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|ak 712 | Alltag |Kolumne: Torten & Tabletten

Bodyshaming

Von Frédéric Valin

Soziale Kontrolle klingt immer so abstrakt, wir können das gern mal konkret machen. F. bietet sich da an, F. ist ein gutes Beispiel: Der geht quasi täglich ins Fitnessstudio. Ich kenne ihn nicht sehr gut, er wohnt auf der Nachbargruppe, aber ich hatte bisher schon den Eindruck, dass er es geil findet, fit zu sein, also zum Beispiel Oberarme zu haben, anders als ich: ich seh’ halt auch nackt aus wie ein schmelzender Schneemann, die Arme viel zu dünn, die Augen viel zu groß. Möglicherweise ist das too much information, aber ich finde, wenn ich so oft über die Körper der »anderen« schreibe, ist es nur fair, auch mal eine Zwischenbemerkung über meinen eigenen Körper fallen zu lassen.

Aber wir waren bei F. Die letzten paar Wochen hatte er aus verschiedenen Gründen nicht mehr so viel Bock auf Fitnessstudio, zum Beispiel war Weihnachten und Winter und Schienenersatzverkehr, aber über Jahre hat man ihm jetzt eingetrichtert, dass er so unglaublich fit sei und so gut dabei aussehe. Und da war F. empfänglich für, für dieses Lob; er ist nicht deswegen immerzu im Fitnessstudio gewesen, aber schon auch deswegen. Jetzt war er länger nicht mehr und hat ein bisschen zugenommen, er ist halt von eher mopsiger Konstitution (anders als ich, der ich Körperzeichen Chihuahua bin), und da schrieb die Kollegin aus dem Nachbarhaus, wir sollten aufhören, ihn für sein Aussehen zu loben, er habe nämlich sieben Kilo zugenommen.

Es gibt da eigentlich einiges zu bedenken, bevor man antwortet (man im Sinne von ich), zum Beispiel: Ist die Befürchtung berechtigt, dass bei einer Gewichtszunahme eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes eintritt? Muss man F. (diesmal man nicht im Sinne von ich) vielleicht das Bein abnehmen, wenn er zu viel Schoki frisst, weil er heimlich Diabetiker ist? Das wäre schon schlecht, ihn dann darin zu bestärken, er selbst zu sein: Mit einem Bein weniger würde er vielleicht schlecht umgehen können. Oder aber die Geräte, mit denen er trainiert, würden darauf nicht klarkommen, oder die Leute, die ihn umgeben; jedenfalls würde er nicht nur unter dem Verlust des Beines leiden, sondern unter sehr viel mehr, nämlich darunter, ein Beinloser zu sein, nie wieder gelobt zu werden für seinen Bizeps, oder wenn er denn mal gelobt würde, wäre das dann nur der Ersatzmuskel für sein fehlendes Bein, und wahrscheinlich kennt ihn die Kollegin sehr gut und kann das eventuell vielleicht alles einschätzen, und selbst wenn nicht, muss sie mit ihm durch alles durch, sollte das Bein abgenommen werden. Aber trotzdem, das war schlicht zu falsch, um wahr zu sein. Unter keinen Umständen sollte Bodyshaming Teil eines Betreuungskonzepts sein. Das habe ich dann auch so geantwortet (an: alle) und hab jetzt morgen ein Personalgespräch; wahrscheinlich deswegen. Und ich hab ja eh einen befristeten Vertrag, also mal sehen, wie das ausgeht.

Es geht im übrigen nicht alles immer schlecht aus. Ich hatte zum Ende der letzten Kolumne geunkt, dass sich auf Jahre nichts an der rechtlichen Situation der sogenannten Euthanasie-Opfer ändern würde, aber: Anfang Februar hat der Bundestag nochmal über den (zugegeben windelweichen) Antrag von CDU, SPD und Grünen abgestimmt. Es hat also nicht Jahre gedauert, bis die Belange behinderter Menschen wieder im Parlament verhandelt werden, das ist schon mal was. Jetzt soll »die Aufarbeitung der ›Euthanasie‹ und der Zwangssterilisationen während der nationalsozialistischen Diktatur« intensiviert werden, so sagt der Bundestag. It’s about time.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.