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Überraschend versöhnlich

Drogen, Corona und #MeToo: Virginie Despentes packt in ihrem neuen Roman große Themen unserer Zeit an – und greift doch ein bisschen daneben

Von Stephanie Bremerich

Schreibt aus dem Land der Hässlichen und für die Hässlichen: Virginie Despentes. Foto: Wikimedia Commons/ActuaLitté, CC BY-SA 2.0

Dass Virginie Despentes eine Vorliebe für krawallige Titel hat, hat sie bereits mit ihrem Debütroman »Baise-moi« (1994, zu Deutsch »Fick mich«) unter Beweis gestellt. Inhaltlich und sprachlich geht es bei der 1969 geborenen Schriftstellerin zur Sache. »Ich schreibe aus dem Land der Hässlichen und für die Hässlichen, die Alten, die Mannweiber, die Frigiden, die schlecht Gefickten, die nicht Fickbaren, die Hysterischen, die Durchgeknallten, für alle vom großen Markt der tollen Frauen Ausgeschlossenen«, heißt es in ihrer feministischen Streitschrift »King Kong Theorie« (2006, dt. 2018), in der Despentes schonungslos und im Rückgriff auf eigene Erfahrungen (Vergewaltigung, Prostitution) die Zurichtung von Weiblichkeit durch das Patriarchat offenlegt. Hierzulande bekannt dürfte vor allem ihre Trilogie »Das Leben des Vernon Subutex« (2015–2017) sein, eine rasante (und brillante) Tour de Force durch die Abgründe der französischen Gegenwartsgesellschaft.

Nun also ein moderner Briefroman. »Liebes Arschloch« lautet der Titel, der – so informiert der Klappentext – »streitbar wie immer, … aktuelle und gesellschaftliche Themen wie #MeToo und Social Media, Drogen, Machtmissbrauch und Feminismus« ins Visier nehme. So weit, so schmissig – und doch nicht ganz richtig. Despentes‘ neuer Roman wartet mit einigen klugen Momenten auf, hat aber auch Schwächen. 

Im Mittelpunkt des Romans stehen Oscar und Rebecca: er ein arrivierter Schriftsteller, der vor dem privaten und beruflichen Aus steht, als die ehemalige Verlagsmitarbeiterin Zoé im Netz seine Belästigungen publik macht; sie eine berühmte Schauspielerin, deren Karriere mit knapp 50 ins Stocken gerät. Nach einem sexistischen und beleidigenden Post auf Instagram meldet sich Rebecca bei Oscar, um ihn zur Rede zu stellen (»Liebes Arschloch«). So unwahrscheinlich es auch sein mag: Nach und nach entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden, die einander bei Einbruch der Corona-Pandemie Halt geben und sich gegenseitig beim Drogenentzug unterstützen, und zwar ausschließlich schriftlich, ohne sich jemals zu treffen. Abgesehen von der Korrespondenz zwischen Rebecca und Oscar enthält der Roman noch verschiedene Blogeinträge Zoés, die im Netz als radikalfeministische Aktivistin auftritt und jede Menge Hate kassiert – auch aus den eigenen Reihen. 

Erhellend ist der Roman dort, wo er hinter die Kulisse alter weißer Männlichkeit schaut.

Oscar und Rebecca sind Anti-Held*innen, die mehr gemeinsam haben, als es auf den ersten Blick scheint: zwei Süchtige, die den Alltag nur im Zustand der Betäubung ertragen, zwei angeschlagene Figuren des öffentlichen Lebens, die schleichend aus dem Kulturbetrieb aussortiert werden, zwei Vertreter*innen der kulturellen Elite, die es nach oben geschafft haben und doch von ihrer unterprivilegierten Herkunft, von Erfahrungen von Deklassierung, Armut und sozialer Verrohung gezeichnet bleiben. »Die Ausnahme, die ich verkörpere, wird nur toleriert, weil sie die Regel bestätigt: Zum Privilegierten wird man nicht wegen seiner Laufbahn, sondern wegen seines Geburtsorts«, weiß Oscar, und Rebecca erinnert sich: »Ich sehe das Haus meiner Kindheit vor mir. Die Brutalität der Körper rings um mich, als würde ich unter wilden Tieren leben, die auf engem Raum miteinander auskommen müssen. (…) Und trotzdem glaube ich nicht, dass ich als Kind gelernt habe, vor meinen Gefühlen zu fliehen. Sondern vor dem Kummer der Eltern. Kummer ist etwas anderes als Armut. Und Kinder begreifen schnell, dass diese tägliche Mühsal sie verschlingen wird, sie bei lebendigem Leib ersticken lässt, wenn sie sich nicht wehren.«

Im Zerrspiegel des bzw. der jeweils anderen kommen sie im Verlauf des Romans zu allerlei Einsichten. Vor allem Oscar erkennt seine Fehler und seine Schuld; nicht nur, was Zoé betrifft, sondern auch was sein Komplettversagen im Privatleben, insbesondere in seiner Rolle als dauerbedröhnter Vater, angeht. So weit, so versöhnlich – und leider auch so schlicht. 

Dass die im Literaturbetrieb gebetsmühlenartig zitierte Zuschreibung als »Skandalautorin« und das Etikett einer »Spiegel-Bestseller-Autorin« nicht zwangsläufig Garanten für den nächsten großen Wurf sind, zeigt Despentes‘ Briefroman nämlich auch. Allzu konstruiert sind Konstellation und Entwicklung der Figuren, allzu bemüht mutet Oscars reumütige Einkehr an, die den Text mitunter ins Bekenntnishafte und Rührselige kippen lässt. Das Provokanteste an diesem insgesamt erstaunlich harmlosen Buch besteht in der Tatsache, dass man im Zuge der Lektüre Sympathie für Oscar entwickelt, der wie der prototypische alte weiße Mann anmutet und doch nur ein armes Würstchen ist. 

Mag sein, dass Virginie Despentes die konzeptuellen Schwächen des Textes selbst erkannt hat. Das würde die auffällige (und leider auch störende) Tendenz zur Vereindeutigung erklären. In »Liebes Arschloch« bleibt nichts unausgesprochen, alles wird erklärt und kommentiert, was dem Roman etwas eigentümlich Verschwafeltes gibt. Zugegeben: Das liegt auch im Genre begründet, ist doch der Briefroman abonniert auf Bekenntnis und (Selbst-)Aussprache. Trotzdem hätte man sich als Leser*in gern etwas mehr herausgefordert gefühlt.

Erhellend ist der Roman dort, wo er hinter die Kulisse alter weißer Männlichkeit schaut oder die Selbstzerfleischungstendenzen aktueller feministischer Diskurse offenlegt. Die größte Stärke von »Liebes Arschloch« ist die ruppig-arrogante und wohltuend anti-intellektuelle Erzählstimme Rebeccas, die für die Schwächen des Romans entschädigt: »Ich möchte hinschmeißen. Ich möchte ausscheren, ich möchte unzuverlässig sein. Ich langweile mich allein, ich komme mir vor wie ein gut getrimmter Rasen in einem kleinen bürgerlichen Provinzvorgarten. Ich möchte die Uhren zerstören. Rechtschaffenheit macht mich müde. Lieber verrecken als Yoga machen, definitiv.«

Stephanie Bremerich

ist Literaturwissenschaftlerin an der Uni Leipzig und schreibt für kritisch-lesen.de.

Virginie Despentes: Liebes Arschloch. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 336 S., 24 EUR