Landesteilen Galizien und Bukowina. Sie befand sich intern im Dauerkonflikt über die Haltung gegenüber den polnischen und jüdischen Arbeiter*innenorganisationen in den Städten.
Die 1905 im Russischen Reich gegründete Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (USDRP) entstand als eine Abspaltung der nationalistischen Revolutionären Ukrainischen Partei (RUP) und war damit nicht aus der Arbeiter*innenbewegung hervorgegangen. Sie forderte zunächst nicht die Unabhängigkeit, sondern Autonomie innerhalb des Zarenreichs. Die USDRP war nicht Teil der II. Internationale, lediglich Spilka, eine noch linkere Abspaltung der RUP arbeitete mit den Bolschewiki und Menschewiki, den beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokratie, zusammen. Politisch bedeutender auf dem Gebiet der heutigen Ostukraine als die marxistische Sozialdemokrat*innen waren die an den Bäuer*innen orientierten Sozialrevolutionäre. Erst im April 1917 gründete ihr nationalukrainischer Flügel mit der Ukrainischen Partei der Sozialrevolutionäre (UPSR) eine eigene Partei.
Weltkrieg als Möglichkeit
Der Erste Weltkrieg hatte für die ukrainische Linke weitreichende Folgen. In Galizien vereinigten sich bürgerliche und sozialistische ukrainische Parteien im Kampf gegen den Zaren und unterstützten seine Feinde im Krieg, das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn. Etliche ukrainische Sozialist*innen, einschließlich einige Spilka-Gründer, arbeiteten für den Bund zur Befreiung der Ukraine (BBU). Im Auftrag von Berlin und Wien sollte der BBU Kriegsgefangene vom Überlaufen überzeugen. Die sozialistische Programmatik wurde im Namen der nationalen Unabhängigkeit ad acta gelegt. In Russland verhielt sich die USDRP dagegen sehr zurückhaltend.
Im Zuge der Februarrevolution gründete sich im März 1917 in Kiew der Gesamtukrainische Nationalkongress. Er war ein Treffen aller Organisationen der ukrainischen Nationalbewegung Russlands. Der Kongress wählte eine Art Parlament, den Zentralrada. Er wurde von der USDRP und der UPSR dominiert. Rada ist das ukrainische Wort für Rat, entsprechend dem russischen Wort Sowjet. Auch die neuentstehenden Strukturen der Arbeiter*innen-, Bauern- und Soldatensowjets wurden zunächst organisatorisch in den Rada integriert, ebenso die Organisationen nationaler Minderheiten. Die gewählten Rätedelegierten wurden in den Rada kooptiert, so dass die Gegenüberstellung von Sowjets und Parlament zeitweilig nivelliert wurde. Doch der Streit mit der provisorischen Regierung in Petrograd um Autonomie und Ukrainisierung eskalierte zunehmend. Der Zentralrada, der in den meisten Fragen links von der Petrograder Koalition aus Liberalen und gemäßigten Sozialist*innen stand, begann eigene Militäreinheiten aufzubauen und verkündete einseitig die Unabhängigkeit der Ukraine, wobei die Grenzen des neuen Gebildes ungeklärt blieben.
Im April 1918 jagten deutsche Truppen den Rada auseinander und setzten ein rechtes Militärregime unter Pavlo Skoropadskij ein.
Im Oktober 1917 veränderte sich die Situation nochmal grundlegend. Der Zentralrada rief die Ukrainische Volksrepublik aus und betrachtete die Gesetze der Petrograder Sowjetregierung nicht mehr als bindend. Im Dezember initiierten die Bolschewiki, die in der Ukraine lediglich in den Industriezentren über Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, den 1. Allukrainischen Sowjetkongress in Kiew mit dem Ziel, ein Misstrauensvotum gegen den Zentralrada zu erwirken, was jedoch aufgrund der Kräfteverhältnisse scheiterte. Unter den 2.000 Delegierten waren die 125 Bolschewiki in der Minderheit. Samt einigen linken ukrainischen Sozialist*innen reisten die bolschewistischen Mandatsträger*innen daraufhin nach Charkow, wo bereits »rote« Truppen warteten. Von dort aus erklärten sie die Zentralrada für abgesetzt und riefen die Ukrainische Volksrepublik der Sowjets aus.
Aufstände und Antisemitismus
Im Januar 1918 eskalierte der Konflikt militärisch. In den Kiewer Arsenal-Werken organisierten Bolschewiki eine bewaffnete Revolte. Der Zentralrada schlug den Aufstand nieder und erklärte die Ukraine für unabhängig. Unterstützung suchte der neue Staat bei den Mittelmächten, dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn. Schnell erkannten beide den neuen Staat an und schickten ihre Truppen ins Land. Sie verpflichteten die Ukraine aber auch zur Lieferung von Rohstoffen und Lebensmitteln. Das sozialistische Agrarprogramm der Zentralrada war damit gescheitert. Doch bei wirtschaftlichen Eingriffen blieb es nicht: Im April jagten deutsche Truppen den Rada auseinander und setzten ein rechtes Militärregime unter Pavlo Skoropadskij ein. Dieser machte die bereits erfolgte »schwarze Umverteilung« des Bodens gewaltsam rückgängig. Das provozierte Aufstände auf dem Land. Bolschewiki, Sozialrevolutionär*innen, Anarchist*innen und ukrainische Sozialist*innen nahmen mal gemeinsam, mal getrennt voneinander daran teil.
Im Dezember 1918 stürzten Aufständische Skoropadskij und die ukrainischen Sozialist*innen kamen wieder an die Macht. Sie verkündeten eine Vereinigung mit der Westukrainischen Volksrepublik (Galizien). Die Ukrainische Volksrepublik kämpfte gleichzeitig gegen Bolschewiki, »Weiße« (russische Konterrevolutionäre), aber auch anarchistische Bäuer*innen oder die neugegründete Republik Polen. Die Spitze des Direktoriums der Republik bekleidete Symon Petljura. Sein Schwerpunkt lag auf dem Aufbau des Nationalstaates.
Die Ukraine wurde im Zuge des Bürgerkriegs von einer Welle antisemitischer Gewalt überrollt. Die ukrainischen Linksnationalist*innen hatten mehr Pogrome zu verschulden, als das rechte Skoropadskij-Regime, das diese noch im Namen der Ordnung unterband. Bis heute ist umstritten, ob Petljura die Pogrome seiner Truppen entweder nicht stoppen konnte oder wollte. 1926 töte ihn im Pariser Exil ein jüdischer Anarchist – aus Rache für die Pogrome der Bürgerkriegszeit.
Die Bolschewiki schlugen 1920 endgültig die regulären Truppen Petljuras. Der kurzlebige Staat war auch an mangelnde Unterstützung seiner eigenen Bevölkerung gescheitert. Bis 1991 blieb die Ukraine Teil der Sowjetunion.